Schattenblick →INFOPOOL →BUCH → SACHBUCH

BUCHBESPRECHUNG/076: Klee - Auschwitz, die NS-Medizin und ihre Opfer (SB)


Ernst Klee


Auschwitz, die NS-Medizin und ihre Opfer



Wer meint, das sich so großer Publizität erfreuende Thema der deutschen NS-Vergangenheit erfreue sich tatsächlichen, über das morbide Faszinosum hinausreichenden Interesses, darf sich am Beispiel des vorliegenden Buches eines Besseren belehren lassen. Das 1997 erstmals erschienene, hochgelobte und mit dem Geschwister-Scholl-Preis prämierte Werk "Auschwitz, die NS- Medizin und ihre Opfer" des Theologen und Sozialpädagogen Ernst Klee bringt es in seiner vierten Auflage auf ganze 14.000 Exemplare. Während sich Bücher über das Dritte Reich des ZDF- Geschichtsverwesers Guido Knopp oder über das rassistische Konstrukt vom "eliminatorischen Antisemitismus" des Harvard- Historikers Daniel Goldhagen Verkaufszahlen weit jenseits der 100.000 erfreuen, bleibt ein Werk, das angesichts der wissenschafts- und medizinspezifischen Thematik von zeitloser Relevanz ist, die Lektüre einer interessierten Minderheit.

Das ist schon deshalb nur als aktiver Akt der Verdrängung zu werten, da allein der im Mittelpunkt stehende Stand der Mediziner und angegliederter Berufe in Deutschland in die Millionen geht. Da es sich bei vielen in dem Buch erwähnten Ärzte um die Crême der Zunft handelt, zieren ihre Namen noch heute die Buchdeckel einschlägiger Werke und bekannter Symptome beziehungsweise Krankheiten. Auch wenn die von Klee erwähnten Ärzte nicht alle an häufig tödlich ausgehenden Menschenversuchen oder gezielten Ermordungen beteiligt waren, so ist ihnen allesamt anzulasten, von der Vernichtung menschlichen Lebens für die medizinische Forschung gewußt und profitiert zu haben. Daß die gleichen Herren - es handelt sich bei den NS-Medizinern bis auf wenige Ausnahmen um Männer - nach dem Krieg häufig eine lukrative Karriere im west- wie ostdeutschen Gesundheitswesen absolviert haben und als angesehene Mitglieder der Gesellschaft verschieden sind, macht sie angesichts der nicht stattgefundenen Entnazifizierung zwar zu keinem Ausnahmefall der Nachkriegsgeschichte. Dennoch legt die Kontinuität nicht nur ihres persönlichen Wirkens, sondern der erhaltenen Gültigkeit ihrer in Konzentrationslagern der SS und Versuchsstätten der Wehrmacht erzielten Forschungsergebnisse Zeugnis von einer wissenschaftsspezifischen Mechanik ab, das den vielbeschworenen Bruch mit der Vergangenheit zum Mythos erklärt.

Es sind diese über die angebliche Vereinnahmung der deutschen Ärzteschaft durch das NS-Regime hinausgehenden Kriterien medizinischen Denkens und Handelns, die das Buch von Ernst Klee zu einer so wichtigen Lektüre machen und die gleichzeitig erklären, wieso es angesichts der gründlichen Arbeit des seit der Veröffentlichung seines Standardwerks "'Euthanasie' im NS-Staat" hochangesehenen Autors sowie der publizistischen Konjunktur dieser zwölf Jahre der Zeitgeschichte offensichtlich nicht gelesen wird. Man nimmt eben nicht gerne zur Kenntnis, daß der freundliche Onkel Doktor mit der gleichen Zugewandtheit, mit der er das eigene Kind behandelt, auch töten, daß der kühle und souveräne Wissenschaftler mit der gleichen Nüchternheit, mit der er Tiere im Dienste der Forschung malträtiert, auch Menschen auf grausamste Weise zu Tode bringen kann. Die Sachlichkeit der Fachsprache, mit der Anforderungen für Pharmazeutika, die allein zum Morden vorgesehen sind, und Fallbeschreibungen in Patientenakten, die eine Tortur ohne jeden Nutzen für das Opfer erkennen lassen, abgefaßt sind, läßt erahnen, daß die medizinische Doktrin auch den infernalischsten Grausamkeiten dienen kann, ohne darüber in systemische Widersprüche zu geraten.

Natürlich werden in dem Buch auch Beispiele von Häftlingen und Bewachern geschildert, die sich dazu berufen fühlten, an Stelle des Arztes Operationen durchzuführen oder Menschen mit medizinischem Instrumentarium umzubringen. Diese stehen jedoch im Ausmaß ihrer Handlungen und der übernommenen Verantwortung weit hinter den Ärzten der SS und der Wehrmacht, der Pharmaindustrie und wissenschaftlichen Institute zurück. Diesen eröffnete sich vor allem in den Konzentrationslagern ein Paradies der Forschungsfreiheit, in dem man endlich einmal all das ausprobieren konnte, wozu man zuvor auf weit weniger aussagekräftige Tierversuche oder die Verwendung bereits Verstorbener angewiesen war.

Doch selbst die Verwertung von Leichen nahm damals ungeahnten Aufschwung. Kein Wunder, daß anatomische Lehrbücher wie Voss- Herrlinger so detailliert über das Innere des Menschen zu informieren wissen, saßen die beiden Namensgeber doch neben der Guillotine, um Leichen der von der Gestapo hingerichteten Polen auszunehmen. Hermann Stieve wiederum machte nach dem Krieg Karriere als international gerühmter Anatom, nachdem auch viele Widerstandskämpfer Eingang in die Präparatesammlung des zentralen Leichenverwerters der NS-Justiz gefunden hatten - "Was er tötete und was die Anatomie ihm bot, machte er durch Deutung in Wort und Schrift wieder lebendig", hieß es in einem Nachruf des passionierten Jägers und Ausweiders.

Wirklich gruslig war jedoch die medizinischen Forschung am lebenden Menschen, in allererster Linie jüdischen KZ-Häftlingen, aber auch Kriegsgefangenen. Hierbei wurde von Infektionen mit diversen Erregern, dem Ausprobieren schmerzhafter neuer Untersuchungsmethoden wie etwa Leberpunktionen mit häufig tödlichem Ausgang, dem Erforschen von Kampfgasen, des Überlebens in Extremsituationen wie großer Kälte, großer Höhe oder langem Verweilen in Meerwasser bis zu Pharmaversuchen aller Art oder der Entwicklung neuer "Therapieformen" wie Transplantation von Gewebe und Knochen oder Elektroschocks nichts ausgelassen, was der Phantasie des Arztes erprobenswert erschien.

Ernst Klee geht ausgiebig ins Detail und schildert neben den vielfach dokumentierten Menschenversuchen auch weniger publik gewordene, dabei ausgesprochen interessante, weil auch heute zeitgemäße Versuche. So wurde in Großversuchen mit hunderten von Häftlingen nach der Lösung des Nahrungsmittelproblems gesucht, wobei man Abfallprodukte aus der Zellulose-Aufschließung verwendete, die über einen Schimmelpilz in eine eiweißhaltige Substanz verwandelt wurden, deren Verzehr die Mehrzahl der Probanden das Leben kostete. Die ausgiebige Erforschung von Hungerzuständen unter anderem zur Entwicklung von "Maßnahmen zur Steigerung der Leistungsfähigkeit von Hungernden" sowie zur "Steigerung des Kampfeswillens" kostete ebenfalls viele Häftlinge das Leben, das gilt auch für die Erforschung selbstzugefügter Erkrankungen, mit denen man Simulanten der Wehrmacht das Leben schwer zu machen trachtete.

Ein Großteil der meist tödlich ausgehenden Versuche fiel unter die Zuständigkeit der Wehrmacht, ein Teil unterstand dem Verantwortungsbereich der SS, wobei es besonders um sogenannte Rasseforschung ging, ein Teil wurde aber auch von der pharmazeutischen Industrie in Auftrag gegeben, die zur Zeit versucht, sich eventuelle Ansprüche Betroffener im Rahmen der Verhandlungen zur Entschädigung von Zwangsarbeitern vom Hals zu halten. Ernst Klees besonderes Verdienst besteht darin, daß er die institutionellen Voraussetzungen der verbrecherischen Medizinforschung ausführlich darstellt und dabei insbesondere die Kaiser-Wilhelm-Instiute und die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) aufs Korn nimmt. Letztere hat ein Großteil der Forschung in den Konzentrationslagern finanziert und ist heute wieder an vorderster Front darum bemüht, die Liberalisierung der Forschung auch zuungunsten Betroffener voranzutreiben.

Dieses Jahr erschien denn auch mit dem Werk des Historikers Notgar Hammerstein "Die Deutsche Forschungsgemeinschaft in der Weimarer Republik und im Dritten Reich", das die DFG selbst in Auftrag gegeben hatte, die fällige Reinwaschung der zentralen Wissenschaftinstitution der Bundesrepublik. Im Deutschlandfunk stellte Hammerstein ihr eben jenen Persilschein aus, den auch die meisten Mediziner erhalten haben, die ihren Berufsethos während des Dritten Reichs in besonders freizügiger Weise ausgelegt hatten:

Zentral sicherlich ist meine Überzeugung, daß die DFG, so wie sie während der Weimarer Republik eingerichtet wurde und wie wir sie heute in fortentwickelter Form kennen, während des Dritten Reichs nicht existierte. Was unter diesem Namen fortbestand, war eine Abrechnungsstelle, die die Vergabe von Mitteln zur Forschungsförderung gegenüber dem Reichsrechnungshof und dem Reichsfinanzministerium verantworten konnte. Die DFG bestand im Dritten Reich in ihren Präsidenten.

Selbst wenn DFG-Präsident Rudolf Mentzel die zentrale Figur bei der Organisation der medizinischen Forschung war, so läßt sich daraus schwerlich eine Entlastung zimmern. Die Gelder der DFG, die unter anderem von der deutschen Industrie bereitgestellt wurden, flossen über den personell identischen Reichsforschungsrat auch offiziell in Himmlers Ahnenerbe und viele Projekte, bei denen Menschen der Vernichtung preisgegeben wurden. Insbesondere die Menschenexperimente des KZ-Arztes Josef Mengele, denen der Autor einen eigenen Abschnitt des Buches gewidmet hat, wurden von der DFG gefördert, und daß dabei eine rasseorientierte Anthropologie sowie eugenische Humangenetik im Mittelpunkt stand, macht den heutigen Einsatz dieser Wissenschaftsinstitution für Forschungsfreiheit in den zu harmloser Neutralität umgewidmeten Nachfolgedisziplinen nicht vertrauenerweckender.

Gerade die Propagierung einer positivistischen, das materielle Substrat zum Maß aller Dinge erhebenden Wissenschaftsphilosophie durch die moderne Medizinforschung läßt die Ergebnisse Mengeles als zwar ethisch verwerflichen, aber wissenschaftlich nicht minder relevanten Bestandteil einer akademischen Tradition erkennen, die alle Anlagen eines biologisch begründeten Rassismus in sich trägt. Daß es dabei nicht mehr um ethnische Kriterien geht, sondern um an einem funktional und verwertungsfähigen Menschenbild orientierte Leistungsmerkmale, ändert an der prinzipiellen eugenischen Absicht nichts. Im Dritten Reich haben Ärzte Behinderte umgebracht und an einer rassistischen, auf das Hervorbringen eines Idealtypus angelegten Vererbungslehre geforscht. Heute findet die Selektion im molekularbiologischen Bereich statt, gleichzeitig bricht die Euthanasie Alter und Kranker immer neue Tabugrenzen, während die Biomedizin das Primat des Machbaren einfordert, das im Rahmen der sogenannten Bioethik, die "nichteinwilligungsfähige" Menschen der Forschung preisgeben will, utilitaristisch legitimiert wird.

Am Ende seines Buchs verweist Ernst Klee denn auch ausdrücklich auf die Kontinuität der NS-Medizin, die sich nicht nur darin ausdrückt, daß prominente KZ-Mediziner später in den Wiedergutmachungsausschüssen der Bundesrepublik sitzen, um über den Entschädigungsanspruch ihrer Opfer von einst zu befinden, daß erwiesene Menschenexperimentatoren ihre Erkenntnisse ungeschmälert in die amerikanische Militär- und Weltraummedizin einbringen und dafür mit einer Karriere in den USA belohnt werden, oder daß Mengeles Mentor, der Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instiuts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik, Otmar Freiherr von Verschuer, nach dem Krieg publizistisch und institutionell fortsetzt, was in Auschwitz begründet wurde:

Die anthropologischen Institute nennen sich fortan humangenetische Institute, die Kaiser-Wilhelm-Institute heißen Max-Planck-Institute. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft, das zentrale Selbstverwaltungsorgan der Wissenschaft, beklagt 1996 in einer Denkschrift Behinderungen der Forschung speziell bei Gentechnik und Embryonenforschung. Titel der Denkschrift: 'Forschungsfreiheit.' Das Kaiser-Wilhelm-Institut für die menschliche Erblehre hatte 'keine Schranken' für die Forschung gefordert.
In Auschwitz wurde dieser Traum erfüllt: Der absolute Zugriff auf lebende und auf werdende Menschen. Eine Orgie der verbrauchenden Forschung. Auschwitz war die Hölle für die Häftlinge und der Himmel für die Forschung, die sich hemmungslos des 'Menschenmaterials' bediente.

Wie wenig man tatsächlich über diesen Teil der deutschen Vergangenheit hierzulande erfahren möchte, belegt auch die Geschichte des SS-Arztes Hans Münch, dessen in einem Auschwitz- Prozeß getroffenen Aussagen bei Klee mehrfach zitiert werden. Obwohl der Spiegel im Oktober letzten Jahres einen mehrseitigen Artikel über die Auschwitzer Zeit des im Allgäu lebenden 88jährigen Arztes abdruckte und sich zwei Rundfunkreportagen mit Aussagen Münchs im O-Ton anschlossen, wurden diese Zeugnisse aus erster Hand in Deutschland kaum zur Kenntnis genommen. Die Berichte des Mannes, der sich ohne weitere Konsequenzen der Selektion auf der Rampe verweigert hatte, ansonsten jedoch selbst an Menschenversuchen beteiligt war und Hunderte durch sein ärztliches Attest der Vernichtung preisgegeben hatte, erfüllen alle Ansprüche, die man an ein spektakuläres Zeitzeugnis haben kann, und seine Begegnungen mit ehemaligen Auschwitz-Häftlingen eröffnen Abgründe der Täter-Opfer-Beziehung. Was im amerikanischen und europäischen Ausland für einiges Aufsehen sorgte, verschwand in den deutschen Medien, wo man bestimmten Aspekten der nationalsozialistischen Herrschaft jeden nur denkbaren Raum gibt, sang- und klanglos von der Bühne.

Diese auffällige Zurückhaltung wie auch die geringe Auflage des Buchs von Ernst Klee verdeutlichen, daß das Thema der NS- Medizin alles andere als erledigt ist. Im Unterschied zur eindeutigen Abgrenzung, die sich zu den nationalsozialistischen Protagonisten des Dritten Reiches ziehen läßt, werden bei diesem Thema zu viele Parallelen und Brücken zur modernen Forschung und Wissenschaft deutlich, als daß man an diesem Wespennest rühren möchte. Die Fortschritte der Biomedizin gehören neben denen der Informatik zu den zentralen Trägern wirtschaftlicher wie gesellschaftlicher Neustrukturierung, dementsprechend restriktiv wird die Diskussion um ihre naheliegenden Gefahren gehandhabt. Die bei Klee erkennbare, vom System des Nationalsozialismus vollkommen unabhängige Bereitschaft der medizinischen Forschung, ihren Griff auf alles auszudehnen, was ihr nicht ausdrücklich vorenthalten wird, stellt keine gute Werbung für die neuen Anthropotechniken dar. Und wer tatsächlich glaubt, deren Aufschwung zum sozialtechnokratischen Machtmittel lasse sich mittels ethischer Normen ein Riegel vorschieben, dem sei Ernst Klees "Hinweis" ans Herz gelegt, dem er zu Anfang des Buches eine eigene Seite gewidmet hat:

In diesem Buch genannte Mediziner
haben nach eigener Aussage niemals gegen
ärztliches Ethos verstoßen.


Ernst Klee
Auschwitz, die NS-Medizin und ihre Opfer
S. Fischer-Verlag