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REZENSION/156: Bachtyar Ali - Der letzte Granatapfel (SB)


Bachtyar Ali


Der letzte Granatapfel



Umgeben von Wellen eines fremden Meeres treibt eine Nußschale, vollgestopft mit Flüchtlingen, den Ufern einer ungewissen Zukunft entgegen. Irgendwo in der Ferne liegt das europäische Festland, das Ziel ihrer heimatlosen Hoffnung und gärenden Sehnsucht auf Rettung und Neubeginn. Die Nacht ist pechschwarz, nur die Sterne blinken verstohlen über hungernde und frierende Menschen. Stets umdroht vom grollenden Tod aus der Tiefe des dunkelvioletten Wassers bricht sich der Kiel des Bootes seinen Weg durch die Wellen. Plötzlich erhebt sich inmitten der dichtgedrängten Leiber eine Stimme und beginnt eine Geschichte zu erzählen von menschlicher Tragik und Schmerz, zerbrochenen Träumen und Wunden, durch Intrigen, Verrat und Machtkämpfe aufgerissen, als ein Volk sich gegen einen Diktator erhob, aber im Bruderkrieg unterging.

Wir erfahren von der 21jährigen Kerkerhaft Muzafari Subhdams, eines kurdischen Peschmerga-Kämpfers, der, umringt von den Soldaten des Regimes, sich für den Rebellenführer Jakobi Snauber aufopferte und in einem Gefängnis irgendwo am Ende der irakischen Wüste mit der Zeit selbst zum gefühllosen Sand dieser goldfarbenen Ödnis zerrieben wurde. Nichts von seinen Erinnerungen und Leidenschaften ist geblieben, als er schließlich durch einen Gefangenenaustausch freikommt. Man bringt ihn in das Schloß seines einstigen Weggefährten. Nicht uneigennützig, wie sich bald herausstellt, denn Jakobi Snauber will, wie er mit nicht nachlassender Rhetorik betont, ihn fernab vom Schmutz der Welt halten. Durch die Reinheit des Sandes, zu der sich Muzafari Subhdam in der Einsamkeit der Zelle angeblich geläutert habe, hofft Snauber seinerseits, zu vergessen, daß das Blut der Märtyrer an seinen Händen klebt.

Doch Muzafari Subhdam entflieht diesem erneuten Gefängnis und macht sich auf die Suche nach seinem verlorenen Sohn Saryasi, den er nie zu Gesicht bekommen hat, von dem er nicht weiß, wie er aussieht, was aus ihm geworden ist und wo er sich aufhält. Daß dieser unter der unbarmherzigen Erde Kurdistans vergraben liegt, und es nicht einen, sondern drei junge Männer mit dem Namen Saryasi Subhdam gibt, die gleichaltrig sind und jeder für sich einen gläsernen Granatapfel seit ihrer Geburt bei sich tragen, wird er auf seiner Reise durch ein Labyrinth von Geheimnissen und Begegnungen mit wunderlichen Personen in Erfahrung bringen. Und auch, daß mächtige Clanführer wie Snauber und andere den Reichtum des Landes an sich gerissen und in ihrer Gier nach Gütern und persönlichem Glück den nördlichen Zipfel Kurdistans ins Elend eines Gemetzels unter Brüdern und verfeindeten Milizen gestürzt haben.

Dies alles und wie es dazu kam, daß er sich eines Tages den brausenden Wogen des Mittelmeeres anvertraute, erzählt Bachtyar Ali durch den Mund des Protagonisten Muzafari Subhdam auf herzrührende Weise. Dazu wählt er eine Sprache, die für westliche Ohren möglicherweise etwas fremd und mesopotamisch entrückt, fast wie ein Märchen aus Tausendundeinernacht klingt. Reich an poetischen Bildern und verworrenen Allegorien, halbvergessenen Mythen und Legenden aus dem tiefen Fundus jahrtausendealter Überlieferung wird von Orten gesprochen, die gleichsam zwischen Himmel und Erde schweben und die Schritte der Menschen auf sonderbare Wege lenken.

Poesie ist Teil der kurdischen Seele und einer Erzählkunst, deren mündliche Traditionen auch in der Form der Prosa noch Wirkkraft entfalten. Während im Westen viel zu oft und ältere Quellen vernachlässigend rein nach Fiktion und Wirklichkeit unterschieden und eine phantasievoll ausgeschmückte Geschichte in ihrem literarischen Wert niedriger erachtet wird als die nackte Welt der Fakten, die was unmöglich scheint als Lüge abtut, hat die orientalische Zunge und Feder noch nicht gänzlich vergessen, daß Bagdad erst erbaut wurde, nachdem Beduinen an den Lagerfeuern immer wieder von einer Stadt in der Wüste erzählten, in deren Glanz selbst die Sterne verblassen.

Doch worin besteht die Verzauberung der Dinge und Geschehnisse, die einen Menschen mit dem Wüstensand sprechen läßt, nachtwandelnde Seelen zu den Sternen treibt oder durch Abgründe der Verirrung, der Lüge und eines schier unversöhnlichen Hasses hinweg einen unumkehrbaren Entschluß zur Reife bringt? Bachtyar Ali entwirft dazu das geheimnisvolle Bild von der Welt letztem Granatapfelbaum. "Die Erde versank im Blut, aber für sie öffnete sich eine Zaubertür. Eine Tür in eine imaginäre Welt, in der Mensch und Erde bis zum Tode befreundet und vereint bleiben." (S. 126) Der Granatapfelbaum steht demnach für einen Wunsch oder Traum, "den die jungen Männer selbst nicht klar vor Augen hatten. Der nur durch die Kraft dieses Baumes vorstellbar werden konnte: daß die Menschen, ob Brüder oder Feinde, füreinander Verständnis haben mögen." (S. 302)

Nun ist Aussöhnung im orientalischen Kulturkreis ein noch heute erinnerungswach gehaltenes Webmuster in sozialen Konfliktlagen, ein Kodex, an dem sich nahtlos auch alle im Kontext des Modernen mit Menschlichkeit assoziierten Vorstellungen aufreihen lassen. So heißt es nicht zufällig: "Alle in Elend lebenden Menschen dieser Welt sind Brüder." (S. 210) Im Lauf der Zivilisationsgeschichte wurde die Not, weder in der Wildnis oder Wüste noch in der vielschichtigen Matrix arbeitsteilig organisierter Handels- und Versorgungsstrukturen allein auf sich gestellt überleben zu können, zur zentralen Voraussetzung für Gemeinschaft erhoben. Um die rapide anwachsenden Widersprüche zwischen Anspruch und Wirklichkeit eines gemeinnützigen Zusammenlebens zu überdecken bzw. Antriebe zur Rebellion bereits im Keim zu ersticken, bildete sich schon früh ein ethisch-moralisches Bekenntnis oder Regulativ heraus, das geeignet war, die unhinterfragte Bestimmung der Not als Grundlage jeder Form von hierachischer Ordnung auf Dauer festzuschreiben. Auch bot sie Gewähr dafür, daß die verwaltungsoperativen Eindämmungsstrategien der Herrschenden den Nimbus des Unvermeidbaren erhielten.

Auch die Charaktere und Personen im Roman, seien es die weißen Schwestern Laulawi und Schadaryai Spi, die drei Saryasi Subhdams, Mohamadi Glasherz, Nadimi Shazadeh oder Jalali Schams, nur um einige zu nennen, die Muzafari Subhdams Weg von der Wüstengefangenschaft zurück ins zivile Leben eine konturhafte Plausibilität geben, tragen diesen Konflikt auf ihre jeweils eigene Art innerhalb der von Korruption und blutiger Rivalität der beiden Großparteien gekennzeichneten Gesellschaft in Irakisch-Kurdistan aus.

"Ist die Menschheit nicht wie in einem einzigen Körper verbunden? Ist nicht unser aller Name 'Saryasi'? Ist die Geschichte der Saryasis nicht die aller Menschen, die hilflos in die Wirbelstürme dieser Region geraten waren?" (S. 278) Kaum eine andere Passage im Buch bringt die brennende Aktualität des Grundwiderspruchs von Flüchtlingsströmen und den zur Abwehr dagegen gerichteten Maßnahmen staatlicher Reglementierung so auf den Punkt. Man braucht nicht die Reißzähne des Ressentiments, um zu verstehen, daß der Status eines Flüchtlings als Opfer unter Opfern von Krieg und Vertreibung in letzter Konsequenz von der großen Weltpolitik diktiert wird. Der nur scheinbar alles verbindende Geist der Humanität taugt nur für laue Philosophenabende. Andernfalls wäre das Mittelmeer nicht das nasse Grab so vieler Gebeine. Der Flüchtling durchlebt das Sterben der Zukunft an jedem Tag der Gegenwart ohne sicheres Asyl. Die Frage ist doch: In welcher Welt wollen wir leben, die an unsere Kinder weiterzugeben erstrebenswert wäre? Auf dies menschlich Naheliegende, das in pedantischer Hartherzigkeit immer wieder von Hetzrednern der Fremdenfeindlichkeit in unerreichbare Ferne weggegeißelt wird, aufmerksam zu machen, war vielleicht die Geburtsstunde dieses Romans.

Bei allem artikulierten Gleichklang der Rezensenten, so süß und schön die Worte klingen, geht es doch um weitaus mehr als um orientalischen Zierart oder verschlungene Symbolik. Ist es etwa märchenhaft berückend, wenn ein Junge und ein Mädchen, die auf einem Feld nebeneinander einschlafen, mit Benzin übergossen und angezündet werden? Hinter dem augenfällig orientalischem Kolorit verbirgt sich eine Realität, die Kindern die Gliedmaße wegsprengt und ihre kleinen Gesichter mit Brandbomben bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Die Rede ist von kaltblütigen Übergriffen der Milizen auf Dörfer und Bazare, der Willkür von Polizeischikanen, alltäglicher Gewalt und plötzlichem Tod.

Läßt man dies unberücksichtigt, könnte der Eindruck entstehen, daß der schon viele Jahre in Deutschland lebende und lange unentdeckte kurdische Autor die Rolle eines Verlegenheitshelden spielt, der mangels eigener schöngeistiger Literaten eine Verlags- und Marktlücke schließen soll. Daß ihm Schwingen der Poesie aufgeschwatzt werden, die ihn im Flug des Lobes weiter tragen, als es die strenge Rationalität seines eigenen Anliegens vermag, ist gleichermaßen bedauernswert wie völlig überflüssig, da Bachtyar Ali immer frei nach dem Schlag seines Herzens schrieb. Stilistische Mittel, die das Ohr betören und gleichermaßen die kalte Gewohnheit einer lieblos gewordenen Phrasenkultur aufrütteln, dienten nie einem Selbstzweck. Nichts könnte zudem mißverstandener sein, als einen Appell an die Menschlichkeit, die in Alis Werk zentriert gesehen wird, zu vermuten.

Selbst die Hauptfigur des Romans Muzafari Subhdam ist von hoher ambivalenter Zerrissenheit. Nicht Reinheit zeichnet ihn aus, sondern im Kern die Gebrochenheit eines Menschen, der beim Blick aus dem Fenster im Schloß vor dem Rauschen der Blätter im Abendwind erschrickt. Auch die Gegenstände im Zimmer zerstören unwillkürlich seine Einsamkeit, dies, weil die Sprache der Sandkörner, die er im Verlies erlernte, dem Leben gegenüber gleichgültig ist. "Als ich herauskam, roch ich nach Wüste" (S. 7) - und ist Wüstensand etwas anderes, als daß Hitze und Kälte zermalmten, was einst ein Felsen war. "Nichts kann unsere Erinnerungen so auffressen wie der Sand" (S.13), beschreibt er sein Dilemma selbst.

Mit dem Willen, Resignation und Gleichmut brechen zu müssen, die sich in der Wüste wie ein alles erstickender Panzer um ihn gelegt haben, macht er sich auf, den Menschen in sich wiederzuentdecken. Sein Antrieb ist jedoch, auch weil ihn ansonsten nichts mehr mit der Welt verbindet, die Suche nach seinem verschollenen Sohn. Als er erfährt, daß es drei Saryasis gibt, von denen einer von einem Polizisten auf dem Basar erschossen wurde, der zweite ebenso unerreichbar für ihn in Kriegsgefangenschaft verschmachtet und der dritte, nahezu blind und taub, mit einem zerstörten Gesicht in einem Krankenhaus für kriegsversehrte Kinder dahinvegetiert, vollzieht sich in Muzafari Subhdam eine innere Wandlung. Dies um so mehr, als er erfährt, daß zwei der Saryasis die unehelichen Kinder von Jakobi Snauber sind. Welcher aber sein leiblicher Sohn ist, wird er nie herausfinden. Die Kriegswirren haben alle Spuren verwischt.

Hinuntergestoßen in den Abgrund seines tiefsten Schmerzes bleibt ihm nur, in den Saryasis ein Sinnbild für die verlorenen Söhne der Revolution zu sehen, Brüder, die der Krieg auseinandergerissen hat. Längst ist die Hoffnung auf ein befreites Kurdistan in ihm zur Fata Morgana verblaßt. Für gläserne Menschen in einem gläsernen Land unter einer gläsernen Zeit gibt es keine Zukunft. Sie müssen zerbrechen wie einst Mohamadi Glasherz an unerwiderter Liebe zerbrach. Als der Saryasi im Lazarett von einer Hilfsorganisation nach England gebracht wird, weil er aufgrund schwerster Verletzungen für die Ärzte von Interesse ist, um an ihm neue Verfahren der Transplantationsmedizin zu erproben, entschließt sich Muzafari Subhdam, seine Heimat für immer zu verlassen und jenem Saryasi nachzufolgen, der sein Sohn sein könnte oder auch nicht, dessen unendliche Bedürftigkeit jedoch seiner eigenen Verlorenheit in dieser Welt in allem entspricht.

Nach einem letzten Gespräch mit dem alternden, schwerkranken Jakobi Snauber, der, um ein Land zu regieren, sein eigenes Blut verleugnet hatte, und nachdem alles zu Wort gekommen war, was gesagt werden konnte, und zwischen ihnen kein Groll mehr zurückblieb, reißt in Muzafari Subhdam auch der letzte Faden zu seinem einstigen Leben. Zugleich mit dem Schwur auf den Saryasi aus Asche und Blut verwandeln sich die Gefährten seines letzten Pfades in Kurdistan: die weißen Schwestern, deren Gesang einst die jungen Karrenverkäufer des Basars verzaubert hatte, und sein treuer Freund Ikrami Keu, ein Peschmerga wie er, der den Notleidenden hilft, wo er nur kann, und auch ihm in seinen schwersten Stunden mit Rat und Tat zur Seite stand - zu zerbrechlichen Glasfiguren unter den drohenden Donnerschlägen der Zeit.

Der Mann aus der Wüste, der nun auf dem Meer treibt, dieser Muzafari Subhdam, der dem Tod einst mutig ins Gesicht geschaut hatte, setzt sein Vertrauen zuletzt auf eine Handbreit Hoffnung: "Wenn der Mensch seine Richtung kennt, kann er sich nicht verlieren." (S. 303) Die Philosophen nennen es Sinnfindung, Rückkehr zu Gott heißt es bei den Frommen. Wenn Anfang und Ende sich im Kreise schließen, vollendet sich der Lauf des Scheiterns. Und um einen allzu menschlich Gescheiterten geht es schließlich im Roman, dieser Abhandlung von der Wehmut einer erloschenen Flamme. Mit dem Granatapfelbaum, der schon in den Mythen vergessenen Stärke des Menschen, hat es offensichtlich nichts zu tun. Und wie so oft, wenn der Mensch sich selbst belügt und für Erkenntnis hält, was nicht einmal die Krähen am Wegesrand fressen, sieht man Muzafari Subhdam am Bootsrand, wie er etwas in die Nacht hinaus ruft, das in einem endlosen Echo von einer Welle zur nächsten springt: "Saryasi Subhdam, wo bist du? Wo bist du? Wo bist du? Wo bist du?" (S. 344)

26. Januar 2017


Bachtyar Ali
Der letzte Granatapfel
Unionsverlag, Zürich 2016
352 Seiten, 22.00 Euro
ISBN: 978-3-293-00499-3


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