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REZENSION/146: Tikus O - Die Handhabung der Ungewissheit (SB)


Tikus O


Die Handhabung der Ungewissheit



Das Verlagshaus Monsenstein und Vannerdat eröffnet unbekannten Autoren die Möglichkeit, ihre Werke über "Book on Demand" zu veröffentlichen und bietet dem Leser die Gelegenheit, an Bücher heranzukommen, die nicht auf verlagsgebundene Themenbereiche beschränkt sind.

"Die Handhabung der Ungewissheit" von Tikus O ist so ein ungewöhnlicher Roman, der sich thematisch und sprachlich nicht an gegenwärtige Lesegewohnheiten anpaßt. Manga, Comic und Graphic-Novel ebenso wie fantastische Literatur hatten auf der gut besuchten Leipziger Buchmesse 2014 einen bemerkenswerten Zulauf, was das Bedürfnis der Leser bestätigt, sich von "realistischen" Themen abzuwenden und Literatur auch als "Spiel" zu betrachten, an dem sie selbst, sogar verkleidet, gerne teilnehmen. Wer hat auch noch Lust, sich in seiner Freizeit mit den Krisenerscheinungen unserer Zeit zu befassen? Wir haben in unserer unmittelbaren Umgebung mit genug Problemen zu kämpfen. Welchen Nutzen könnte da ein Roman haben, der auch noch den Finger auf die gesellschaftliche Realität legt und durch das ernüchternde Abbilden der Wirklichkeit Fragen stellt, ohne sie gleich zu beantworten? Nun ja, es kommt ganz darauf an, wie realistische Gegenwartsliteratur erzählt wird und welche Eindrücke sie beim Leser hinterläßt.

"Die Handhabung der Ungewissheit" ist kein mitreißender Roman, der dem Leser durch eine spannungsreiche Story, detailreiche Beschreibungen und tiefgründige Einblicke in die Seele der Protagonisten einen kurzweiligen Lesegenuß beschert. Dies ist eine sparsam erzählte, am realen Leben orientierte Geschichte, in der sich die Biographien von drei Personen berühren, die am Rande der Gesellschaft stehen und denen man normalerweise wenig Beachtung schenkt. Menschen, die jeden Tag an uns vorübergehen und durch die man lieber hindurchsieht, um nicht von der Trostlosigkeit ihres Lebens berührt zu werden.

Selina, eine Sozialarbeiterin, ist alleinerziehende Mutter und daher dazu verdammt, auf vieles zu verzichten, was ihre Freunde noch in vollen Zügen genießen können. Sie fühlt sich ausgegrenzt und sieht die Chancen, einen festen Partner zu finden, der sich nicht an einem Kind stört, immer geringer werden. In einem Park kommt sie mit dem 64-jährigen Ludwin Feldmann ins Gespräch, der nur noch eine Hand besitzt und den sie in Verbindung mit der Studie über Invalidität, die in dem sozialwissenschaftlichen Institut, in dem sie arbeitet, gemacht wird, interviewen möchte.

In Ludwin Feldmanns Leben ist alles schief gelaufen. Eine Karosseriebauer-Lehre hat er abgebrochen, zum Rock'n'Roll-Musiker hat es nicht gereicht und letztlich mußte er sich mit schlecht bezahlten Hilfsjobs begnügen. Ein Unfall kostete ihn die Hand und stieß ihn endgültig ins Elend, in das er auch seine Frau, die er in besseren Tagen kennengelernt und geheiratet hatte, hineinzog. Im Zuge eines medizinischen Forschungsprogramms wurde ihm eine Hand transplantiert. Doch der erwachte Hoffnungsschimmer verwandelt sich in einen Alptraum, der für Ludwin im Gefängnis endet.

Ludwins Sohn Georg mußte im Heim aufwachsen und wurde allein schon deshalb an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Ähnlich wie sein Vater schafft er es nicht, sich aus dem Sog, der ihn nach unten ziehen will, zu befreien. Die Schuld an seinem verkorksten Leben schiebt er auf seinen Vater, den er nicht kennt und von dem er auch gar nichts wissen will. Erst dessen Tod liefert eine Berührungsfläche mit ihm und mit Selina, die sich wundert, daß Ludwin sie nicht wegen eines zweiten Interviewtermins kontaktiert hat.

Auch als Selina und Georg sich begegnen und man als Leser denkt, hier könnten sich ja nun zwei Einsame zusammentun, wird man auf den Boden der Realität zurückgeholt. Denn sie haben nicht wirklich Interesse am anderen und sind unfähig, auf einander einzugehen, so daß die Unerträglichkeit dieser Situation nur noch den Fluchtweg offenhält.

Der nüchterne, sich auf das Wesentliche beschränkende Schreibstil des Autors, der einer sozialwissenschaftlichen Bestandsaufnahme nachempfunden sein mag, ist zunächst gewöhnungsbedürftig, geht er doch über vieles hinweg, das man gerne genauer gewußt hätte. Allerdings spiegelt gerade dieser unaufgeregte Schreibstil die Ödnis wieder, die das Leben der Protagonisten darstellt. Aber gerade in der düstersten Ausweglosigkeit können die gewöhnlichen Dinge eine Strahlkraft entfalten, die sie in einem besseren Leben gar nicht erst entwickeln. Und so gewinnt der Roman in seinem Verlauf an Tiefe und fächert sich geschickt in die drei oben genannten Biografien auf. Eindrücklich beschreibt Tikus O das Schicksal eines von der Gesellschaft ausgegrenzten Menschen, der normalerweise keinen Romanstoff liefern würde, weil sich niemand für ihn interessiert. Es ist gut, daß er die deprimierende Seite der Realität auf so schonungslose Weise zu Papier gebracht hat, gerade weil man sie so ungern betrachtet und viel lieber nach einem ermutigenderen Ausweg Ausschau hält, statt sich den Problemen zu stellen.

Tikus O ist es gelungen, nicht nur den Lebensweg eines randständigen Menschen in seiner Schlichtheit so darzustellen, daß er nicht vom Lärm der Erfolgreichen zum Verstummen gebracht werden kann, sondern auch dessen Schicksal an der bundesdeutschen Geschichte zu spiegeln. Mit seiner klar positionierten Gesellschaftskritik, die den Roman wie ein roter Faden durchzieht, hebt er die Aspekte hervor, die dem Leser die Zeitlosigkeit und Herkunft gesellschaftlicher Zwänge aufzeigen. Und es wird deutlich, daß er entweder beruflich in dieser Materie zu Hause ist oder ausnehmend gut recherchiert hat. Er beschönigt nichts, widmet sich mit viel Verständnis seinen Protagonisten und konfrontiert den Leser mit der tristen Alltäglichkeit menschlichen Versagens. Das macht die Lektüre dieses Romans stellenweise schwer erträglich.

Man hätte sich entschlußfreudigere Charaktere gewünscht, doch wäre dieser Roman dann noch von anderen, in denen Menschen ihr Leben meistern, zu unterscheiden?

20. März 2014




Tikus O
Die Handhabung der Ungewissheit
Edition Octopus - Verlagshaus Monsenstein und Vannerdat OHG
erschienen im Januar 2014
Softcover, 164 Seiten, 10,50 Euro
ISBN: 978-3-95645-041-9