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REZENSION/083: Rujana Jeger - Darkroom (kroatische Jugend) (SB)


Rujana Jeger


Darkroom



Ein Roman im eigentlichen Sinn ist das Erstlingswerk von Rujana Jeger nicht, eher eine szenische Zusammenstellung von Erlebnissen und Erfahrungen aus Kindheit und Jugend (wenn man die Zeit bis ca. 30 noch so bezeichnen will), nicht chronologisch, sondern assoziativ und ungeordnet, die das zerrissene, widerspruchsreiche Bild einer Entwicklung entwerfen, die die Protagonistin so oder ähnlich mit unzähligen Heranwachsenden dieser Welt teilt.

Gefühle von Entwurzeltsein, Orientierungslosigkeit und Nichtdazugehörigkeit bei gleichzeitiger Sehnsucht nach Leben und einem eigenen Platz darin und der Widerspruch zwischen Tradition und neuen Lebensformen treten vor dem Hintergrund eines zerfallenden Jugoslawiens allerdings schärfer hervor.

Warum haben Sie Ihre Nationalität nicht angegeben? fragt der Konsul. Davon hängt Ihr Visum ab. Ich habe keine, antworte ich und lache. Wenn ich eine hätte, würde ich jetzt nicht in München leben. Was sind Ihre Eltern? Papa ist Serbe und Mama Staatsfeind, antworte ich. Er lacht, ich weiß, daß ihm das gefällt. Großmutter fragt mich, wie ich nach Jugoslawien fahre. Mit dem Zug, antworte ich. Der Zug ist voller Serben, sagt sie. (S. 12)

Morana, die Protagonistin des Buches, dem man wohl starke autobiografische Züge unterstellen darf, wächst in Zagreb in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts auf. Als Kind unkonventioneller, chaotischer Eltern, die sich, wie ihre Altersgenossen im Westen, nicht nur für Marx und Hegel, sondern im 'Zeitalter des Wassermanns' auch für Yoga und Esoterik, Buddhismus und Drogen interessieren und natürlich für die entsprechende Musik, erfährt sie früh, daß sie ein Außenseiter ist.

Branka, Tanja und ich betreten die Wohnung. Die letzte Schulstunde ist ausgefallen, sie müssen noch nicht nach Hause. Sie wollen mein neues Meerschweinchen sehen. Die Zimmertür steht offen, Papa von Räucherstäbchen umgeben. Nackt. Im Lotussitz. Indische Musik erklingt. Er rezitiert sein Mantra. Branka und Tanja gucken konsterniert. Papas Bart reicht bis auf die Brust herab. Was macht er? Meditiert, antworte ich ungerührt. Kommt und seht euch mein Meerschweinchen an. (S. 28f.)
Mein Meerschweinchen fraß Gras. Das mußte gesammelt werden. Manchmal sammelten auch Mama und Papa Gras. Mama hatte langes, mit Henna gefärbtes Haar und einen Mittelscheitel. Papa trug einen Bart à la Maharishi Yogi. Die Passanten schüttelten den Kopf. (S. 28)
Nach fast 20 Jahren traf ich Tanja in einem Club. Wir tranken ein Bier und erinnerten uns an die Zeiten in der Grundschule. Alle dachten, ihr sammelt Gras für den Eigenbedarf. Wir lachten, bis wir Seitenstechen bekamen. (S. 30)
Papa brachte mir das Schwimmen bei. Stundenlang hing ich an seinem Rücken, hielt mich am Haar oder dem Maharadscha-Bart fest, und kaum war ich fünf Minuten am Strand, fand ich es schon wieder langweilig und zu heiß. Alle waren Nudisten, Studenten der Philosophie, Soziologie, Indologie, sie konnten stundenlang debattieren, ohne das einzige Kind unter ihnen zu bemerken - mich... (S. 73f.)

Die Ähnlichkeit des beschriebenen Lebensstils in seiner Orientierung an westlichen Werten mag ein mögliches Interesse an dem Buch von Rujana Jeger bei uns begründen, dieser Umstand zeigt aber auch, wie frei das Leben im jugoslawischen Sozialismus vor seinem von außen initiierten und gesteuerten Zerfall gewesen ist, der Entwurf einer sozialistischen Alternative, die dem Kapitalismus offenstand, ohne sich ihm unterwerfen zu wollen.

Moranas Eltern trennen sich früh, ihre Beziehungen wechseln, stabiler ist die Verbindung zum Großvater. In den Erinnerungen an ihn wird das alte Jugoslawien lebendig und seine Sehnsucht danach.

"Amerikaner und Deutsche haben sich gegen Jugoslawien verschworen und wollen alles vernichten, was noch übrig ist, sagt Großvater und schält mit dem kleinen Taschenmesser gemächlich einen Apfel. Seine Hände zittern nicht, nur die Venen treten stark hervor. Er schält den Apfel langsam, als schäle er alles ab, was ihn noch an das Leben bindet. Durchs Fenster geht der Blick auf die Dächer der Stadtverwaltung von Subotica. Jugendstil. Im Traum gehe ich durch die Straßen von Zagreb, sagt er." (S. 11)
Großvater hat das Brot immer beim Albaner gekauft. Eines Tages dann kaufte niemand mehr Brot beim Albaner. Man wies meinen Großvater darauf hin, auch er solle das unterlassen. Warum? fragten wir. Weil er Albaner ist, sagte Großvater und kaufte das Brot weiterhin beim Albaner. (S. 90)

1991 erklärt Kroatien nach Slowenien als zweites jugoslawisches Land seine Unabhängigkeit. Der Krieg beginnt, zuerst in Kroatien, dann in Bosnien-Herzegowina, später im Kosovo. Wann und warum Morana Kroatien verläßt und nach München geht, wo sie mit ihrem Mann Boris und dem ehemaligen schwulen Schulfreund Kristijan lebt, und wie weit der Krieg für den Weggang und die Zerstreuung von Familie und Freundeskreis über die ganze Welt verantwortlich ist oder welche anderen Motive dabei jeweils eine Rolle spielen, kann nur vermutet werden.

Krieg und Umbruch erleben die Protagonisten mit Abstand und im Zusammenhang anderer alltäglicher Prioritäten; sie sind kein Grund oder Anlaß zur Parteinahme.

"Kristijan und ich haben Shere Hite gelesen. Da beschreibt eine Frau, daß sie im Augenblick des Orgasmus Raketen und Schüsse hört. Wir lachten darüber. Im Frühsommer hatte Kristijan was mit einem Bosnier. Der beste Lover, den er bis dahin gehabt hatte. Er besaß eine kleine Wohnung in Utrine. Nicht mehr ganz jung, alleinstehend. Kristijan entdeckte täglich neue Stellungen beim Geschlechtsverkehr. Eines Tages hörte er während des Orgasmus Schüsse und Raketen. Unglaublich, dachte er. Sie hat nicht gelogen! Er öffnete die Augen. Das Geräusch kam von draußen. Unter dem Fenster lag die Marshall-Tito-Kaserne. Der Krieg hatte begonnen." (S. 25)
Kommt zu mir, hatte Kristijan gesagt, wir essen was und schauen uns die Bombardierung von Belgrad an ... Im ersten Moment konnten wir nicht glauben, daß es wirklich geschieht, aber dann ergriff Kristijan mit seinem gesunden Menschenverstand das Wort. Sein Blick wanderte von dem Berg dampfgegarten Gemüses mit einer Prise Meersalz und dem Naturreis zu den Bratwürstchen mit Senf und Weißbrot, die Boris mit Genuß in sich hineinstopfte, und der gesunde Menschenverstand fragte: Und wenn die Russen angreifen, warum halten wir dann Diät? Sei still, entgegnete ich, wir wären schöne Leichen, wie Marylinka, entgegnete ich düster und hoffte, daß er nicht daran denkt, daß es nach einem Atomkrieg ohnehin keine Leichen gibt... Noch zwei Kilo trennen mich von meinem Idealgewicht... (S. 82f.)

Daß Sex (vor allen Dingen) und Freundschaft und ein leerer Kühlschrank mehr Raum (im Leben wie im Buch) einnehmen als politische Zusammenhänge, ist hier nicht anders als bei Jugendlichen sonstwo. Anders als bei anderen Autoren besteht aber hier auch der Anspruch wohl nicht, politische Verhältnisse anhand von Alltagserfahrungen zu beleuchten und zu analysieren.

In oft nur angedeuteten, bisweilen fast zarten und auch skurrilen Bildern bei durchaus deutlicher Sprache beschreibt die Autorin, was den Protagonisten widerfährt.

Ich sitze im Café und heule. Es ist Krieg, 1992. Kristijan hat eine Zeitungsnotiz ausgeschnitten, die Leute sollen Plastiktüten mit in den Schutzkeller nehmen für ihre Notdurft. Wir sind in München. Ich heule weiter. Was ist, fragt Kristijan, willst du in eine Tüte scheißen? (S. 14)

Dabei läßt das meist Skizzenhafte von Jegers Schilderung dem Leser viel Raum für eigene Gedanken und Empfindungen und für eigene Erinnerungen. Ja, so fühlt sich das an, so macht man Erfahrungen.

Dieses Stilmittel, das das Buch zu etwas Eigenem, Besonderem und dabei den heutigen Rezeptionsgewohnheiten durchaus Entsprechendem hätte machen können, wird von der Autorin dann aber nicht durchgehalten. Zunehmend mischen sich bei fortschreitender Lektüre zwischen aussagekräftigere Episoden solche, die eher dazu angetan sind, die Seiten bloß zu füllen und den Leser zu frustrieren. Das Unstrukturierte scheint nicht mehr Absicht, sondern gerät zur bloßen Nachlässigkeit, Erzähltes ist so beliebig wie belanglos, als wäre der Autorin am Ende der Stoff ausgegangen. Da wird dann nur noch geschwätzt.

Gestern hat Birgit bei mir übernachtet, sagte Kristijan. Die Kuh wollte nicht nach Hause gehen, schnaubte er. Morgens fragte sie mich, ob es bei mir Kaffee gäbe. Nein, morgens pflege ich Sex zu reichen, aber wenn ich zwischen Kaffee und Sex mit ihr wählen müßte, dann besser Kaffee, habe ich böse zu ihr gesagt. (S. 94)
Ich bin zu dick und werde alt, sagte Boris. Außerdem bin ich furchtbar aufgedunsen, klagte er. Mit mir geht's bergab, schrie er. Mir ist nicht zu helfen, wimmerte er hilflos und betrachtete eine Schicht Bauchspeck von ca. 2,5 cm Durchmesser. Kristijan nickte verständnisvoll. Wie Nastassja Kinski in Paris, Texas gesagt hat: Yeah, I know that feeling, schloß er weise. (S. 85)
Mein Opa lebt noch. Auch nach Tito, so in etwa. Mein Opa lebt im Handy. Dort steht: Opa. Und die Telefonnummer. Das ist heutzutage wertvoll, in jemandes Handy gespeichert zu sein. Und so habe ich einen kleinen elektronischen Opa, der für immer im Handy kauert. Besser als nichts, oder? (S. 139)
Als ich zum ersten Mal Lust for Life gehört habe, war ich zwölf Jahre alt. Mein Onkel hat mir die Platte geschenkt. Tito war gerade gestorben. Jetzt drehen sie schon Filme über die achtziger Jahre. Man besucht Themenbälle zu den achtziger Jahren. Meinem Vater muß es ähnlich ergangen sein, als er Jahre später Woodstock und so schaute. Es ist scheußlich, wenn die eigene Jugend zur historischen Epoche wird. (S. 77)

Der politische Hintergrund, der hier ja ein ganz besonderer und bedeutsamer ist, verkommt zu einer Art Exotenbonus, der das Buch vor dem Absturz in die Überflüssigkeit bewahren soll.

Ihre Erfahrungen führen - im Gegensatz zu der Elterngeneration und auch der der Großeltern - bei den Hauptfiguren nicht zur Auflehnung und Entwicklung einer eigenen Position, sondern bestärken - auch das ein zeitgeistiges Phänomen - ein Gefühl des Schicksalhaften, dem man sich ausgesetzt sieht, dem man sich aber auch überantwortet. So ist der Titel des Buches "Darkroom" Programm und sein Motto nicht von ungefähr dieses:

... Das Leben ist wie ein Darkroom, sagt Kristijan. Du weißt nie, wer dich wie fickt und wen du wie fickst. Aber es ist zu aufregend, als daß du einfach so rausgehen könntest...

Manchem mag es vor diesem Hintergrund ein Trost sein, wenn, wie im März diesen Jahres im NDR zu sehen und zu hören war, Jugendliche in Serbien, Kroatien und Slowenien, das von der Abspaltung zunächst am meisten profitiert zu haben schien, neuerdings wieder das Konterfei Titos auf T-Shirts tragen oder an die Wände ihrer Kneipen heften, Partisanenlieder singen und ein Jugoslawien beschwören, das die Unterschiede der Volksgruppen nicht leugnete, über Jahrzehnte aber ein weitgehend friedliches Zusammenleben bewerkstelligte und in dem auch Außenseiter wie heute beispielsweise die Roma, die jetzt in Lagern und Ghettos ein erbärmliches Dasein fristen, anerkannt und gleichberechtigt leben konnten. (Quelle: NDR, Absolut, 31.03.05)


Rujana Jeger
Darkroom
Aus dem Kroatischen von Brigitte Döbert
C.H. Beck Verlag, 2004
gebunden, 153 Seiten
ISBN 3 406 51706 4