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REZENSION/053: Petra Schmidt-Decker - Die Seherin (Magie) (SB)


Petra Schmidt-Decker


Die Seherin



Die Themen dieses Romans umfassen vornehmlich das Visionieren, den Tod und die Liebe.

Der wichtigste Aspekt im Leben der Hauptfigur Anna konzentriert sich auf das Fühlen dieser jungen Seherin, denn daraus entspringt, laut Roman, ihr Wissen. Zukünftiges offenbart sich dem jungen Mädchen nach einem wirren Farbenmeer in klaren Bilder.

Bereits im Kindesalter kann sich Anna an das Wissen ihrer vorigen Leben erinnern, ihre Großmutter bezeichnet sie daher als eine häufig inkarnierte Seele. Doch Annas rote Haare und ihr einhaltsgebietender Blick veranlaßt die hinterwäldlerische Dorfgemeinschaft, sie zu fürchten, zu verhöhnen oder zu meiden.

Als Heranwachsende entdeckt Anna ihre erotische Leidenschaft und verliert dabei doch nicht die "geistige" Unschuld. Die Erfahrung der "Leibhaftigkeit" (im Gegensatz zur "Seelenhaftigkeit") steht in diesem Roman in keinerlei Widerspruch zur Entwicklung der fast "heiligen" Eigenschaften. Die erwachsene Seherin lernt schließlich, in ihr Fühlen das Denken zu integrieren.

Das Buch durchzieht eine schwermütige Todesliebe. Der Tod wird als Auferstehung willkommen geheißen. Als Bestandteil eines neuen Traumzustandes besäße er nichts Beängstigendes mehr, sondern bedeute eher ein Loslassen, ein Weg in die Freiheit. Der Tod ist in der Geschichte stets präsent, denn entweder stirbt gerade ein geliebter Mensch oder irgend jemand erinnert sich melancholisch an einen Verstorbenen. Am Ende sieht auch Anna sich dem Tode gegenüber.

Es ist ein einfaches Weltbild, das in dem Roman präsentiert wird. Die Gabe, in die Zukunft zu sehen, setzt sich aus reinem Wahrnehmen zusammen, daher kann Anna nichts an den schrecklichen Geschehnissen ändern, lediglich die Folgen mildern. Sie bemüht sich um Kranke oder verhilft der Gerechtigkeit ans Tageslicht.

Das Muster des Romans ist die Ordnung des Lebens, zu dem immer zwei Seiten gehören, die Liebe und der Tod, ebenso wie Derbheit und Feinsinn, Stärke und Schwäche, Wachsen und Vergehen. Die Autorin sieht für jedes Problem eine Lösung vor, die in östlicher und westlicher Philosophie oder der Mischung aus beiden ihren Erklärungshintergrund findet.

Dreh- und Angelpunkt bleibt der Traum, Annas Visionen. Das Visionieren besteht aus einem zusätzlichen Sinn, einem Wahrnehmen, einem Aufnehmen, das sich in seiner Funktion nicht vom Sehen oder Hören unterscheidet. Es geht dabei nicht um die Veränderung der Wirklichkeit, sondern um die Stabilisierung des Guten und Göttlichen in der Welt. Anna versucht Zerstrittene oder Ausgestoßene wieder zusammenzubringen, damit Harmonie herrsche. Als verkannter Engel wandelt sie zwischen den Menschen.

Doch das, was sie zu bewirken vermag, liegt im üblichen Rahmen jedes Menschen, der sich für den Abbau von Vorurteilen und Haß aufgrund seines Mitgefühls für seine Mitmenschen einsetzt.

Der Traum verkommt in diesem Roman tatsächlich zu farbenprächtigem Visionieren und verbleibt als eine ererbte Gabe für besonders feinsinnige Menschen.

Antworten gibt es jede Menge in dem Roman, auch auf nicht gestellte Fragen. Die Autorin hat das gesamte esoterische Weltbild zusammengetragen, das in den letzten Jahrzehnten angesammelt wurde, und in ihrem Roman untergebracht. Jeder, der die allgemein bekannten Auffassungen in knappen Sätzen, die bisweilen nur ein Wort beinhalten, als neue, ergebnisorientierte Erkenntnisse versteht, scheint nicht hinreichend in den esoterischen Anschauungen bewandert zu sein. Ihn mögen die eingeflochtenen Aphorismen und Sinnsprüche dann durchaus auf ein Terrain führen, das vor Lebensweisheit nur so strotzt.

Jeder andere aber, der den Tod nicht als friedvollen Gefährten empfindet; der etwas anderes anstrebt, als die göttliche Unordnung zu festigen, wird in diesem Roman keinen Gesinnungsfreund finden.

LESEPROBE:
"Der Tod, Anna. Niemand ist zugleich stärker und sanfter als er, obwohl er viel von uns verlangt. Er fordert, daß wir UNSERE Träume AUFGEBEN und uns dem SEINEN ÖFFNEN und HINGEBEN. Ich freue mich darauf, bin neugierig, voller Erwartung. Weißt du, ich habe schon viele Menschen sterben sehen. Glücklich waren diejenigen, die das Leben als einen endlichen Gedanken betrachteten, die nicht versuchten, jede Sekunde festzuhalten. Die anderen aber hatten Angst. Ihr Sterben war furchtbar. Sie ließen weder Schuld noch Reue, weder Liebe noch Sehnsucht, weder Freude noch Traurigkeit los. Sogar ihre Einsamkeiten hielten sie fest. Ihre letzten Stunden waren Kampf. Erbarmungslos. Ich bin bereit loszulassen. Nicht heute, nicht morgen, aber bald. Und du, Anna, du weißt es, weil dein Wissen dem Fühlen entspringt. Wenn für mich die Zeit für den neuen Traum gekommen ist, dann laß auch du mich los. Niemand muß den Tod fürchten, denn Tod ist Übergang, Auferstehung, das letzte und tiefste Ja, das von uns Menschen gefordert wird." (Seite 16)


Petra Schmidt-Decker
Die Seherin
Marion von Schröder Verlag, Düsseldorf 1996
283 Seiten
ISBN 3-547-78015-2