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REZENSION/034: F. Rehbein - Das Leben eines Landarbeiters (Historisch) (SB)


Franz Rehbein


Das Leben eines Landarbeiters

Geschichte einmal aus einem anderen Blickwinkel



Wenn Leute von den `guten alten Zeiten' erzählen ...

... dann geraten sie meistens ins Schwärmen. Nicht so Franz Rehbein in seinem Buch `Das Leben eines Landarbeiters'. Er schildert autobiographisch seinen Lebensweg. Detailliert und ohne Verklärung legt er damalige soziale Verhältnisse offen, schildert Armut und Notstände der hart arbeitenden Landbevölkerung und bringt dem Leser seine eigene politische Laufbahn ebenso wie die politischen Verhältnisse allgemein nahe. Man erfährt bei dieser Lektüre viele historische Kleinigkeiten und Nebensächlichkeiten, wie sie nur jemand schildern kann, der sie selbst miterlebt hat, und man fühlt sich wie zurückversetzt in das vergangene Jahrhundert ...


Seine schwere Jugend verbrachte Franz Rehbein in der entbehrungsreichen Zeit der voranschreitenden Industrialisierung, die auch auf dem Lande, auf den großen Höfen, nicht halt machte. Er war anfangs ein einfacher, armer Landbursche, der sich mehr recht als schlecht auf verschiedenen Gütern in Dithmarschen durchschlug. Der geschichtsinteressierte Leser erfährt viel über Arbeitsbedingungen und Wohnverhältnisse der Tagelöhner, die als einfache Knechte in ärmlichen Gesindestuben hausten. Es ist auch die Zeit, in der die beiden großen Dithmarscher Dichter Friedrich Hebbel und Klaus Groth aufwuchsen.

Mancher kennt es noch als Schimpfwort: `Du kommst wohl aus Hinterpommern', was soviel bedeutet wie die modernere Version `Du lebst wohl hinter dem Mond'. Franz Rehbein stammte tatsächlich aus Hinterpommern, und ihm blieb die Verachtung, die man ihm im übrigen Deutschland aufgrund seiner Herkunft zuteil werden ließ, nicht erspart. Viele hielten sein hinterpommersches Plattdeutsch schon für polnisch, und für einen Deutschen konnte es seinerzeit nichts Schlimmeres und Abwertenderes geben, als ihn mit `Pollaksch' zu beschimpfen.

Für Schreiben und Lesen hatte Franz Rehbein bereits in jungen Jahren viel übrig. Aber aus seinem Elternhaus erfuhr er damals keinerlei Unterstützung. Viel zu existenziell war der Kampf der armen Schneidersfamilie. Schon als junger Bursche mußte Franz neben der Schule hart arbeiten, um seinen kleinen Anteil am Lebensunterhalt beizutragen.

So hatte der aufgeweckte Knabe kaum Zeit, sich einer schulischen Ausbildung und schon gar nicht seinem Lieblingshobby, dem Lesen, zu widmen. Nachdem sein Vater früh an Schwindsucht gestorben war, nahm ihn die Mutter mit zur hoffnungslos unterbezahlten Feldarbeit auf dem Gut, um Geld und Nahrungsmittel für ihn und seine Geschwister mitzuverdienen.

Vorher hatte er als Stiefelputzer und Laufbursche im großen Haushalt des Pastors gearbeitet, der ein halbes Dutzend Gymnasialschüler als Pensionsgäste beherbergte. Dort lernte Franz gutes Deutsch. Der Pastor selbst gab ihm Bücher zu lesen, und da Franz so gelehrig war, nahm er sich auch die Zeit, den Inhalt des Gelesenen abzufragen. Es handelte sich dabei um Biographien, Reisebeschreibungen und die Werke der großen Dichter.

Aber Franz zog es in die Welt hinaus, wie man so schön sagt. Er konnte und wollte nicht länger in seiner Heimat verweilen, wo er nicht die geringste Chance hatte, jemals aus Armut und harter Arbeit herauszukommen. Es mag seine Liebe zu Büchern und dem Schreiben gewesen sein, was letztlich den Auslöser dafür gab, in die Ferne zu ziehen. Er war zwar erst 14 Jahre alt, aber sein Entschluß stand fest: Nach Westen sollte die Reise gehen. Dort nämlich, bei den reichen Marschbauern, wo die Armut nicht so groß sein sollte, dort wollte er sein Glück machen.


Westdeutschland

Die Westprovinzen des Deutschen Reiches lockten die ostdeutschen Arbeiter an, weil dort höhere Löhne gezahlt wurden. Und genau dorthin zog es ihn, um durch eigene Hände Arbeit vielleicht einmal zu größerem Wohlstand zu gelangen als Mutter und Vater. Am besten verdienten die Landarbeiter bei den Bauern in der Marsch. Illegal, eigentlich war es nämlich erst mit 16 Jahren erlaubt, in der Fremde sein Geld zu verdienen, landete er zunächst als Hütejunge bei einem holsteinischen Torfbauern und ein halbes Jahr später für zwei Jahre auf einem Gut in der holsteinischen "Grafenecke".

Mit verfilztem Haar und barfuß saß er in der Nähe von Kaltenkirchen an einem Knick und hütete acht Kühe eines Kleinbauern. Er diente als "Lüttjung". Das Gut lag einsam in Feld und Flur, seine Dienstleute hatten jahrelang nichts anderes von der Welt gesehen und waren vom monotonen Alltagstrott so abgestumpft, daß sie nicht einmal Lust zum Sprechen hatten. Nur der freundliche Verwalter, der durch Zufall bemerkt hatte, daß der Lüttjung Franz schreiben konnte, gab ihm hin und wieder etwas zu lesen. So nahm er zum Hüten Bücher und Zeitungen mit auf die Weiden. Von einem Bauern bekam er die Hamburger Tageszeitung, und außerdem konnte er sich Bücher aus dem Dorf leihen. Fritz Reuters Werke und die alte Chronik des Landes Dithmarschen von Neocorus waren seine Lieblingslektüre.

Leider starb der kameradschaftliche Verwalter bald, und sein arroganter Nachfolger traktierte Franz mit einer gewaltigen Ohrfeige, weil er während einer Auseinandersetzung des Großknechtes mit dem neuen Inspektor eine naseweise Bemerkung gemacht hatte. Grund genug für den mittlerweile 16jährigen Franz, zum Herbst zu kündigen und endlich das Ziel seiner Wünsche, die reichen Bauernhöfe an der Küste Dithmarschens, anzusteuern.

Endlich trat eine Änderung in sein bisheriges, tristes Leben. Während der zwei Jahre als Lüttjung auf dem Gut hatte er den Herrn Grafen, seinen Brotgeber, nur wenige Male von Ferne gesehen. Jetzt sollte er seine Dienstherren täglich um sich haben, sollte im Einvernehmen oder Aufbegehren mit ihnen zurechtkommen und lernen, als Knecht seine - wenn auch noch so schwache - Position zu behaupten.

Daß das im Dithmarschen des 19. Jahrhunderts für einen Landarbeiter ein schweres Stück Arbeit war, kann man in Rehbeins Lebenserinnerungen nachlesen. Als wacher Beobachter und später auch politisch engagierter Verfechter der Landarbeiterinteressen entwickelte sich Rehbein vom ahnungslosen "Lüttknecht", der seinem ersten als Geizhals verschrienen Bauern hilflos ausgeliefert war, zum selbstsicheren Großknecht, der handgreiflich mit seinem Dienstherrn rechtete. Auf einem halben Dutzend Marschhöfen lernte Rehbein die Licht- und Schattenseiten seine Dithmarscher Arbeitgeber kennen, und was er nicht am eigenen Leibe erfuhr, das hörte er von den Knechten und Deerns der anderen Höfe. Daß Unterbringung, Verpflegung und oft auch die Behandlung der Dienstleute schlecht waren, galt nicht nur in Dithmarschen als die Regel.

Wenn sich auch die Träume vom reicheren Westen recht schnell als Seifenblasen herausstellten, und die reicheren Marschbauern ihren Gewinnen nicht höhere Löhne folgen ließen, so hielt sich Franz nicht lange mit Enttäuschung über die bestehenden Verhältnisse auf. Zwar hatte er etwas Besseres erwartet, da die Wohlhabenheit der Bauern weit über die Grenzen des Landes hinaus bekannt war. Aber es konnte schon einmal vorkommen, daß einer der reichen Marschbauern beim vormittäglichen Kartenspiel ohne Wimpernzucken den Jahreslohn seines Knechtes verlor. Der Leidtragende war natürlich der Knecht, nicht der Bauer.

Als ihm sein erster Bauer nach einem Jahr harter Arbeit keinen Lohn auszahlte, und der Hoferbe ihn beim Pflügen mit der Peitsche verdrosch, schlug Rehbein zum ersten Mal in seinem Leben zurück, nahm die Mistforke in die Faust, brüllte seinen Dienstherrn die Kündigung ins Gesicht und lief davon. Aber wie auch immer sich der Knecht wehrte, stets gingen seine Auflehnungsversuche zu eigenen Lasten. Schließlich war er auf den Lohn angewiesen, und wenn der Bauer ihm den nicht zahlte, so war der Knecht machtlos. Es gab offenbar nur eine Möglichkeit: sich anzupassen, nicht aufzumucken, in der Hoffnung, daß sich der Großbauer schließlich doch noch dazu herabließ, den lebensnotwendigen Lohn zu zahlen. In jener Zeit gab es noch keine Lobby, die sich für die Rechte der Landarbeiter einsetzte!

So brachte auch die mutige Unbeherrschtheit Rehbeins, sich gegen die offensichtlich ungerechte Methode seines Dienstherrn aufzulehnen, in große Schwierigkeiten, denn der Bauer konnte ihn wegen Vertragsbruches vom Polizisten des Amtes zwangsweise zurückbringen lassen. Und seinen Anspruch auf Lohn hatte er nun vollends verspielt.

Doch da kam die Überraschung. Rehbein fand Rat und praktische Unterstützung beim Kirchspielschreiber und bei seinem neuen Bauern, der ihn sofort in Dienst genommen hatte. Sie gaben ihm den guten Rat, sich vom Gesetzeshüter pro forma zurückbringen zu lassen, dann aber gleich wieder auszukneifen. Der Polizist kam dem jungen Aufrührer sogar soweit entgegen, daß er ihn nicht in aller Öffentlichkeit abführte, sondern in unauffälligem Abstand begleitete und ihm als Sympathiebeweis unterwegs eine Zigarre schenkte. Drei Mark Strafe mußte er allerdings in die Kasse der Kirchspielvogtei zahlen, aber die ließ sein neuer Bauer für ihn springen.

Auch als Großknecht folgten noch einige härtere Auseinandersetzungen, aber Franz Rehbein machte auch gute Erfahrungen mit Dienstherren in Dithmarschen. Derjenige, der ihm nach dem Fiasko beim ersten Bauern aus der Patsche geholfen hatte, sorgte für geregelte Arbeitszeiten und einen guten Umgangston. Die Bäuerin kochte reichlich und schmackhaft, und die Söhne des Bauern vertieften sich abends mit dem Knecht aus Hinterpommern in betriebswirtschaftliche Fragen. So lernte Rehbein über rationelle Wirtschaftsweise, Erntekalkulation, Fütterungskosten, Bodengüte, Witterungseinflüsse und manches andere so viel, daß er selber Einnahmen und Ausgaben eines Hofes in einer Wahrscheinlichkeitsrechnung beurteilen konnte. Fachblätter wurden ihm geliehen, bei deren Lektüre er merkte, daß ein `dummer' Bauer sehr viel mehr wissen muß, als gemeinhin angenommen wird.

Hier tat sich für einen Knecht eine Welt auf, die ihm auf den Gütern und großen Höfen des Ostens verschlossen geblieben wäre. Auch ein anderer Dithmarscher Bauer, in dessen Diensten Rehbein die `dralle Grootdeern' kennenlernte, die seine Frau werden sollte, sah es gern, wenn Franz sich bei ihm Lesestoff holte. Der Bauer war gebildet, hatte eine Bibliothek und erörterte Tagesfragen mit dem Gesinde.

Für Rehbein war es deshalb ein Grund, einen Musterhof in Hedwigenkoog zu verlassen, weil der Bauer es ihm verbot, Zeitung zu lesen. Er verlangte nur, daß seine Leute ihre `Knochen drödig gebrauchten'. Eine Anstrengung des Kopfes, so meinte er, könnten sie sich getrost ersparen.

Rehbein hat zuletzt als Tagelöhner gearbeitet. Nicht nur er, sondern auch die Bauern in Dithmarschen, die die Leibeigenschaft gekannt hatten, bevorzugten vertragliche Bindungen, die beiden Partnern mehr Freiheit einräumten als die Verträge mit dem Gesinde. Er wurde aktiver Vorkämpfer für die Sozialdemokratie. Den Mut zur Auflehnung gegen Unmenschlichkeit fand er in Dithmarschen: "Nicht in der Stadt bin ich zur Sozialdemokratie `betört' oder `terrorisiert' worden, sondern in ländlicher Abgeschiedenheit an einsamer Wasserkante."

Franz Rehbein wäre aus seinen kümmerlichen Verhältnissen wohl nie herausgekommen, wenn ein Schicksalsschlag ihn nicht auf ein neues Gleis gebracht hätte. Als er 28 Jahre alt war, wurde ihm bei der Arbeit an der Dreschmaschine der rechte Arm abgerissen. Was anfangs wie ein schreckliches Verhängnis aussah, erwies sich schließlich als Vorteil, denn nun konnte er nicht weiter als Tagelöhner arbeiten, sondern er mußte in die Stadt ziehen. Dort fing er an, für schleswig-holsteinische SPD-Zeitungen zu arbeiten und war ab 1907 Gewerkschaftsfunktionär in Berlin.


Wer sich in dem Teil der Dithmarscher Geschichte ein wenig schlau machen will, der auch die unangenehmen Seiten nicht ausläßt, hat mit diesem Roman sogar auf unterhaltsame Weise Gelegenheit, sich ein Stück weit mehr mit den Problemen von Armut und Gewalt auseinanderzusetzen als üblich.


Franz Rehbein
Das Leben eines Landarbeiters
Christians Verlag, 1985
Herausgegeben von Urs J. Diederichs u. Holger Rüdel
unveränderter Nachdruck von 1911