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REZENSION/002: Alice Walker - Im Tempel meines Herzens (Ethno) (SB)


Alice Walker


Im Tempel meines Herzens



Der Filmerfolg von "Die Farbe Lila" hat die Amerikanerin Alice Walker zu einer der bekanntesten Vertreterinnen einer Literatur gemacht, die sich das Ziel gesetzt hat, eine Integration des jeweiligen ethnischen Erbes in das gesellschaftliche Umfeld der früheren Kolonisatoren zu betreiben. Ein Unterfangen, das von vorneherein mit dem Problem zu kämpfen hat, daß sich die Leserschaft dieser Literatur vor allem aus den Nachfahren dieser Kolonisatoren zusammensetzt, deren Interesse am Problem ethnischer Entwurzelung vom Schuldbewußtsein über die anhaltende Benachteiligung Farbiger bis zur voyeuristischen Neugier am vermeintlich Primitiv-Exotischen reicht, das aber weniger an den tatsächlichen Problemen Farbiger interessiert ist. Alice Walker meistert diese Klippe jedoch mit der Virtuosität einer mit allen Farben und Spielarten des kultur- und sozialgeschichtlichen Vermächtnisses afroamerikanischer wie weißer Traditionen vertrauten Schriftstellerin, indem sie jedem Leser dieses Publikums Einstiegsmöglichkeiten und Identifikationsmerkmale bereitstellt.

Die Handlungsträger des Romans bewegen sich auf verschlungenen Pfaden durch eine Zeit vom Anfang des Jahrhunderts bis heute, ohne feste chronologische Ordnung und mit einer Vielzahl von teilweise überraschenden Berührungspunkten. Der Handlungsverlauf setzt sich aus Erzählungen und Gesprächen mosaikartig zusammen, womit in moderner Form an die Tradition afrikanischer Geschichtenerzähler angeknüpft werden soll. Die Geschichten handeln von der Vergangenheit der Erzähler und deren nächsten Verwandten, und nicht selten tauchen Personen, von denen schon ausgiebig berichtet wurde, in der Schilderung eines anderen Sprechers überraschend wieder auf und nehmen eine andere Gestalt an. Dieses Flechtwerk von persönlichen Schicksalen und Liebesbeziehungen, von mythischen Visionen der frühesten Menschheitsgeschichte und der blutigen Geschichte von Versklavung und Unterdrückung, vom Leben der Afroamerikaner auf dem Lande und im Milieu des urbanen schwarzen Mittelstands, von der Faszination britischer Kolonialherren an Afrika und den inneren Problemen junger afrikanischer Nationen wird in einem gemächlichen Tempo gesponnen, wie es der indirekten Erzählebene nach Art einer Geschichte in einer Geschichte angemessen ist.

Also kein Werk zum schnellen Konsum, sondern eins, das zur Reflektion über die eigene Rolle als Mann oder Frau, als Schwarzer oder Weißer einlädt. Die vielfältig gebrochene und künstlerisch ausdifferenzierte Konstruktion des Romans geht jedoch zu Lasten der Aktualität von menschlicher Grausamkeit und rassistischer Gewalt, dem wesentlichen Grund für den Bruch in der Geschichte der heutigen Afroamerikaner. Wo die vielfältigen Farben und Töne ferner Dschungel und Savannen lebendig und ausdruckstark gezeichnet sind, wirken gerade die Geschichten über die Sklavenverschleppung oder die alltäglichen Mißhandlung steril und distanziert. In der epischen Breite des Romans stehen diese Schilderungen wie historische Miniaturen da, von der Leuchtkraft des naturfarbenen Ethnoambientes überstrahlt und auf bloße Details eines weitgefächerten Panoramas reduziert. Alice Walker weist den geschilderten Grausamkeiten die Funktion von Stilmitteln einer Dramaturgie zu, bei der es vor allem um die Aufwertung der philosophischen Schlußfolgerungen und der persönlichen Entwicklung der Hauptpersonen geht. Von daher kann es sich die Autorin nicht leisten, auf die Probleme der ausgegrenzten Mehrheit der farbigen Amerikaner einzugehen, die so sehr down to earth sind, daß sie sich schlecht mit den visionären Höhenflügen einer überraumzeitlichen Kontinuität durch die Zeitalter vertragen, wie sie die spirituelle Mutter dieser Geschichte verkörpert.

Die Erinnerungen der 103 Jahre alten Lissie erstrecken sich über viele Leben bis zurück zum Anbeginn der Menschheit und bilden in ihrer Gesamtheit eine große Metapher von der geschändeten und mißhandelten Urmutter und Göttin Afrika, die in Form matriarchalischer Gesellschaftsstrukturen in alle Welt hinausstrahlt. Die Urgeschichte Afrikas soll das Wissen und die Erkenntnisse repräsentieren, die der Kontinent, der bei der Autorin als Wiege der Menschheit und Ausgangspunkt weiblich dominierter archaischer Religiosität den Charakter eines Symbols annimmt, zur Verbesserung der menschlichen Befindlichkeit beisteuern kann. Alle an schwarzen Sklavinnen und anderen Frauen begangenen Grausamkeiten werden vor dem Hintergrund des Mythos von der Urmutter als männliche Rache für die ehemalige weibliche Dominanz und als Negierung der eigenen Mutter gedeutet. In der Geschichte der beiden Paare, deren Beziehungsdramatik den aktuellen Handlungsrahmen des Romans bildet, findet sich dieser Mythos im Gewande moderner Partnerschaftspsychologie wieder ein und führt schließlich zu einem harmonischen Happy End im wohlhabenden Ambiente einer kalifornischen New Age Szenerie.

Wann immer von der leidvollen Geschichte farbiger Menschen die Rede ist, lassen auch die Antworten und Lösungen nicht auf sich warten, um den empfindsamen Leser nicht über Gebühr zu strapazieren. Durch einen gnadenvollen Tod, einen trostspendenden Glauben, eine verklärte Vergangenheit oder hoffnungsvolle Zukunft werden auch die härtesten Prüfungen zu vorübergehenden Episoden eines von Lebensfreude und Liebe erfüllten Daseins. Idealisierungen aller Art sind die große Stärke der Autorin, und sie spart nicht damit, profane Alltagsereignisse und Begegnungen zwischen Menschen zu einzigartigen und außergewöhnlichen Ereignissen zu verklären, um den Akteuren ein unverwechselbares Profil zu verleihen. Am deutlichsten wird dies bei der Unterweisung des in Boston getrennt von seiner Frau Fanny lebenden Suwelo durch Lissie, die Geliebte seines verstorbenen Onkels Rafe. Die langen Gespräche, an denen der andere Lebensgefährte Lissies, der gleichfalls hochbetagte Hal, teilnimmt, haben den Charakter von Lehrgesprächen im Stile Castanedas, nur daß es nicht um die Abgründe der Zauberei, sondern um die visionäre Heraufbeschwörung beispielhafter Szenen aus der Geschichte der Menschheit geht.

Lissie beginnt die Schilderung ihrer vergangenen Leben mit der einzigen friedliche Periode ihrer Erinnerungen, in der Menschen und Tiere in symbiotischer Beziehung zusammenlebten. Auf die gewaltfreie Idylle dieser Zeit sei nur noch das Leid menschlicher Gegenseitigkeit gefolgt, und der Frieden und die Harmonie einer pflanzenverzehrenden Natürlichkeit durchzieht das Buch denn auch als immerwährende Alternative zur von patriarchalischen Zivilisationen induzierten Gewalt und Grausamkeit. Der Frieden regulierter Nutzungsverhältnisse zwischen Mensch und Tier, den Alice Walker als Paradies überquellender Lebensfreude zeichnet, geht zulasten wehrloser pflanzlicher Lebensformen, denen der Schöpfungsplan der Autorin zufolge keinen anderen Zweck zugedacht hat, als bei den Menschen Freude durch Farbe, Geruch und Geschmack auszulösen. Doch auch das Verhältnis zwischen Mensch und Tier in einer solchen Symbiose ist sicherlich nicht nur von paradiesischem Wohlbefinden geprägt, sondern wird von Territorial- und Ressourcenproblemen aller Art bestimmt sein. Die Annahme, die Verhältnisse in einer Welt, wo ein Wesen das andere frißt, wären durch eine vorsichtigere Nutzung der anderen Art einfach zu erledigen, unterschlägt alle Schwierigkeiten sozialer Gegenseitigkeit wie körperlicher Flüchtigkeit.

Die spirituelle Rolle der Tiere als unschuldige, durch menschliches Vergehen an der Schöpfung ungetrübte Wesen findet ihre Fortsetzung in den Seelentieren Lissies, die als Anleihe an sogenannte schamanistische Praktiken eine weitere Facette im bunten Reigen des Ethnokolorits bilden, mit dem die Autorin ihre Geschichten freigiebig illustriert. Dem Löwen als Seelentier ist alles räuberische fremd, ihm ist die Ruhe teuer und der Frieden heilig, und vor allem ist er fair, was immer das für einen Löwen bedeuten mag. In einer anderen gleichnishaften Erinnerung versucht Lissie, ihr Seelentier einzusperren, was sie daraufhin alleine in einer fremden und kalten Welt zurückläßt. Mit derart symbolträchtigen Bildern schließt sich die Autorin den unergiebigen Resultaten ethnologischer Feldforschung an, in der die zauberischen Praktiken sogenannter Tiermagie zumeist tiefenpsychologisch interpretiert werden.

Der Versuch, sich eine vermeintliche Tradition als Identifikationsmerkmal für das eigene ethnische Erbe verfügbar zu machen und es dabei ein weiteres Mal mit dem Deutungsrepertoire der weißen Eroberer zu pervertieren, verdeutlicht nicht nur die Vergeblichkeit einer solchen Aneignungsstrategie, er zeigt auch die Zerstörungskraft einer sich einem weißen Publikum andienenden Literatur auf, die die Auflösung letzter Erinnerungen an die Herkunft vom Rande der Zivilisation betreibt. Wo sich alle Anstrengungen zur Erwirtschaftung einer authentischen Herkunft aus dem Vergleich mit den Attributen weißer Entfremdung ergeben, als da wären Blindheit für die natürliche Schönheit der Welt, körperfeindliche Verhärtung und patriarchalische Gewalttätigkeit, Gefühlsfeindlichkeit und Verherrlichung kalter Technokratie, da bleibt die Frage offen, was denn nun das Genuine und Originäre an Afrika ist. Angesichts dieser Behauptungsbestrebungen drängt sich dem Leser der Eindruck auf, daß sich der rückwärts gewandte Blick auf das afrikanische Erbe nicht aus der Reaktion auf die übermächtige weiße Kultur befreien kann, also bei aller Abgrenzung geradewegs die Anpassung an weiße Werte und Ideale betrieben wird. Da kann das tiefe Schwarz eines archaischen Stammesverständnisses mit allen Ingredienzien blutiger Erdverbundenheit und unversöhnlicher Feindschaft gegenüber dem Fremden nur als dissonanter Ton in Erscheinung treten, als Streitaxt in der satten Opulenz des afrikanischen Gabentischs, an dem sich weißhäutige und weiß denkende Intellektuelle in alter kolonialistischer Manier vergnügen.

Die Afroamerikanerin Alice Walker nimmt das afrikanische Thema lediglich als Adresse für die Wahrheiten eigener Provenienz in Anspruch, eine zeitgemäße Mischung, in der die Vielseitigkeit multikultureller Kultur mit ökologischen, sozialliberalen und psychologistischen Glaubenssätzen gepaart wird. Die Urmutter Afrika symbolisiert die verlorengegangene Seele der Afroamerikaner, und dieser Mythos aus ferner Vergangenheit soll noch in Form einer naturverbundenen Lebensweise und eines unverkrampften Verhältnisses zu Gefühlen, Sexualität und Körper in die Gegenwart hinüberstrahlen. Die vagen Inhalte dieses Sammelsuriums entsprechen jedoch so sehr der New Age-Szenerie, daß die unterstellte mythische Urheberschaft als attraktiv illustriertes Wunschbild einer bereits von dieser Ideologie kontaminierten Autorin in Erscheinung tritt.

Ganz auf der Linie der globalen Inanspruchnahme alles Afrikanischen liegt die Unfähigkeit der Autorin, den Begriff der Zivilisation, der immer, wenn er auftritt, als Synonym für weiße Dekadenz und Wurzellosigkeit Verwendung findet, als grundlegendes Entwicklungsmerkmal über Sippen und Stämme hinausgehender, überregional organisierter Gesellschaftsformen und Reiche zu erkennen, was auch die von Priesterinnen und komplexen Religionssystemen bestimmten matriarchalischen Kulturen beinhaltet. Zumindest in der pauschalen Gegenüberstellung zivilisierter und wilder Lebensformen, die stets vom Standpunkt der Zivilisation her vollzogen wird, kann es sich bei der zur Sachwalterin menschlicher Herkunft hochstilisierten Wildnis nur um ein Produkt zivilisatorischer Ausgrenzungsbestrebungen handeln. Wildnis im Sinne nicht zu zähmender und zu vereinnahmender Gebiete und Wesen kann keine mehr sein, wenn sich der sogenannte Primitive in den Symbolen und Zeichen der Zivilisation verständlich macht und damit in deren Kreis übertritt.

Alice Walker bewegt sich mit der Selbstzufriedenheit einer anerkannten literarischen Institution in den begrifflichen und ideologischen Bastionen nordamerikanischer Wertmaßstäbe, so daß das vielbeschworene Vermächtnis keine andere Chance hat, als in Form musealer Relikte aus der Kolonialzeit oder einer weißen Nordamerikanerin mit einem Faible für karitativ-pädagogische Arbeit in Afrika aufzutreten. Mit moderner afrikanischer Literatur oder den innenpolitischen Probleme einer jungen afrikanischen Demokratie wird nicht anders verfahren, und in der Darstellung Alice Walkers wird deutlich, daß afrikanische Intellektuelle und Politiker kein weniger gebrochenes Verhältnis zu ihrer Vergangenheit haben als Afroamerikaner. Nicht umsonst hat die Elite dieser Staaten häufig eine Erziehung in den Ländern der früheren Kolonialherren hinter sich, und so gelingt der Autorin mit Fannys Reise nach Afrika kein überzeugendes Bindeglied zwischen Ursprung und Diaspora.

In der unter dem Zeichen eines primären Selbstverwirklichungsinteresses stehenden Geschichte der beiden Paare spiegelt sich das vermeintliche ethnische Erbe in der starken Emotionalität, die das Auf und Nieder der Beziehungen begleitet. Nach einer kathartischen Phase, in der jeder seinen Neigungen nachging, können alle vier geläutert und gereift einen Zugewinn verbuchen. Sie haben sich aus den körperlichen Zwängen einer auf Äußerlichkeiten bedachten Gesellschaft befreit und sind zu ungebrochener Liebe fähig, als Maler oder Musiker haben sie ihre Emotionalität verfeinert und sind zu Herolden einer alle Widersprüche integrierenden Ganzheit geworden. Zudem genießen sie alle Vorzüge der amerikanischen Wohlstandsgesellschaft, die als Lebenshintergrund vor allem durch ihre materiellen Errungenschaften in Erscheinung tritt.

Dieses in allen denkbaren Aspekten ausgereizte Happy End gewinnt erst durch die Geschichten von Blut und Tod Kontur, es gründet sich auf der Leidensgeschichte verschleppter Farbiger und dem wohltuenden Gefühl, in der Nische einer liberalen amerikanischen Universitätsstadt und der gesellschaftlichen Position als Künstler oder Akademiker noch einmal davongekommen zu sein. Mit Referenzen an weiße Literaten, Künstler und Musiker, die, wie im Falle Elvis Presleys und Johnny Cashs, als weiße Afrikaner oder Indianer bezeichnet werden, wird auch weiße Kreativität vereinnahmt, um die Insignien des erfolgreichen sozialen Aufstiegs zu rechtfertigen - den Jacuzzi-Whirlpool auf der Terasse, die Segelyacht und die Villa mit Ausblick auf die Golden Gate Bridge. Dazu viel gesundes vegetarisches Essen, Massagen, ätherische Musik und tiefenpsychologische Einsichten, um hohen Wiedererkennungswert für die Elite des neuen Zeitalters zu gewährleisten. Kein Wort vom Überlebenskampf der Schwarzen und Chicanos der urbanen Ghettos, keine Zeile für die Lohnsklaven auf den Baumwollfeldern des Südens oder in den Plantagen Kaliforniens. Armut kommt, wenn überhaupt, eher als sozialer Ausnahmefall oder im Bild einer romantischen ländlichen Idylle vor.

Das Schicksal von Fanny und Suwelo ist da verdaulicher, denn als Akademiker mit Lehrauftrag, die vor den Widersprüchen der Literatur- und Geschichtswissensschaften in einen Job in der Verwaltung der Universität von Berkeley geflüchtet sind, repräsentieren sie mittelständische Lebensverhältnisse mit vertrauten Problemstellungen. Mit der Bedeutung dieser Wissenschaften für Afroamerikaner setzt sich die Autorin kaum auseinander, obwohl es ein dankbares Thema gewesen wäre, sich mit ethnischer Zugehörigkeit in einer nicht so sehr auf Assimilation ausgerichteten Weise zu beschäftigen. Auch der die schönen Künste verkörpernde Musiker Arveyda, ein Kind vieler verschiedener Ethnien und Nationen, kämpft nicht mit den Widrigkeiten der weißen Musikindustrie, sondern fügt sich nahtlos in deren Vermarktungsstrategien ein. Er wird als virtuoser, vom Erfolg verwöhnter Star gezeichnet, der vom harten Schicksal seiner aus Mittelamerika geflohenen Frau und deren Mutter zutiefst betroffen ist. Diesem Gefühl verleiht er in entsprechend emotionalen Musikstücken Ausdruck und wird so als in indianische Federkostüme gewandeter Paradiesvogel seiner Aufgabe als Vereiniger der Welt gerecht, eine Mission, die die von der Wandlungskraft der Kunst überzeugte Autorin allen Künstlern zuschreibt. Die Veränderung der Menschen durch die symbolhafte Gestaltung von Emotionen und Inhalten mutet jedoch kaum als wirksames Mittel angesichts des zunehmenden Leids in aller Welt an. Man könnte den flüchtigen Charakter der mit ästhetischen Effekten arbeitenden Messages auch lapidar damit umschreiben, daß Stimmungen kommen und gehen.

Mit etwas mehr Profil ausgestattet sind die im Buch auftretenden, durchweg sehr alten Verwandten und Freunde der Paare. Es soll gezeigt werden, daß ein Altern in Würde und Weisheit möglich ist, wenn man sich seiner Traditionen besinnt und seinen Idealen treu bleibt. Die Achtung der Eltern und die intensive Aufarbeitung der eigenen und ihrer Vergangenheit wird von Lissie, dem spirituellen Sprachrohr der Autorin, sogar zur Grundbedingung jeder Selbsterkenntnis erhoben.

Solange uns unsere Eltern nicht gegenwärtig sind, solange sie nicht in unser Bewußtsein eingetreten sind, bleibt uns so viel von uns selbst verschlossen. Es ist, als wäre unser Fleisch blind und taub und könnte sich selbst nicht wirklich fühlen. Wir verlassen uns nicht auf die Intuition, wir fürchten den Instinkt. Wir wissen nicht, worauf wir vertrauen sollen, weil uns die Erfahrung fehlt, etwas von uns außerhalb unseres eigenen Körpers vorgeführt zu bekommen. Genau aus diesem Grund tun adoptierte Kinder alles, um ihre richtigen Eltern zu finden. Und was noch wichtiger ist: die Türen zur Urvergangenheit, zum Urselbst, zum Ururstrom des Lebens selbst, bleiben uns verschlossen. (S.410)

Die Bedeutung, die hier der Blutsverwandtschaft zugesprochen wird, unterscheidet sich trotz ihrer spirituellen Ummantelung in nichts von der Behauptung derjenigen Genetiker, das Potential eines Menschen sei im genetischen Code so wesentlich festgelegt, daß sich seine Möglichkeiten zur Lebensgestaltung nur noch innerhalb enger Grenzen bewegen. Alice Walker versucht hier, den traditionellen Ahnenkult mit psychologischen Mitteln zu erklären und landet bei einem Ansatz, der sich auch im Kontext einer rassistischen Vererbungslehre bewähren würde. Die Behauptung, daß die zweifelhafte Effizienz reprojektiver Selbsterkenntnis nur durch die leiblichen Eltern möglich würde, zeigt zudem, daß hier nur ein halber Schritt auf dem Weg zu einem Bewußtsein der Zugehörigkeit und Identität vollzogen wurde, das der Autorin zu archaisch und fremd sein dürfte, als daß sie sich darangewagt hätte. Das Stammes- und Sippenverständnis als urtümlichste Form menschlichen Entwicklungsstands stellt zumindest in den Augen moderner Individualisten ein Zwangskorsett von gesellschaftlicher Festlegung und sozialem Regelwerk dar, daß es auch im Kontext eines Romans, der sich um die eigenen Ursprünge bemüht, als Ausdruck tiefschwarzen Hordenverhaltens im Bereich der ethnischen Tabuzonen verbleibt.

Überhaupt kann man den Eindruck gewinnen, daß sich die ganze thematische und illustrative Vielschichtigkeit des Romans schließlich darin erschöpft, im Kreise weiser alter Menschen die Quintessenz einer universalen Moral überantwortet zu bekommen. Diese im Gegensatz zum herkömmlichen Bild vom 'Senioren' regen und bei aller Abgeklärtheit nicht alt wirkenden Menschen scheinen jedenfalls von dieser Moral profitiert zu haben, und auf diese Weise versieht die Autorin ihre Botschaft mit einer fleischgewordenen Perspektive, für die die Probleme eines verfallenden Körpers mit all seinen Schmerzen und Einschränkungen nicht zu existieren scheint. Doch spätestens bei einem Besuch im adretten und gutgeführten Altenheim, einer Seniorenidylle mit Garantie für terminales Wohlergehen, wird sich auch der gutwilligste Leser fragen, ob der Autorin die Probleme alter Menschen nicht ganz und gar fremd sind.

In das Konzept eines sinn- und freudeerfüllten Lebensabends paßt auch die Verklärung des Todes als ultimative Vervollständigung der eigenen Person, die Fannys Mutter in einem Gespräch über weiße Gewalt und farbige Gegengewalt mit ihrer Tochter beschwört, das unter dem Credo der allesheilenden Macht des Mitgefühls und des Verzeihens steht.

'... Ich bin keine Nationalistin', sagte meine Mutter, 'und Haydeé Santamarias Worte bewegen mich nicht deshalb, weil sie von Menschen spricht, die für ihr Land starben. Nein, ich will dir sagen, was mich daran bewegt: wenn jemand als ganzheitlicher Mensch stirbt, dann geht davon eine große Kraft aus, eine wunderbare Furchtlosigkeit angesichts des Todes, die bei andern umso tiefer empfundene Lebensfreude weckt. Das müssen alle Folterer erfahren, und ich glaube, es ist auch der Grund, warum es die Folter überhaupt gibt. Stell dir vor, du hast schon deine Augen, Brüste oder Hoden verloren und bist ganz diesen Menschen ausgeliefert, die so gebrochen sind, daß ihnen nichts anderes übrigbleibt, als ganz und gar zu sterben, ohne ein Jota Inspiration, Ermutigung oder Stärke zu hinterlassen, und du redest nicht, verrätst nichts, nennst keine Namen, leckst ihre Stiefel nicht, nimmst ihr Gold nicht, tust nicht, was immer sie von dir wollen. Und noch wenn sie dich brechen und du ihnen die Stiefel leckst, weißt du, wie krank sie sind, daß sie es nötig haben, sich die Stiefel lecken zu lassen. Du siehst sie als Kinder, als kleine Kinder, die niemand vor dem Erwachsenen beschützt, der sie zwang, ihm die Stiefel zu lecken. Die niemand genügend liebte und denen ein Gefühl der Sicherheit zu geben niemand die Kraft aufbrachte. Wenn du einem Menschen die Zunge herausreißt, hast du für den Rest deines Lebens eine Zunge in der Hand. Und für alles, was dieser Mensch vielleicht noch hätte sagen können, stehst du ein. Die Folterer, die das begreifen, sind diejenigen, die sich ändern. Es gibt welche, die sich ändern.' (S.360/361)

Die entwicklungspsychologische Deutung der Triebkräfte des Folterers ist bezeichnend für die abgehobene Sichtweise der Autorin. Ausschließlich auf die soziale Resonanz existenzieller Ereignisse bedacht ist nicht von den Folteropfern selbst, sondern von ihrer vermeintlichen Hinterlassenschaft die Rede, und die ausgelöste Lebensfreude gründet sich wohl eher auf die Erleichterung darüber, nicht selber betroffen zu sein. Zumindest angesichts einer Ideologie der Versöhnung mit dem übermächtigen Gegner und einer Besinnung auf den projektiven Charakter von Gewaltphantasien mutet eine derartige Interpretation mehr als zynisch an. Es ist kaum anzunehmen, daß es einem unter der Folter stehenden Menschen ein Trost ist, daß sein Peiniger moralischen Langzeitfolgen ausgesetzt sein wird und daß er sich womöglich ändert, als ob das Foltern eine Charaktereigenschaft sei und es keine handfesteren Gründe für ihre Anwendung gebe. Zudem stellt sich die Autorin mit leichter Handbewegung über die Mehrzahl der Menschen, die einer Folter nicht standgehalten haben, ohne ermessen zu können, was in einem Menschen in dieser Situation vorgeht.

Von den jungen Handlungsträgern ist Fanny diejenige, die sich am umfassendsten mit rassistischer Unterdrückung beschäftigt. Das Verhältnis der Afroamerikaner zu Weißen kennzeichnet sie in einem Gespräch mit ihrem Vater, einem afrikanischen Politiker, der für die Befreiung seines Landes gegen Weiße gekämpft hat, anhand der Angst, die Weißen zu verstehen, da man nicht wisse, was passieren würde, wenn man diese Angst an sich heranließe. In derart verklausulierten Andeutungen und langatmigen Dialogen kommt Fanny immer wieder auf die Angst vor der eigenen Gewalttätigkeit zu sprechen, und es wird klar, daß sie sich vor allem von den Auswirkungen ihrer Beschäftigung mit schwarzer Geschichte belästigt fühlt. Sie beklagt eine Befindlichkeit, für die sie nichts kann und die sich in kaum mehr zu zügelnden Mordphantasien äußert, was schließlich in eine psychotherapeutische Behandlung mündet, in der die unerwünschten Auswüchse einer streitbaren Vitalität gebändigt werden. Erfolgreich befriedet durch das Instrumentarium der Kolonisatoren kann sie sich ganz ihrer neuen Beschäftigung als Bodyworkerin hingeben, in der sie durch besonders sensitive Handhabung glänzt.

Fannys Großmutter Celie schließlich ergänzt das durch mythische und menschheitsgeschichtliche Visionen bestimmte spirituelle Vermächtnis Lissies durch die religiöse Dimension eines Evangeliums, daß sie für ihre kleine "Band", eine von schwarzen Frauen gegründete Splitterkirche, niedergeschrieben hat. Obwohl von einer alten Frau aus den Südstaaten begründet weist das "Evangelium nach Shug" in Wortlaut und Botschaft alle Anzeichen eines Katechismus für New Age-Adepten auf. Von Mutter Erde ist die Rede, dem Kreislauf der Energie, allesübergreifender Harmonie, der Gleichbehandlung von Homosexuellen, und all das unterlegt vom Tenor des Friedens und der Nächstenliebe.

Für das seelische Wohl des Lesers ist also überreichlich gesorgt, und die gutbürgerlichen und wohlgenährten Verhältnisse der meisten Szenarios lassen auch die körperlichen Belange nicht zu kurz kommen. Kein Platz für die Bitterkeit und Aggressivität afroamerikanischer Großstadtkultur, die, folgt man der Philosphie der Autorin, vor allem aus männlicher Neigung zur Gewalttätigkeit und blindem Zorn resultiert. Alice Walker symbolisiert die vermittlungsbereite Schwarze, die nicht gegen Weiße an sich, sondern gegen Rassismus und Habgier ist, die den eigenen Rassismus kritisch reflektiert und die sich ihre Stellung als anerkannte Literatin so verdient erarbeitet hat.

Den Anspruch einer Besinnung auf die ethnischen Wurzeln kann man daher getrost als Etikett für eine vorwiegend weiße Leserschaft verstehen, da die Autorin auf den Spuren der afrikanischen Vergangenheit immer fest im Sattel der früheren Kolonisatoren bleibt. Zur Bewertung schwarzer und weißer Kultur konstruiert sie diametrale Gegensätze , die sich dann mehr als Verwandtschaft äußern denn als tatsächliche Unterschiede, da sie als einander ergänzende Polaritäten vor dem Hintergrund einer egalisierenden Ganzheitsideologie angelegt sind. Der Preis für die Harmonie der Völker und Rassen besteht im Ausschluß aller Positionen, die sich nicht von den früheren Okkupanten vereinnahmen lassen wollen und Wert auf eine eigene, den vermeintlichen Hilfsangeboten gegenüber unversöhnliche Entwicklung legen. Wie wenig zum Beispiel die Nation of Islam auch immer mit Afrika zu tun haben mag, so kommt man bei diesem Thema kaum an der wachsenden Radikalisierung der Afroamerikaner und an der Besinnung auf eine Geschichte, die an den Schulen nicht unterrichtet wird, vorbei.

Zumindest vor dem Hintergrund einer menschheitsgeschichtlichen Dimension muß sich die Autorin fragen lassen, warum sie die ideologischen Axiome der amerikanischen Gesellschaft, der sie entstammt, nicht in Frage gestellt hat, insbesondere wenn sie sich auf Lebensformen aus der Vorgeschichte der Menschheit bezieht, denen die Verfügungsachsen überregionaler Ordnungsstrukturen mit Sicherheit fremd waren. Immer wieder betont Alice Walker die Wichtigkeit des persönlichen Gesprächs, nur um mit Fannys Vater schließlich die Notwendigkeit einer Weltsprache zu propagieren. Jede naheliegende menschliche Ausdrucksform wird mit dem Anspruch einer allgemein verwert- und verfügbaren Institution versehen, womit das Feld für den sogenannten Überbau der darüber wachenden Spezialisten eröffnet wäre, die analysieren und normieren, um zu kontrollieren. Die verschiedenen gesellschaftlichen Epochen Afrikas werden in Begriffen der Anthropologie und Ethnologie gespiegelt, und auch die Bevorzugung einer feministischen Sicht der Dinge ändert nichts an der Inanspruchnahme einer christlich- abendländischen und in diesem Sinne auch patriarchalisch fundierten Wissenschaft. Die New Age-Ideologie kann keine Alternative darstellen, da sie die bewährten Erkenntnis- und Ordnungsprinzipien übernimmt und bestenfalls neu arrangiert.

Der mit dieser Version afroamerikanischer Integration zufriedene Leser kann sich bei der Lektüre also dem wohltuende Gefühl hingeben, seinen Horizont erweitern zu können, ohne vertrautes Terrain verlassen zu müssen. Die Verpackung ist so schwarz, wie der Inhalt farblos ist, und die Antworten und Lösungen so billig, wie ein die eigene Teilhaberschaft einbeziehendes Bemühen um die Probleme der Schwestern und Brüder offensichtlich teuer ist.

Auf jeden Fall berührt das Buch nicht den administrativ gedeckten Übergriff auf Personen oder Gruppen, die ethnische Eigenständigkeit nicht als einen weiteren Farbton in der Palette multikultureller Angleichung verstehen, sich nicht dem Konsens individualistischer Vereinzelung anpassen und die nicht die Substrate der ungebrochenen jahrhundertealten Okkupation übernehmen wollen. Für sie stellt sich die Gerechtigkeit der Eroberer dar als Prädikat einer nach verallgemeinernden und überpersönlichen Kriterien verurteilenden Gewalt, ihr Frieden als Ausdruck der vollzogenen Unterwerfung und ihr monotheistischer Gott als Zerstörer eines unmittelbareren Kontakts mit den Kräften und Wirkungen, die ihr Leben durchdringen.


Alice Walker
Im Tempel meines Herzens