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BUCHBESPRECHUNG/087: B. Blobel - Zwischen Bagdad und nirgendwo (Jugendbuch) (SB)


Brigitte Blobel


Zwischen Bagdad und nirgendwo



Said, Sohn eines sunnitischen Arztes in Bagdad, erlebt in seiner Familie die erdrückende Allgegenwart des Krieges. Als Saids Mutter, die ihn zur Schule fährt, gewissermaßen vor seinen Augen einem Bombenanschlag zum Opfer fällt und nur wenige Wochen darauf sein Vater von zwei Schiiten auf offener Straße erschossen wird, ändern sich die Lebensumstände des ohnehin schwer traumatisierten Jungen radikal. Nur noch ein Schatten seiner selbst und ohne ein Wort Deutsch sprechen zu können, wird Said zu seinem Onkel Bassam nach Berlin geschickt, einem Kaufmann mit deutscher Staatsangehörigkeit, um fortan bei ihm und seiner deutschen Ehefrau Sonja zu leben.

Lena, die vierzehnjährige Tochter einer Stewardeß und eines Programmierers, leidet sehr unter der Scheidung ihrer Eltern. Die Situation, festlegen zu müssen, bei wem von beiden sie leben möchte, fällt ihr unsagbar schwer. Eher einer spontanen Eingebung folgend entscheidet sie sich schließlich für ihren Vater und geht mit ihm nach Berlin. Dort begegnet sie in ihrer neuen Schule einem weiteren neuen Schüler, einem Jungen aus dem Irak, der kein Wort Deutsch spricht: Said.

Keine Frage, die Geschichte von Said, die Brigitte Blobel gekonnt mit der von Lena verknüpft, geht nahe. Dabei sind es vor allem die Berliner Alltagsszenen, die besonders authentisch wirken und nachvollziehbar machen, wie isoliert und unendlich einsam sich ein Waisenjunge wie Said in einer deutschen Großstadt fühlen muß. Zum Beispiel am ersten Tag in seiner neuen Schulklasse:

"Was ist dir eben aufgefallen, als unser neuer Klassenkamerad Said seinen Namen an die Tafel geschrieben hat?" Noah grinst.

"Sieht komisch aus, wie Kinderkrakel. Irgendwie behindert."
(S. 128)

Oder in der Cafeteria der Schule:

Er blickt auf den braunhäutigen, schwarzhaarigen Jungen. "Ich versteh nicht", murmelt er. "Du sprechen Arabisch?"

"Ich sprech Türkisch, du Scheißkerl! Ihr verdammten Araber seid das Letzte!"

"Lasst ihn in Ruhe!", ruft Lena. "Said hat doch überhaupt nichts gemacht, du Idiot!"
(S. 214)

Oder auf der Party von Lenas neuer Freundin:

"Wo ist die Party?", fragt Said. "Hier?"

"Ja, klar", brummt Moritz, "aber du bist nicht eingeladen. Du hast was gegen einen schönen, guten, alten Joint. Verpiss dich." Er gibt Said einen Klaps. "Dattelfresser sind nicht eingeladen."
(S. 288)

Daß ein Teenager wie Lena, die selbst zuhause kaum Rückhalt findet, durch Saids Probleme völlig überfordert ist, liegt auf der Hand. Mit den Verhältnissen in Lenas Berliner Multikulti-Schulklasse, ihrem mit einer neuen Beziehung beschäftigten Vater und der aus Berufsgründen oft unerreichbaren Mutter spricht die Autorin neben der Ausländerproblematik und ohne moralischen Zeigefinger eine Reihe gesellschaftlicher Mißstände an, die wiederum dazu beitragen, daß niemand Saids existenzielle Notlage wirklich wahrnimmt.

In selbst für den erwachsenen Leser dieses Jugendromans bedrängender Konsequenz läßt Brigitte Blobel nach und nach alle Versuche des Jungen, irgendwo Halt zu finden, an beinah grausam banalen Umständen und Verhaltensweisen seines sozialen Umfelds scheitern. Schließlich befindet sich Said an einem Punkt, den sicher jeder fürchtet und mit allen Mitteln zu vermeiden sucht: Ihm wird klar, daß er, allein in einem fremden Land mit einer fremden Sprache und fremden Regeln, von ausnahmslos allen, an die er sich in seiner Verzweiflung wendet, nur Zurückweisung, Ablehnung, Spott, Verachtung und Demütigung erwarten kann. Selbst die Perspektive auf eine Rückkehr in den Irak wird ihm von seinem Onkel genommen. Daß der Junge an dieser Stelle ins Tablettenschränkchen seiner Tante greift, ist menschlich absolut nachvollziehbar.

Vielleicht, um ihren vorwiegend jugendlichen Lesern nicht zuviel zuzumuten, verabschiedet sich die Autorin an genau dieser Stelle des Romans vollständig von ihrer authentischen Erzählweise. Nach Saids Einlieferung in eine Berliner Klinik und seiner Rettung durch die dortigen Ärzte geht über dem Jungen ein wahrer Regen an Liebe und Zuwendung nieder. Wie weggewischt erscheint die Tatsache, daß Lena seine ständige Unsicherheit auf die Nerven gefallen ist, wie fortgespült ist auf einmal das Kaufmannsdenken des Onkels, der dem Jungen vorgerechnet hat, wieviel er ihn jeden Monat kostet. Schon aufgrund der tränenreichen Entschuldigungen und bitteren Reue des Onkels und der zarten Liebesbeweise von seiten Lenas riskiert die Autorin zugunsten des Roman-Happy-Ends, auf gefährliche Weise mißverstanden zu werden: Einmal kurz Hand ans eigene Leben gelegt und schon erfüllt sich im Übermaß, was man vorher selbst durch größte Bemühungen nicht erreichen konnte!

Unmißverständlicher und der vorausgegangenen Romanhandlung angemessener wäre vielleicht ein Schluß gewesen, der, nur mit größtem Bedacht gesüßt, zu der Überlegung anregt, wie ein gesellschaftliches Zusammenleben aussehen könnte, das Menschen wie Said (und den Tausenden, die sich hierzulande alljährlich das Leben nehmen) einen echten Rückhalt böte.

Dennoch, die Art und Weise, wie Brigitte Blobel sich in ihrem Roman der Ausländer- und in diesem Falle besonders der Araberfeindlichkeit annimmt, ist anerkennenswert. Schade, daß sie sich im Zusammenhang mit den Kämpfen in Bagdad fast ausschließlich der üblich-schwammigen Medien-Terminologie bedient und von "Terroristen" (S. 26) oder einen "Terrorwahnsinn" (S. 31) schreibt, statt die Zusammenhänge klarer darzustellen. Sie bedient sich dabei aus demselben Topf ungeklärter Begriffe, aus dem auch Äußerungen wie "Ihr verdammten Araber seid das Letzte!" stammen und der von zwielichtigen Meinungsmachern gern herumgereicht wird. Hier schöpft Brigitte Blobel ihre Möglichkeiten als Autorin nicht ganz aus, durch eine präzise und kritische Verwendung von Begriffen das Verbreiten von Vorurteilen, Gerüchten und diskriminierenden Klischees so weit als nur möglich zu erschweren.

30. Mai 2008


Brigitte Blobel
Zwischen Bagdad und nirgendwo
314 Seiten
2007 cbj Verlag, München
ISBN : 978-3-570-12955-5