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BUCHBESPRECHUNG/086: Khaled Hosseini - Drachenläufer (Afghanistan) (SB)


Khaled Hosseini


Drachenläufer



Überläufer?

Amir, der Sohn eines wohlhabenden Paschtunen im Kabul der siebziger Jahre, läßt seinen Freund Hassan, einen Hazara-Jungen und Sohn des Dieners in seinem Elternhaus, in einer demütigenden Gewaltsituation schmählich im Stich. "An einem eiskalten, bedeckten Wintertag des Jahres 1975 wurde ich - im Alter von zwölf Jahren - zu dem, der ich heute bin." (S. 7) Über diesem Verrat scheint die Freundschaft der beiden Jungen zu zerbrechen. Schließlich verlieren sie einander aus den Augen, als Amir mit seinem Vater aus politischen Gründen das Land Richtung USA verläßt. Als gut integriertes Einwandererkind absolviert Amir dort Highschool und College, um sich dann seinem Wunschberuf, der Schriftstellerei, zu widmen. Doch wie ein Schatten liegt der Verrat aus der Kindheit auf seinem Leben:

Viel Zeit ist inzwischen vergangen, aber das, was man über die Vergangenheit sagt, dass man sie begraben kann, stimmt nicht. So viel weiß ich nun. Die Vergangenheit wühlt sich mit ihren Krallen immer wieder hervor."
(S. 7)

Der Anruf eines nahen Verwandten ist es schließlich, der Amir auf die Möglichkeit hinweist, seinen Verrat an dem inzwischen ermordeten Freund wieder gutzumachen. Es geht darum, Hassans Sohn zu helfen, der unter denkbar schlechten Bedingungen in einem Waisenhaus in Kabul untergebracht sein soll.


*


Wenn ein Paschtune wie Amir, der Protagonist des vorliegenden Romans, versucht, die Standhaftigkeit, die seine Herkunft ihm auferlegt, gegen den "American Way of Life" auszutauschen, verliert er dabei fast zwangsläufig den Halt. Denn die Lebensweise der Paschtunen, die das Überleben des ehemaligen Nomadenvolks in der rauhen Gebirgswelt Afghanistans sichert, ist mit der Lebensweise der Durchschnittsamerikaner, die eher auf das Überleben des Einzelnen in einer inzwischen hochzivilisierten Umwelt abgestimmt ist, kaum in Einklang zu bringen. Daher ist es absehbar, daß Amir, der ohnehin eher zum Opportunismus denn zu klaren Stellungnahmen neigt, mehr und mehr von seiner neuen us-amerikanischen Umgebung absorbiert wird.

Von Kindheit an gehören Amirs Liebe und Bewunderung ganz seinem Vater "Baba", der als stolzer Paschtune selbst für die Ehre einer ihm völlig unbekannten paschtunischen Frau ohne Zögern sein Leben einsetzt. Obwohl Baba moslemischen Glaubens ist, ist er jedoch einem guten Whiskey nie abgeneigt und auch sonst ein Charakter, bei dem einem die Bezeichnung "fromm" wohl zuallerletzt einfällt.

Amir, der sich gegenüber Baba, der ihm schier unfehlbar erscheint, stets als Versager empfindet, nimmt in gänzlich unpaschtunisch anmutender Selbstentblößung offen für sich in Anspruch, feige zu sein. Ob es um den Verrat an Amirs Freund Hassan geht, um das spätere Zusammentreffen mit dessen sadistischem Widersacher Assef, um Amirs Rückkehr nach Kabul oder sein gebrochenes Versprechen gegenüber Hassans Sohn Suhrab - Autor Hosseini läßt seinen Protagonisten bis zum Ende des Romans agieren, als ob das Bekenntnis zu Feigheit und Egoismus eine höhere Form des Mutes wäre.

Khaled Hosseini, der selbst als elfjähriger Junge mit seinen Eltern Afghanistan verließ, baut in seinem Roman keine Brücke des Verständnisses zwischen den Vereinigten Staaten und Afghanistan, wie es für manchen Leser vielleicht den Anschein hat. Stattdessen leistet er, fraglos auf unterhaltsame Weise, seinen Beitrag, die Probleme dieses geschundenen Landes in den Vorurteilsschubladen des us- amerikanophilen Westens zu verstauen. Hier einige seiner Reproduktionen gängiger Vorurteile:

Baba, zweifellos ein Sympathieträger des vorliegenden Romans, äußert sich folgendermaßen über afghanische Mullahs:

Baba vollführte eine Geste mit seinem Glas. Das Eis klirrte. "Ich meine damit alle. Man sollte auf die Bärte dieser ganzen selbstgerechten Affen pinkeln." [...] Sie tun nichts anderes, als ihre Gebetsperlen zu befingern und aus einem Buch aufzusagen, das in einer Sprache geschrieben ist, die sie nicht einmal verstehen." Er nahm einen Schluck. "Gott stehe uns bei, sollte Afghanistan jemals in ihre Hände fallen."
(S. 24)

Hier wird der im Westen fast schon inflationäre Gebrauch des Pädophilie-Vorwurfs vom Autor eingesetzt, um einen Taliban als besonders verabscheuungswürdige Kreatur zu charakterisieren:

"Bia, bia, mein Junge", sagte der Talib und rief Suhrab zu sich. Der Junge kam mit gesenktem Kopf: Der Talib legte die Arme um ihn und zog ihn zwischen seine Schenkel. "Nay, wie talentiert er ist, mein Hazara-Junge!" feixte er und streichelte den Rücken des Jungen, betatschte ihn.
(S. 292)

Auch die Sowjets als ehemalige Erzfeinde der US-Amerikaner werden als Besatzer von Kabul auf genau jene Weise beschrieben, wie Kommunisten in den USA üblicherweise dargestellt werden:

Die 'rafiqs', die Genossen, waren überall, und sie hatten Kabul in zwei Gruppen gespalten: die, die heimlich lauschten, und die, die es nicht taten. (...) Selbst am Abendbrottisch, im eigenen Heim, konnten die Menschen nicht einfach so drauflosreden - die 'rafiqs' waren auch in den Klassenzimmern; sie hatten den Kindern beigebracht, ihre Eltern auszuspionieren: worauf es zu hören galt, wem man es sagen sollte.
(S. 123/24)

Oder auch, ebenfalls über die Sowjets:

Das war nicht besonders überraschend; man wusste schließlich, dass die Kommunisten keinen Stil haben. Die kamen ja aus armen, namenlosen Familien. (...) Sie trugen Parchami-Abzeichen am Kragen, faselten was vom Fall der Bourgeoisie und führten sich genau so auf, wie man es erwarten muss von Leuten, die einfach keinen Stil haben. Ähnliche Szenen haben sich überall abgespielt: Die Reichen wurden festgenommen und ins Gefängnis geworfen. Wir sollten für die Genossen als abschreckendes Beispiel herhalten.
(S. 294)

Vor allem das folgende Beispiel belegt, wie weit sich Hosseini an das amerikanische Denken und Empfinden angepaßt haben muß. Denn die traumatischen Erfahrungen der US-Army im Zweiten Weltkrieg finden bis heute quer durch die Unterhaltungsgenres ihren Ausdruck darin, daß das wirklich und wahrhaftig Böse oft durch einen deutschen Nazi verkörpert wird oder zumindest einen deutschen Namen trägt. So zeigt besagtes Böse denn auch in Hosseinis Roman vorurteilsgetreu sein Gesicht, als Amir das Geburtstagsgeschenk von Assef, einem Deutsch-Afghanen und späteren Taliban-Führer, auspackt:

Ich riss das Papier von Assefs Geschenk auf und hielt den Titel ins Mondlicht. Es war ein Buch über Hitler.
(S. 107)

Über die Bombenabwürfe der USA in Afghanistan, die bereits zu Zeiten der Veröffentlichung von Hosseinis Roman zahllose Afghanen töteten und verwundeten, ob Männer, Frauen oder Kinder, verliert Hosseinis Protagonist nur ein paar Sätze, die stark nach US-Kriegspropaganda klingen:

Bald darauf wurde Afghanistan von Amerika bombardiert. Truppen der Nordallianz rückten ein, und die Taliban verkrochen sich wie Ratten in ihren Höhlen.
(S. 367/68)

Offenkundig folgt Hosseini in diesem Roman einem Trend, der sich auch in Doku-Soaps und sensationslüstern aufbereiteten Nachrichtensendungen niederschlägt: über die Unterhaltungsschiene Meinungsmache zu betreiben, Emotionen zu wecken und mithilfe penetranter Wiederholungen der Definition von Gut und Böse jenes Phantom zu nähren, das sich, Neudeutsch für ehemals "Volksempfinden", auch hierzulande inzwischen "Mainstream" nennt.

Wer diesen "Mainstream" bedient, wird vom Medienmachtapparat entsprechend gefördert, wer ihm entgegenarbeitet, verschwindet alsbald in der Versenkung. Einem Autor wie Khaled Hosseini ist daher eine große Zukunft als Bestseller-Autor gewiß, wie auch die Verfilmung von "Drachenläufer" und sein nächster Roman "Tausend strahlende Sonnen" bestätigen.

Bliebe noch zu erwähnen, daß die autobiographische Gestaltung des Romans, die aufwühlende Beschreibung der Schicksale der Hauptakteure und das vorgebliche Eröffnen eines Einblicks in die paschtunische Lebensweise gekonnt eine Schein-Authentizität vermitteln, der sich der Leser nur schwer entziehen kann und für die dem Autor, auch als Apologet der us-imperialen Weltsicht, rein handwerklich Respekt gebührt.

4. April 2008

Khaled Hosseini
Drachenläufer
376 Seiten
Berliner Taschenbuch Verlag, Dezember 2007

Die Originalausgabe erschien 2003 unter dem Titel
"The Kite Runner" bei Riverhead, New York


ISBN 978-3-8333-0562-7