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BUCHBESPRECHUNG/072: D. v. Cauwelaert - Un aller simple (Französisch) (SB)


Didier van Cauwelaert


Un aller simple



J'ai commencé dans la vie comme enfant trouvé par erreur. Volé avec la voiture, en fait. J'était garé sur les clous et, pendant les années qui ont suivi, Mamita, quand je ne finissais pas mon assiette, disait que la fourrière allait venir me chercher. Alors je mangeais trop vite et après je rendais tout, mais dans un sens c'était mieux; ça m'évitait de prendre du poids. J'étais l'adopté, je restait à ma place. (Seite 3)

Aus einem brennenden Wagen geborgen, wächst der Ich-Erzähler Aziz bei Zigeunern in Marseille auf. Seine Herkunft bleibt im Dunkeln, auch wird er nicht vollständig in die Familie aufgenommen, sondern bleibt am Rand und doppelt in der Fremde, da die Zigeuner selbst am Rand der französischen Gesellschaft stehen. Als er alt genug ist, um Kontrollen zu befürchten, besorgt man ihm einen falschen Paß. Der eher durch einen Zufall entstandene Name Aziz, führt zum wiederum beliebig gewählten Familiennamen Kemal und zur Nationalität Marokkaner. Die einzige Heimat, die er - wenn überhaupt - kennt, ist jedoch Frankreich. Er geht gern und mit Erfolg zur Schule, muß sie aber als Elfjähriger verlassen, um zum Unterhalt beizutragen: Schmiere stehen, Autos ausschlachten. Sein Geographielehrer schenkt ihm zum Abschied das Buch Légendes du monde, das ihn mit seinen Legenden und Geschichten begleitet, ihn träumen läßt und ihm schließlich sogar auf gewisse Weise aus der Klemme hilft. Von der knapp geduldeten Hochzeit mit seiner lang geliebten Lila wird er durch eine Intrige vom Fleck weg verhaftet und soll im Rahmen der Bemühungen der Regierung, menschenfreundliche und effektive Maßnahmen gegen illegale Immigration vorzuweisen, nach Marokko abgeschoben werden - unterstützt von einem amtlichen "humanitären" Begleiter, den gleichfalls eine Intrige für diese Aufgabe prädestiniert.

Les Manouches n'ont vraiment rien fait pour me retenir. Matéo a même envoyé une baffe à Lila qui gueulait "Aziz!". Le patron Marchelli, l'air habitué, genre tout va bien, comptait les taches sur le verre qu'il essuyait. (Seite 35-36)
Lila est sortie derrière son frère, sans avoir ouvert la bouche. Il le lui avait interdit, je comprenais bien, mais elle aurait pu me dire adieu avec les yeux; on s'était connu quand même longtemps. J'avais le coeur en morceaux. Voilà que j'avais hâte d'être loin, tiens, de retourner d'ou je ne venais pas, pour connaître du neuf: Vallon-Fleuri et les Tsiganes, c'était fini pour moi, ... (Seite 62)

Dies sind knapp gesagt die Voraussetzungen, die der Autor seinem Protagonisten mitgibt, die fantastische Geschichte um einen geheimnisumwobenen Herkunftsort in die Welt zu setzen, denn das im Paß angegebene Irghiz gibt es gar nicht. Aziz ist nun in jeder Hinsicht ein Heimatloser, und so entsteht für einen kurzen Moment so etwas wie eine Auszeit, ein freier Raum, in dem alles möglich zu sein scheint, zudem er sich für diesen Moment um die materielle Seite keine Sorgen machen muß. Sein Begleiter, Jean-Pierre, ist der Situation aus verschiedenen Gründen so wenig gewachsen, daß Aziz mit Hilfe einer jungen ortskundigen Französin, der er sich anvertraut, das Heft schließlich ganz in die Hand nimmt und ihn an der Nase herum in den marokkanischen Atlas führt.

..., j'ai repensé si fort à mon atlas perdu, mon cadeau de départ, que je me suis mis à raconter, malgré moi. Les mots tombaient lentement, à contrecoeur d'abord, et puis petit à petit je prenais de l'assurance. C'était la légende des hommes gris, au chapitre 12, qui vivaient dans une vallée complètement secrète, sans routes et sans progrès, un paradis de verdure avec des fleurs préhistoriques continuant de pousser à l'abri des montagnes pelées que voyait le touriste qui ne se doutait pas, car les hommes gris se transmettaient leur vallée de génération en génération en jurant le secret; ... (Seite 81)

Im Gegensatz zu dem Beamten des französischen Außenministeriums hat Aziz früh gelernt, von sich abzusehen. Auch, wenn er als Träumer erscheinen mag, weil er, um nicht aufzufliegen, eine fantastische Geschichte nach der anderen nachlegt, hat er eine klare Sicht der Dinge und Überlebensinstinkt. Er macht sich keine Illusionen. Daß er dennoch ein Herz für andere hat und sie entsprechend berücksichtigt, macht ihn sympathisch. Da das Buch in der Ich-Perspektive geschrieben ist, fällt die Identifikation dann auch nicht schwer. Jean-Pierre hingegen ist eine durch und durch traurige und wenig ansprechende Gestalt. Er hat sich auf's Jammern und Selbstmitleid verlegt und eine starke Neigung, die Realität zu verkennen. Aus seiner eigenen desolaten psychischen Lage heraus stürzt er sich auf Aziz' Geschichte wie auf den sprichwörtlichen Strohhalm und will sogar ein Buch darüber schreiben. Sie anzuzweifeln kommt ihm nicht in den Sinn.

Ein stilistisch wie psychologisch schön und zugewandt geschriebenes Buch, einfach und verständlich für den Leser. Dabei ist es wenig sinnvoll zu überlegen, was an der Handlung nun wahrscheinlich ist und was nicht. Interessant sind die Charaktere und wie sie sich in den Umständen, in die sie geworfen sind oder die sie sich selbst geschaffen haben, bewegen. Den Personen und ihren Beweggründen wird viel Raum gegeben und damit auch dem Leser, sich einzudenken. Das Ende bleibt in der Schwebe. Es gibt keine Lösung, doch Möglichkeiten entstehen, und es gibt Probleme, mit denen sich die Protagonisten weiter auseinandersetzen müssen. Aziz hat zwar eine Familie gefunden, bleibt jedoch der Außenstehende, der mit dem Überblick. Er schont die Eltern, aber auch sich, indem er auch ihnen ein Märchen auftischt. Er schreibt Jean-Pierres Geschichte und sein Leben scheint zunächst in Bahnen gelenkt.

Ça m'a paru important de faire exister Jean-Pierre dans mes yeux, de décrire notre rencontre avec mes mots à moi, pour que les gens se rendent compte. Et c'est ainsi que je me retrouve assis dix heures par jour, à son bureau d'enfant, devant la fenêtre, cherchant les mots dans le pommier. Mon récit commence à la page 7, pour me donner du courage, comme si j'en avais déjà écrit six. L'action débute a Marseille-Nord. Mes pieds trop grands dans ses pantouffles, les doigts serrés sur le stylo mordillé par ses dents, je raconte ma vie pour lui faire une préface. (Seite 196)

Nach Büchern wie Les enfants du siècle und Le thé au harem d'Archi Ahmed, die gern als Schulstoff verwendet wurden und deren Wert man möglicherweise erst später erkennt, ist dies Werk gut gewählt. Es ist insofern ein Produkt des Zeitgeistes, als der Protagonist mehr oder weniger auf sich gestellt, als Einzelner dargestellt wird, während in den beiden anderen das Umfeld mehr Beachtung findet - alle drei sind - zwar nicht zwingend aus der Ich-, so doch aus der Perspektive des Bertroffenen geschildert. Le thé au harem d'Archi Ahmed stellt zusätzliche Anforderungen wegen seiner starken Verwendung der Umgangssprache - eine Entwicklung, die der deutschen entspricht, jedoch so sehr in den Zusammenhang paßt und die Situation mit erfaßt, daß sie angemessen ist. Gegenüber den Lebensverhältnissen von Madjid bewegt sich Aziz in geradezu geordneten Verhältnissen mit Perspektiven und Lebensfreude. Auch wenn Madjid in einer Familie lebt und damit schon ganz andere Voraussetzungen haben könnte, wird die Misere, die Aussichtslosigkeit deutlich, die sich aus der Tatsache ergibt, daß man sich, getrieben von den Lebensverhältnissen und dem eigenen Überlebensinteresse, gegenseitig aufreibt und halbherzig statt ganz rebelliert. Das Grau des Betons, das sich in die Seele schleicht und dem man zu entkommen sucht, steht und fällt möglicherweise mit dem Entschluß, daran für alle etwas zu ändern. Die Gewalt und Bedrückung der Betonsiedlung bleibt Aziz erspart. Und der Autor Mehdi Charef weiß genau, wovon er schreibt:

Emmagasiner encore et toujours en attendant, avec l'espoir peut-être de se réconcilier avec soi-même et avec la vie. Sinon c'est l'explosion, ça se réveille comme un volcan qui a longtemps ruminé sa vengeance contre tout ce qui lui a été bourré dans la gueule. Il évacue l'énergie somnolente en ses tripes. de bonne elle est devenue mauvaise, dévastatrice, et c'est la violence. Le refus. Le refus de se laisser étouffer. Contre la récupération de soi. Contre l'autodestruction, le silence, c'est la violence qui prend le dessus et on devient irrécupérable. On ne se remet pas du béton, Il est partout présent, pesant, dans les gestes, dans la voix, dans le langage, jusqu'au fond des yeux, jusqu'au bout des ongles. Sur les bras il se transforme en trèfle è quatre feuilles tatoué en vert bouteille et dédié à sa mère, avec une rose. A jamais. Il suit partout comme une ombre. (Mehdi Charef: Le thé au harem d'Archi Ahmed, Collection Folio,
Mercure de France, ISBN 2-07-038041-6, Seite 62-63)

Cauwelaert hat kein politisches Buch vorgelegt, sondern einen psychologisch orientierten Blick auf menschliche Verhältnisse und Beziehungen geworfen, bleibt dabei jedoch dankenswert nüchtern. Es gibt keinerlei Klage in der Aussage des Buches, der Ich-Erzähler besticht durch eine seltsame Gelassenheit und Souveränität, die zugegeben auch aus der Tatsache rühren mag, daß das Geschehen im Rückblick geschildert wird. So entsteht, obwohl es auch ein trauriges Buch ist, durch die Art der Schilderung, die manchmal knapp an schwarzem Humor vorbeigeht, gepaart mit den menschlichen Verwicklungen, Schwächen und Ausreden, manche skurril anmutende Szene. Der Protagonist rebelliert nicht, er entwirft keine Zukunft für sich, kein Lebenskonzept, er zieht keine übergreifenden Schlüsse: Er erhält einen Platz in der französischen Gesellschaft. Und doch erreicht das Buch, was zu begrüßen ist: Es läßt den Leser ein wenig nachdenklich und unbefriedigt mit Fragen zurück. In dem Sinne ist es mit Sicherheit nicht etwaiger Unterhaltungs- und Fluchtliteratur zuzuordnen. Das Nachwort bietet, reclamgemäß, ausführliche Anhaltspunkte zum Autoren und zum Umfeld, in das er seine Handlung einbettet, die einzelnen Seiten wieder eine Menge hilfreicher Vokabeln im Fußtext.


Didier van Cauwelaert
Un aller simple
Herausgegeben von Peter Müller und Helga Zoch
Philipp Reclam jun., Stuttgart 2003
Universal-Bibliothek - Fremdsprachentexte Französisch
227 Seiten, 6,40 Euro
UB 6016, ISBN 3-15-009109-8