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BUCHBESPRECHUNG/027: Harrison & Minsky - Die Turing-Option (SF) (SB)


Harry Harrison & Marvin Minsky


Die Turing-Option



Harry Harrison, der Vater der aktionsreichen, bissigen "Stahlratte" und der Schöpfer der "Todeswelten" hat sich bei seinem Buch "Die Turing-Option" freiwillig Zaumzeug angelegt. Denn eigentlich ist der amerikanische Autor für seine temporeichen, teils spritzig witzigen und nie langweiligen Romane bekannt. Doch in diesem Fall hat er sich mit einem Experten auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz (KI) zusammengetan: Marvin Minsky. Der ehemalige Leiter des Instituts für Künstliche Intelligenz am renommierten Massachusetts Institute of Technology gilt als Koryphäe auf diesem Gebiet und hat unter jüngeren Mathematikern und gewissen Software-Experten in den USA fast schon Kultstatus erlangt. So findet man Marvin Minsky auf den Mammutkongressen der American Astronomical Association ebenso wie bei den Veranstaltungen der Extropians, jenem losen Zusammenschluß von Visionären in den USA, die von der Unsterblichkeit des Menschen, respektive seines Bewußtseins - beispielsweise in Form einer computerunterstützten Null-eins- Codierung in einem Rechner - träumen. Aber auch andere Szenarien wie ein tiefgefrorener Zustand auf Abruf sind ihnen nicht zu abstrus, um sie sich vorzustellen.

Jedenfalls bilden der SciFi-Autor und der KI-Experten ein Gespann, und herausgekommen ist dabei nicht(!) der Sportwagen mit Ladefläche oder der Rennhund mit schlackernden Hautfalten, sondern ein in sich geschlossener Roman, der sowohl durch seine Spannung als auch seine Detailkenntnis zu überzeugen vermag. Harrison hat es verstanden, den eigentlich trockenen mathematischen Stoff so zuzubereiten und in einen Handlungsrahmen aus Verschwörung, Attentaten und militärischem Intrigenspiel zu fassen, daß der Leser gar nicht merkt, wie weitreichend der Roman Informationen über Software-Problematik und Fragen der Gehirnchirurgie liefert. Wer vorher noch nie etwas über Künstliche Intelligenz gehört oder gelesen hat, wird hinterher zumindest das grundlegende Verständnis dafür entwickelt haben, mit welchen Fragen sich KI-Experten herumschlagen.

Übrigens ist der Buchtitel von einem Mathematiker abgeleitet. 1950 warf Alan Turing, ein Pionier der Computerwissenschaft, die Frage auf, ob eine Maschine jemals werde denken können. Er beantwortete sich die Frage insofern selbst, als daß er vorschlug, sich nicht weiter mit einem ohnehin zwecklosen Definitionsversuch von Denken abzuplagen, sondern einfach einen digitalen Computer zu bauen, Speichergröße und Geschwindigkeit zu steigern, ein brauchbares Programm einzugeben und erst dann zu fragen, ob die Maschine wohl die Rolle des Menschen spielen könne. Turing prognostizierte damals, daß man bis zum Ende dieses Jahrhunderts von denkenden Maschinen sprechen würde, auch ohne Denken definiert zu haben. Eine KI gilt erst dann als intelligent, wenn niemand merkt, daß er mit ihr und nicht mit einem Menschen telefoniert.

Doch zunächst einmal zur Handlung: Dem 14jährigen Genie Brian Delaney ist es im Jahre 2023 als erster Mensch gelungen, für das Unternehmen Megalobe eine "echte" Künstliche Intelligenz zu entwickeln. Also kein Computerprogramm, das auf alle Fragen eine Antwort hat und dazu vielleicht auch noch diverse Alternativen zur Auswahl stellen kann, sondern eine Maschine, die über die gleichen kognitiven Fähigkeiten wie der Mensch verfügt, die also lernen und das Gelernte in die vorhandene Matrix integrieren kann. Als er die KI vorführbar fertiggestellt hat, wird sein Labor von einer bewaffneten Einheit überfallen. Nahezu sämtliche Beteiligten werden umgebracht und alle Informationen über die KI mitgenommen. Obschon ihm die Kugel den halben Schädel weggerissen hat, überlebt Brian das Attentat schwer verletzt. Dank der medizinischen Fachkenntnis von Dr. Snaresbrook kommt er wieder auf die Beine. Hier beschreibt Harrison sehr detailgenau den Ablauf einer Gehirnoperation der Zukunft, bei der einzelne Nervenstränge miteinander verbunden und damit Gedächtnisinhalte wieder hergestellt werden.

Sicherlich ist es beim Lesen dieses Buchs von Vorteil, wenn der Leser ohnehin an medizinischen oder naturwissenschaftlichen Fragen interessiert ist. Aber das ist keinerlei Bedingung, um sich von diesen Roman unterhalten zu lassen. Zumal Harrison die Suche nach den Hintermännern des Attentats und Raubs in gewohnt zuverlässiger Manier präsentiert. Deswegen kann man die "Turing- Option" zurecht als "High-Tech-Thriller" - so der Klappentext - bezeichnen. Hier eine kurze Leseprobe:

Er hielt inne, als er die drei hustenden Laute hörte. Gleich danach ein lautes Keuchen, dann das Krachen von Laborausrüstung, die zu Boden fiel. "Was ist da los?" schrie er, dreht sich um und lief ins innere Labor zurück. Wieder dieses Husten. McCrory wirbelte herum, das Gesicht eine blutige Masse. Er brach zusammen. Brian drehte sich um und rannte weg. Nicht durch logisches Denken angetrieben, sondern vom schieren Überlebenswillen - schmerzlich gelernte Lektion einer Kindheit aus Terror und Überfällen anderer Kinder. Kurz bevor er durch die Tür kam, explodierte der Rahmen neben seinem Kopf. Direkt vor ihm lag der Tresor für die Back-up-Bänder. Die wurden bis zum Abend darin untergebracht, jetzt war er leer. Ein Schrank zum Verstecken für einen Jungen, ein dunkler Fluchtwinkel. Aus er die Tür aufzog, zerriß greller Schmerz seinen Rücken, stieß ihn vorwärts, wirbelte ihn herum; er keuchte laut, als er sah, was auf ihn zukam; hob den Arm in nutzloser Abwehr. Brian zog am Griff, fiel nach hinten. Aber die Kugel war schneller. Aus nächster Nähe durch den Arm in den Kopf. Die Tür fiel zu. "Holt ihn raus!" schrie jemand. Heisere Stimme. "Automatisch verriegelt - aber er ist tot. Die Kugel hat ihm den Schädel zerschmettert. Hab ich gesehen." (S. 27f)

Von diesen stakkatoartigen, knappen Sätzen wechselt Harrison, wo es paßt, zu längeren Erläuterungen bestimmter medizinischer oder auch ethisch-philosophischer Fragen. Hierzu nochmals ein kurzer Auszug:

"Du bist wirklich der Sohn deines Vaters! Ging niemals in die Messe, wollte nicht darüber sprechen. Wir haben von Gott gegebene Seelen, Brian - und Er vergibt sie nicht an Maschinen!" "Dolly, bitte. Ich weiß, wie du fühlst und was du glaubst, erinnere dich bitte, daß ich als Katholik aufgewachsen bin. Aber meine Arbeit hat mir einen gewissen Einblick ins menschliche Gehirn verschafft und auch in etwas, was man die Bedingungen des Menschseins nennen könnte. Versuch bitte zu verstehen, daß ich mit dem, was man mich zu glauben gelehrt hat, nicht mehr zufrieden bin. Können Maschinen eine Seele haben? Du fragst mich das, und ich frage dich jetzt, ob Seelen lernen können. Wenn sie das nämlich nicht können - was hat das ganze Konzept dann noch für einen Sinn? Steril, leer und in alle Ewigkeit unveränderbar. Da ist es doch bei weitem vorzuziehen, wenn wir begreifen, daß wir uns selbst erschaffen. Langsam und schmerzhaft, im Grunde geformt von unseren Genen, ununterbrochen verändert durch alles, was wir sehen und hören und zu verstehen versuchen. Das ist die Realität - das ist die Art und Weise, wie wir funktionieren, lernen, uns zu entwickeln. Von daher kommt die Intelligenz. Ich versuche nur, herauszubekommen, wie dieser Prozeß funktioniert, und ihn dann auf eine Maschine zu übertragen. Ist daran etwas falsch?" (S. 213)

Wer die aktuelle Auseinandersetzung in den USA zwischen christlicher Religion und Naturwissenschaft kennt, wird ahnen, daß hier keine Einigung zwischen Mutter und Sohn erzielt werden wird. Sie warnt ihn vor dem Frevel, den er begehe, und er beharrt auf seinem Standpunkt, mit seiner Forschung doch nur das Beste zu wollen. Und da Harrison und Minsky selbstverständlich für den technischen Fortschritt sind, ist der Leser allzu leicht geneigt, ihrer Argumentation zu folgen. Doch weitgehend ausgeklammert aus der ansonsten breiten Auseinandersetzung mit Fragen im Zusammenhang von Eingriffen ins menschliche Gehirn, der Entwicklung von Mensch-Maschine-Schnittstellen oder Künstlicher Intelligenz ist die Frage der politischen und sozialen Kontrollmöglichkeiten mittels dieser Technologie. Die Verfügbarkeit des einzelnen wird auf diese Weise in immer subtilere physiologische Abläufe getrieben. Die ungeahnten Möglichkeiten, die das Autorenteam am Beispiel der erstmals erfolgreichen Speicherchip-Implantierung ins menschliche Gehirn beschreibt, lassen sich selbstverständlich auch in umgekehrter Richtung eröffnen, gegen denjenigen gerichtet.

"Die Turing-Option" ist ganz und gar "political correct". Der Begriff "Künstliche Intelligenz" wird abgelehnt, weil er angeblich diffamierend ist. Er wird durch "Maschinenintelligenz" ersetzt. Die in den USA weit verbreiteten Verschwörungstheorien werden zwar aufgegriffen - nach dem Motto: alle Regierungen haben ihre Leichen im Keller -, aber die Beseitigung der nationalen Regierungformen im 21. Jahrhundert hat nach Ansicht der Autoren auch mit solchen finsteren Umtrieben weitgehend aufgeräumt. Die CIA gibt es nicht mehr.

Wer sich nicht an diesem positiven, uneingeschränkt technikfreundlichen Gesellschaftsentwurf stört und in der Lage ist, sich die Muße zu nehmen zu lesen, wie auf 540 Seiten die Fragen bei der Entwicklung und Vervollkommnung einer Künstlichen Intelligenz erörtert werden, der macht mit der "Turing-Option" von Harry Harrison und Marvin Minsky einen guten Griff. Amerika blickt optimistisch in die Zukunft, und dieses Buch ist durch und durch amerikanisch.


Harry Harrison & Marvin Minsky
Die Turing-Option
Heyne, München
16,90 DM
ISBN 3-453-11912-6