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BUCHBESPRECHUNG/229: Florian Hessel / Pradeep Chakkarath / Mischa Luy (Hg.) - Verschwörungsdenken (Klaus Ludwig Helf)


Florian Hessel / Pradeep Chakkarath / Mischa Luy (Hg.)

Verschwörungsdenken. Zwischen Populärkultur und politischer Mobilisierung

von Klaus Ludwig Helf, Februar 2023


Mit dem Aufstieg rechtspopulistischer bis rechtsextremer politischer Projekte in Europa und den USA (von der FPÖ und der AfD bis zur Präsidentschaft Donald Trumps) rückte auch Verschwörungsdenken in all seinen schillernden Facetten in den Vordergrund des politischen Diskurses im Alltag und in der massenmedialen, insbesondere in der viralen Öffentlichkeit der Netzplattformen. Die Überzeugung, dass Ereignisse heimlich und hinter den Kulissen von mächtigen Akteuren gelenkt werden, kann harmlose Unterhaltung oder gar ein Zeichen begründeter Skepsis und Verdrossenheit sein. 'Verschwörungstheorien' können auch gefährlich werden für die Demokratie, insbesondere wenn sie ideologisch grundiert sind von Populismus, Anti-Elitismus, Autoritarismus, Konspiratismus, Nationalismus ('America first'), Anti-Pluralismus, von menschenfeindlichen bzw. diskriminierenden Einstellungen und Verhaltensweisen, Rassismus, Antisemitismus und 'Fake News'.

Nach einer Umfrage von YouGov vom September 2020 gaben 29 Prozent der befragten Deutschen an, "schon einmal geglaubt zu haben, dass an einem Verschwörungsmythos etwas Wahres dran ist", bei den 18- bis 24- Jährigen waren es 35 Prozent, bei den ab 55-Jährigen war es rund ein Viertel. Nach den Daten der Mitte-Studie 2020/21 glaubten 22,9 Prozent der befragten Deutschen an geheime Organisationen, die großen Einfluss auf politische Entscheidungen hätten, 20,5 Prozent stimmten der Aussage zu, dass Führungspersönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft nur Marionetten von geheimen Mächten seien. Unabhängig von der grundsätzlichen Problematik von Umfragen, lässt sich festhalten, dass seit der weltweiten Corona-Krise Verschwörungsdenken kein Phänomen am Rande der Gesellschaft und daher eine Herausforderung für alle Demokraten ist. Der Glaube an Verschwörungen kommt verschiedenen menschlichen Bedürfnissen entgegen in Verbindung mit individuellen psychischen und sozialen Dispositionen. Je einschneidender das auslösende Ereignis, desto stärker die Neigung, außergewöhnliche Ursachen dahinter zu vermuten.

Warum Menschen unserer Gesellschaft Verschwörungsideen vertrauen, ist sozialpsychologisch und gesellschaftstheoretisch erklärungsbedürftig - so die Herausforderung und das Anliegen der Herausgeber des vorliegenden Bandes. Da bislang wenige repräsentative und sozialwissenschaftlich fundierte Forschungsergebnisse zu diesem Thema vorlägen, sollen hier einige Ansätze vorgestellt werden.

Die Herausgeber und Autoren: Florian Hessel ist Lehrbeauftragter für Sozialpsychologie und Sozialtheorie der Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum sowie der TU Hamburg, arbeitet als freier Bildungsreferent und wissenschaftlicher Berater in der Antisemitismusprävention und Demokratieförderung und ist 2. Vorsitzender der Gesellschaft für Kulturpsychologie und Mitherausgeber der psychosozial. Mischa Luy ist Sozialwissenschaftler am Lehrstuhl für Sozialtheorie und Sozialpsychologie an der Ruhr-Universität Bochum zum Gegenstand der deutschen Prepperszene. Pradeep Chakkarath lehrt Sozial- und Kulturpsychologie an der Fakultät für Sozialwissenschaft der RUB und ist Co-Direktor des Hans Kilian und Lotte Köhler Centrums für kulturwissenschaftliche Psychologie und historische Anthropologie (KKC).

Neben der Einleitung waren weitere sechs von insgesamt fünfzehn Beiträgen des Bandes bereits im Heft der psychosozial 159 (1/2020) erschienen und für die vorliegende Publikation überarbeitet und ergänzt worden. Die Beiträge des Bandes sind als Essays oder Studien verfasst, haben am Ende jeweils Angaben zu weiterführender Literatur und die biografischen Daten der Autorinnen und Autoren. Inhaltlich entfalten sie ein breites Panorama des Verschwörungsdenkens zwischen "Populärkultur und politischer Mobilisierung" wie der Untertitel des Bandes lautet: u.a. aus gesellschaftstheoretischer, sozialpsychologischer, psychoanalytischer, medienwissenschaftlicher oder philosophischer Perspektive, aus Sicht der Erforschung von Ressentiments, politischer Bewegungen, digitaler Medien, des gesellschaftlichen Alltags, der analytischen Psychotherapie oder der Grundlagen politischer Bildung und Demokratieerziehung.

Die Autorinnen und Autoren analysieren das Phänomen des Denkens in Verschwörungen multi- und transdisziplinär, aus unterschiedlichen Dimensionen und Facetten und mit einer kritisch-sozialpsychologischen und gesellschaftstheoretischen Orientierung. 'Verschwörungstheorien' gehörten zu den "schillerndsten Begrifflichkeiten" in den Sozialwissenschaften und seien auch umgangssprachlich in Alltag, Populärkultur und Politik omnipräsent - so die Herausgeber. Sie hätten sich auch "erfolgreich als Topoi" in Literatur, Film und Serien, in sozialen Medien, Feuilletons und Feierabenddebatten etabliert und besäßen darüber hinaus auch ein "besorgniserregendes Potenzial für politische Agitation, Verunsicherung und - oftmals Gewalt legitimierende - Propaganda" (S. 10): "Verfochten werden Verschwörungsvorstellungen von Linken und Rechten, Religiösen und Säkularen, Einzelnen oder ganzen Gruppen, kreuz und quer durch das soziodemografische Spektrum. Sie bieten Orientierung und Erklärung" (S. 9).

Alle Beiträge des Bandes gingen unabhängig von ihrer jeweiligen thematischen Reichweite und ihres methodischen Ansatzes von der Annahme aus, Verschwörungskonstrukte und -vorstellungen seien "gleichzeitig ein Symptom wie ein Katalysator einer autoritären Tendenz der Gesamtgesellschaft und des 'kulturellen Klimas' (Adorno)" (S. 22). Die Corona-Pandemie und der Angriffskrieg auf die Ukraine mit den jeweils begleitenden Maßnahmen und den kontroversen politischen und medialen Auseinandersetzungen hätten gezeigt, dass das Denken in Verschwörungen entsprechend als "kulturell flexibles Vehikel und (sozial-) psychologisch wie politisch mobilisierbare Ressource zur Deutung und Aneignung von Realität fungiert" (S. 23).

Verschwörungsdenken, das zeigen die einzelnen Beiträge über unterschiedliche Themenbereiche, sind oft vereinfachte und verzerrte Antworten auf reale oder gefühlte gesellschaftliche Probleme und Ängste. Sie haben im Kern eine Wahrnehmungs- und Deutungskultur, mit der sich Subjekte die Welt spezifisch aneignen, um eine weitgehend ohnmächtig erfahrene Realität strukturieren, erklären und überleben zu können. Als Mittel politischer Agitation haben Verschwörungsvorstellungen eine affektmobilisierende und damit auch psychisch entlastende Wirkung mit sozialen und emotionalen Gratifikationen und können zu einer Gefahr für eine demokratisch verfasste und den Imperativen der Aufklärung verpflichtete Öffentlichkeit werden: "Denn das Denken in Verschwörungen... ist in seiner kompromisslosen Institutionalisierung des Misstrauens hoch kompatibel mit gesellschaftlich virulenten Ressentiments wie Xenophobie, Antisemitismus oder Antifeminismus und inkompatibel mit einer auf Vertrauens- und Kompromisspotenzialen beruhenden demokratischen Öffentlichkeit" (S. 24). So sei das 'Preppen' - eine überzogene Krisenvorsorgepraxis - nicht zwangsläufig Ausfluss von Verschwörungsdenken - so Mischa Luy in seiner Studie -, beide seien jedoch durchaus miteinander kompatibel und ergänzten sich potenziell als Reaktionsmöglichkeiten auf wahrgenommene Krisenerscheinungen und Ohnmachtserfahrungen in einer als gefährlich wahrgenommenen Welt. Ein Zuwachs der Szene sei denkbar als Potenzial für eine mögliche Radikalisierung und Ausdifferenzierung mit Überschneidungen mit Querdenkern, Reichsbürgern und anderen rechtsextremen Strukturen.

Wer ist anfällig für Verschwörungstheorien? Es sind vor allem Menschen, die sich vom kulturellen, sozialen oder ökonomischen Abstieg bedroht fühlen, Marginalisierung befürchten und abwehren wollen. Ursächlich sind vor allem Affekte - Gefühle von Ungerechtigkeit, Kontrollverlust und Machtlosigkeit - wie sie in Zeiten der Globalisierung und des vielfachen gesellschaftlichen Umbruchs empfunden werden: "Diese erfahrene oder befürchtete Zurücksetzung wird als kränkend erlebt und produziert Ressentiments, die in Antihaltungen gegen vermeintlich verantwortliche Strukturen und Institutionen ihren Ausdruck finden. Dabei handelt es sich zuerst einmal um einen sozialen Befund, der sich immer mit der individuellen Situation verbindet" (S. 180). Neben schwierigen familiären und/oder beruflichen Verhältnissen, Dispositionen in der Persönlichkeit wie besondere Empfindlichkeit, narzisstische Kränkbarkeit und ausgeprägtes Misstrauen handelt es sich vor allem um gesellschaftliche Ausgeschlossenheits- und Deklassierungsgefühle, kombiniert mit starken Gefühlen der Abhängigkeit, Ohnmacht gegenüber der eigenen Lebensgestaltung. Auch bei negativen Erfahrungen in früheren Abhängigkeitsbeziehungen haben sie eine große Sehnsucht nach einer idealisierbaren Autorität und sind damit verführbar für populistisch und charismatisch agierende Führer: "Menschen mit verschwörungstheoretischer Denkweise glauben, die Dinge zu durchschauen, weil sie besser als andere informiert seien... Eben weil sie die Bedrohung durchschauen würden, glauben sie, sich besser vor Manipulation schützen zu können" (S. 181).

Die Bedeutung von 'Fake News', 'Alternativen Fakten' und deren Potential, Vertrauensstrukturen und soziale Kohäsion zu untergraben sind in den letzten Jahren nicht nur durch Donald Trump in das öffentliche Bewusstsein gerückt. Digitale soziale Netzwerke können hierbei sowohl als "Spiegelbild als auch als Multiplikator der Verbreitung von Falschinformationen betrachtet werden" (S. 263). Aufgrund ihrer Programmarchitektur und des zugrunde liegenden privatwirtschaftlichen Geschäftsmodells und auch der Möglichkeit zur Bildung von 'Echokammern' als relativ geschlossene Systeme tragen sie systematisch zur Verbreitung und Verstärkung von Desinformationen und damit auch zu verschwörungstheoretischer Denkweise bei.

Der vorliegende Band präsentiert Essays und Studien zu den unterschiedlichen Dimensionen und Facetten des 'Denkens in Verschwörungen' und bietet damit einen hervorragenden Überblick über den aktuellen Forschungsstand aus sozialwissenschaftlicher Sicht und auch probate Strategien und Gegenmaßnahmen zur Förderung von reflektierter Skepsis und zum Erschweren beim Verbreiten von Falschinformationen z.B. bei den digitalen Plattformen.


Florian Hessel / Pradeep Chakkarath / Mischa Luy (Hg.): Verschwörungsdenken. Zwischen Populärkultur und politischer Mobilisierung. Reihe: Psyche und Gesellschaft. Psychosozial-Verlag Gießen 2022, Softcover, 344 S.

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Quelle:
© 2023 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 10. Februar 2023

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