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BUCHBESPRECHUNG/150: Und morgen regieren wir uns selbst, von Andrea Ypsilanti (Sachbuch) (Klaus Ludwig Helf)


Andrea Ypsilanti
Und morgen regieren wir uns selbst. Eine Streitschrift

Klaus Ludwig Helf, April 2018


Die sozialdemokratischen Parteien in Europa stecken in einer tiefen Krise. Auch die einstmals europaweit führende und beispielgebende SPD kämpft um ihr Überleben als Volkspartei. Andrea Ypsilanti, die ehemalige hessische SPD-Spitzenpolitikerin, Mitbegründerin und Vorstandssprecherin des "Instituts Solidarische Moderne" hat jetzt eine Streitschrift zur Sozialdemokratie vorgelegt, mit der sie anstiften will zum kritischen Denken, zum Reflektieren und zum Kämpfen, die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse nicht einfach als angeblich alternativlos zu akzeptieren. Aus einer kritischen sozialdemokratischen Perspektive unternimmt Andrea Ypsilanti den Versuch "die Erscheinungsform des neoliberalen Kapitalismus, seine ideologischen, politischen und psychologischen Muster im Alltag zu beschreiben" (S. 13/14). Die ehemals stolzen, traditionsreichen und die Gesellschaft prägenden sozialistischen und sozialdemokratischen Volksparteien in Europa seien angepasste Funktionärsparteien geworden, die wie fremdgesteuert und fremdbestimmt auf ihre ehemaligen Sympathisanten und Unterstützer wirkten. Die europäische Sozialdemokratie - so Ypsilanti - handele hilflos, ohnmächtig und unentschlossen und habe zu lange die neoliberalen Konzepte übernommen und sich nicht gegen die Austeritätspolitik mit ihren verheerenden Folgen wie z.B. in Griechenland zur Wehr gesetzt.

Kenntnisreich und treffend analysiert Andrea Ypsilanti den Umbau der deutschen Sozialdemokratie analog zu "New Labour" in Großbritannien zur Partei der "Marktsozialdemokratie". Nach dem relativ gewaltfreien Zusammenbruch des "realsozialistischen Systems" herrschte in der demokratischen Linken Europas Katerstimmung und man war nicht in der Lage, eine sozialdemokratische Antwort auf das Ende dieser Ära zu finden. Dagegen gelang der endgültige Durchbruch des neoliberalen Modells wie es Maggie Thatcher bereits 1978 propagiert hatte. Mit der "Agenda 2010" unter Gerhard Schröder habe die SPD den radikalsten Abbau des Sozialstaats der Nachkriegsgeschichte betrieben, die sicheren Standards des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaats hinweggefegt und damit das Vertrauen als Schutzmacht der kleinen Leute verspielt.

Die Krise der Sozialdemokratie habe sich bei den letzten Bundestagswahlen zugespitzt und es drohe der Verlust des Status als attraktive und mehrheitsfähige linke Volkspartei. Die Formierung einer neuen attraktiven Sozialdemokratie, wie sie in Großbritannien, Portugal oder Spanien zumindest in Angriff genommen wurde, stehe noch am Anfang.

Andrea Ypsilanti plädiert für eine "radikale, transformatorische sozial-ökologische Reformpolitik", für grundlegende politische Veränderungen gegen den Mainstream des Neoliberalismus, der auch die SPD mehrheitlich erfasst habe. Es genüge nicht, wenn die "Marktsozialdemokraten" in Wahlkämpfen die "Platte der sozialen Gerechtigkeit" auflegten: "Es geht eben nicht nur um gute Löhne oder gute Arbeit. Es geht darum, wie die Klassenfrage aufgerufen und die Auseinandersetzung geführt wird. Der Klassenkampf von oben ist real, subtil, medial hegemonial" (S. 146). Ein zentraler Hebel sei z.B. die Stärkung der Staatshaushalte durch eine konsequente Steuerpolitik mit erheblichen Korrekturen nach oben bei Erbschaftssteuer, Einkommenssteuer, Kapitalertragssteuer, Vermögenssteuer; Transaktionssteuer und bei Steuern auf Spekulationsgewinne. Eine SPD, die die soziale und kulturelle Hegemonie wiedergewinnen will, müsse die Courage haben, Auseinandersetzungen zu antizipieren, sich denen ohne Zaudern zu stellen und durchzuhalten, wie das Willy Brandt getan habe z.B. mit seiner Ost- und Friedenspolitik und seinen Vorstellungen von der Demokratisierung der Gesellschaft.

Wahrscheinlich sei auch eine "neue Erzählung" im Sinne einer offenen Utopie notwendig, statt den Umfrageergebnissen und Stimmungsbildern der Demoskopen hinterherzulaufen: "Gegenhegemonie erfordert neben der Aufklärung über die Verhältnisse eine grundlegende Programmatik wie auch eine theoretische, emotionale und sinnliche Überzeugung. Diese beginnt nie in der Mehrheit, sondern entsteht durch Ideen, Erkenntnisse und Analysen einer überzeugten Minderheit" (S. 152). Die Sehnsucht nach einer neuen Utopie sei in der Gesellschaft vorhanden und müsse befriedigt werden.

Andrea Ypsilanti präsentiert im Anschluss an Albert Camus die Grundzüge eines "mediterranen Sozialismus" im Sinne eines erneuerten freiheitlichen, demokratischen Sozialismus: "Es ist an der Zeit, dass wir uns aufmachen, ein neues, spannendes und attraktives Drehbuch zu schreiben, welches die Fragen auf den Punkt bringt, mit sich und uns ringt um eine soziale, ökologische und kulturelle Revolution der bestehenden Verhältnisse" (S. 206). Andrea Ypsilanti hat mit ihrer Streitschrift eine scharf- und tiefsinnige Analyse der aktuellen Krise der Sozialdemokratie in Deutschland und in Europa vorgelegt und wegweisende Vorschläge zu deren Lösung unterbreitet. Der Band ist ein Grundlagenwerk in der Debatte um die Erneuerung der Sozialdemokratie.

Andrea Ypsilanti
Und morgen regieren wir uns selbst. Eine Streitschrift
Westend-Verlag, Frankfurt/Main 2018
Broschur
256 Seiten
18 Euro

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Quelle:
© 2018 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. April 2018

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