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BUCHBESPRECHUNG/142: "Wir sind die Mehrheit" von Harald Welzer (Sachbuch) (Klaus Ludwig Helf)


Harald Welzer
Wir sind die Mehrheit.
Für eine offene Gesellschaft

von Klaus Ludwig Helf, August 2017


Im November 2016 trat die "Initiative Offene Gesellschaft" an die Öffentlichkeit als gesellschaftlich breit aufgestellte, neue politische Bewegung gegen den aktuell grassierenden Rechtspopulismus und für eine streitbare, kämpferische Demokratie, für Freiheit und Rechtsstaatlichkeit im Sinne des Grundgesetzes. Harald Welzer hat jetzt einen aktuellen Band vorgelegt, in dem er die Ideen, Ziele und Aktionen dieser Initiative vorstellt und historisch-sozialwissenschaftlich begründet. Neben Alexander Carius und Andre Wilkens gehört er zu den Gründungsmitgliedern; auch der jüngst verstorbene Kulturmanager Martin Roth war wichtiger Impulsgeber.

Harald Welzer ist Soziologe und Sozialpsychologe, Mitbegründer und Direktor der gemeinnützigen Stiftung "Futurzwei"- Stiftung Zukunftsfähigkeit; er ist seit Juli 2012 Honorarprofessor für Transformationsdesign an der Universität Flensburg, lehrt an der Universität St. Gallen und ist Mitglied zahlreicher wissenschaftlicher Beiräte und Akademien; seine Forschungs- und Lehrschwerpunkte sind Erinnerung, Gruppengewalt und kulturwissenschaftliche Klimafolgenforschung. Welzer ist Autor zahlreicher Bücher so u.a.: "'Opa war kein Nazi'. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis" (zus. mit S. Moller und K. Tschuggnall, 2002), "Selbst denken" (2013) und "Die smarte Diktatur. Ein Angriff auf unsere Freiheit" (2016).

Sein aktuelles Buch ist ein kämpferischer Essay für das aktive Eintreten für eine offene Gesellschaft, die er durch hysterische Debatten um Flucht, Sicherheit und Terror und durch das bewusste Schüren von Angst für akut gefährdet hält. Das schließe eine Kritik an den Fehlentwicklungen der letzten Jahrzehnte ausdrücklich ein, aber die liberale Mehrheit der Gesellschaft müsse die Themen setzen und sie sich nicht von den Rechten vorgeben lassen: "Demokratie lebt von Kritik und Dissens, aber gelegentlich muss sie einfach auch mal verteidigt werden" (S. 68/69). Welzer fordert eine "ganz neue soziale Bewegung", die mit gemeinschaftlichen Aktionen vor Ort alles tue, um ihre Überzeugungen rüber zu bringen, sowohl im Privaten als auch im Job: "Sie ist ... für mehr Demokratie, mehr Gerechtigkeit, mehr Zusammenhalt, mehr Integration. Das ist unser Land! Sagen wir, wie es sein soll!" (S. 104). An die Adresse der jungen Frauen und Männer richtet er einen flammenden Appell: "Hört auf zu liken, hört auf durchzublicken. Hört auf zu glauben, dass Ihr etwas tun könnt, ohne euren Arsch zu bewegen" (S. 70). Welzers These ist, dass man rechte Feinde der Demokratie nicht mit Verständnis und Dialog bekämpfen könne, sondern nur mit Haltung, Konfliktbereitschaft und aktivem Eintreten für die Demokratie. In Anlehnung an den Soziologen und Philosophen Karl Popper plädiert Welzer für die Offene Gesellschaft, die nicht anders als universalistisch gedacht werden könne. Diese sei die einzige Gesellschaftsform, die durch ihren rechtsstaatlichen Rahmen sicherstelle, dass Menschen trotz unterschiedlicher Ausgangsbedingungen an Gütern wie Bildung, Mobilität, Lebenssicherheit und Verbesserung des Lebens teilhaben könnten: "Sie ist das erfolgreichste zivilisatorische Projekt der Geschichte, und daran gilt es weiterzubauen" (S. 90). Es sei historisch belegt, dass die Rechten zunächst nicht das große Problem seien, sondern diejenigen, die die Themen und Begriffe der radikalen Ränder in die Mitte der Gesellschaft transportierten - wie es die CSU in einem "geradezu obszönen Ausmaß" immer wieder tue. Gegen diese Form der populistischen Instrumentalisierung von Inhalten müsse man sich als Demokrat wehren - so Welzer. Eine neue Art von Aggressivität, die sich auch in Wut und Hass aufschaukeln könne, habe sich in die Gesellschaft eingefressen, von der unterschiedliche Akteure wechselseitig profitierten wie z.B. bei Rechtspopulisten und islamistischen Terroristen, die einander bräuchten, um erfolgreich zu sein. Zusätzlich habe sich der Neoliberalismus im Denken und Handeln der Menschen breitgemacht, dessen ideologischer Kern ein radikaler Individualismus sei und der sozial abschotte und ausgrenze; die Errungenschaften des westeuropäischen Sozialstaats würden nach und nach abgebaut. Magret Thatchers TINA-Prinzip ("there is no alternative") und ihre Leugnung der Gesellschaft als konstituierendes Element des demokratischen Zusammenlebens sei offensichtlich zu einem offiziellen politischen Leitfaden auch bei uns geworden.

Welzer wirft den etablierten politischen Parteien inclusive der Grünen und der Linken Unfähigkeit vor, eine Politik für das 21. Jahrhundert zu denken und "... realistische und unrealistische Visionen zu entwickeln, Horizonte für eine zukunftsfähige Politik zu skizzieren" (S. 108). In seinem Band entfaltet er beispielhaft neun zukunftsfähige Politikfelder, die bearbeitet werden müssten u.a.: Bekämpfung der katastrophalen Folgen der neoliberalen Politik durch bedingungsloses Grundeinkommen, massive Investitionen in den sozialen Wohnungsbau und in das Bildungssystem, Abschaffung der "völlig inakzeptablen" Bildungsungleichheit, Bekämpfung krimineller Parallelgesellschaften, Eingrenzung des Lobbyismus in der Politik, Abbremsen eines zerstörerischen Wirtschaftswachstums und des Hyperkonsumismus, Sicherstellung einer nachhaltigen sozialen Politik sowohl beim Klima als auch bei der Sicherheitspolitik, das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und Abwehr einer Überwachungsdiktatur (smarte Diktatur): "Je freier eine Gesellschaft ist, desto sicherer leben ihre Mitglieder. Je sicherer eine Gesellschaft ist, desto freier können ihre Mitglieder leben. Warum schreibt sich keine Partei die Sicherung der Freiheit auf ihre Fahne und macht damit Wahlkampf?" (S. 113).

Welzer trägt in seinem neuen Band sehr engagiert, kämpferisch, pointiert und faktenreich belegt seine berechtigte Kritik an dem herrschenden Politikbetrieb und an dem Wandel der politischen Kultur vor; er belässt es dabei nicht, sondern entwickelt konkrete politische Strategien und inhaltliche Konzepte, um die freie und offene, soziale und demokratische Gesellschaft zukunftsfähig zu machen. Es bleibt zu wünschen und zu hoffen, dass die von ihm mitgetragene neue soziale Bewegung "Initiative Offene Gesellschaft" den etablierten politischen Parteien ordentlich Dampf unter den Hintern macht.

Harald Welzer:
Wir sind die Mehrheit.
Für eine offene Gesellschaft.
S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2017
FISCHER Taschenbuch
128 Seiten
8,00 EURO

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Quelle:
© 2017 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 15. August 2017

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