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BUCHBESPRECHUNG/114: "Cyberpsychologie. Leben im Netz" von Catarina Katzer (Sachbuch) (Klaus Ludwig Helf)


Catarina Katzer
Cyberpsychologie. Leben im Netz: Wie das Internet uns verändert

von Klaus Ludwig Helf, Juli 2016


Die Einführung des iPhones als mobiler Taschencomputer im Jahr 2007 löste durch den quasi permanent mitgeführten Internetzugang einen revolutionären Wandel in der Mediennutzung und generell im Kommunikationsverhalten aus. Die politisch-kulturelle und wirtschaftliche Bedeutung dieser Entwicklung wird zu Recht mit der Erfindung des Buchdrucks gleichgesetzt; die wissenschaftliche Erforschung der längerfristigen Auswirkungen dieser "digitalen Moderne" steckt wegen ihrer unglaublichen Rasanz noch in den Kinderschuhen. Die Sozialpsychologin und anerkannte Cyberspezialistin Catarina Katzer hat jetzt in einem Band den äußerst gelungenen Versuch unternommen, anhand bisheriger wissenschaftlicher Erkenntnisse den Zusammenhang von Netzwelt und Psyche des Menschen zu erklären.

Catarina Katzer hat nach dem Studium der Volkswirtschaft, Soziologie und Sozialpsychologie promoviert; ihre Schwerpunktthemen sind Cyberpsychologie und Medienethik. Sie arbeitet als Expertin u.a. für Kommissionen des Europarates, des Deutschen Bundestages sowie für Regierungsinstitutionen im In- und Ausland und lebt in Köln; Catarina Katzer ist Vorstandsvorsitzende des "Bündnis gegen Cybermobbing e.V." und Beraterin des "Committee on Culture, Science, Education & Media des Council of Europe" in Straßburg; sie begleitet wissenschaftlich Film-Projekte zu Cybermobbing und entwickelt gemeinsam mit dem Schulministerium NRW das Konzept für die "Landespräventionsstelle gegen Gewalt und Cybergewalt an Schulen"; ihre letzte Buch-Publikation war "Cybermobbing - Wenn das Internet zur Waffe wird" (2013).

Der Band ist übersichtlich und klar gegliedert. Nach einer knappen Einleitung folgen vier Kapitel mit den folgenden Themen: Das Internet als neues Koordinatensystem für unser Handeln / Was online mit unseren Gefühlen, unserem Denken und unserem Verhalten passiert / Das Internet als virtuelle Bühne / Wege aus der Netzfalle. Im Anhang finden wir ausführliche Anmerkungen und ein Literaturverzeichnis. Das psychologisch Besondere an der Internetweltwelt, der Aspekt der Anonymität und der physischen Abwesenheit, beeinflusse die Wahrnehmung und das Verhalten der Menschen ganz entscheidend - so die Hauptthese der Autorin:

"Dadurch, dass wir uns auf einer virtuellen Bühne bewegen, ohne physisch real agieren zu müssen, entsteht ein völlig neues Verhältnis zum eigenen Handeln. Um zu verhindern, dass wir zu oft in Netzfallen geraten, müssen wir uns selbst bewusst machen, wie sich der ständige Perspektivwechsel zwischen realem Alltag und virtuellem Lebensraum auf Identität, Emotionen und Verhalten auswirkt" (S. 11).

Durch wachsende Vielfalt und Masse beim Grad der Interaktivität, durch Schnelligkeit des Perspektivenwechsels und physische Anonymität und Abwesenheit verändere sich Raumwahrnehmung und Zeitempfinden, so dass die Gefahr einer Vermischung der verschiedenen realen und digitalen Erlebnisräume entstehe. Das Ziel ihres Bandes beschreibt Catarina Katzer wie folgt:

"Anhand netzpsychologischer Überlegungen möchte ich aufzeigen, was unser Gehirn online auf eine falsche Fährte führen, uns schaden und sogar krank machen kann; gleichzeitig aber auch Wege andenken, die uns zu kompetenten Cybernauten werden lassen" (S. 11).

Catarina Katzer will auch dazu beitragen, einen "virtuellen Kant des digitalen Zeitalters" (S. 313) zu entdecken, also Bausteine für eine neue digitale Medienethik entwickeln; diese solle als Instrument und Regelwerk nicht nur bei den Usern ansetzen, sondern auch bei den Medienunternehmen und bei den Providern und darüber eine kritische Medienöffentlichkeit herstellen. In dem Band geht sie anhand der aktuellen Forschungsergebnisse der Frage nach, welche Auswirkungen das Internet auf die menschliche Psyche hat, welche Nutzen, aber auch Gefahren von diesen ausgehen können. Neben den individuellen und gesellschaftlichen Veränderungen durch die vielfältigen Möglichkeiten der neuen Kommunikationstechnologien wie Internet, Smartphone und Co. werden insbesondere auch die vielfältigen Formen und Ursachen von Aggression, Gewalt und Kriminalität in der virtuellen Internetwelt untersucht.

Der virtuelle Raum des Cyberspace gaukele uns wegen der Anonymität und der fehlenden physischen Sichtbarkeit der Interaktionspartner (auch Opfer sind nicht sichtbar) eine Illusion von Privatheit vor; dies mache uns anfällig für eine "gewisse Netz-Naivität" (z.B. im Umgang mit der eigenen Privatsphäre) und damit auch für beleidigende und kriminelle Cyberattacken (u.a. Shitstorm, Mobbing, Stalking, Datenklau). Die Forschungsergebnisse kommen insgesamt zu folgendem Ergebnis:

"Die Mehrheit der Menschen handelt im Netz genauso wie im realen Leben. Der Mobber bleibt ein Mobber, der Pädosexuelle bleibt pädosexuell ... Wenn wir allerdings eine dunkle Seite haben, dann macht es das Internet leicht, sie auszuleben ... Die fehlende Sichtbarkeit der echten Reaktionen und Emotionen führt zu einer geringeren Fähigkeit, Empathie und Mitgefühl zu spüren. Auch muss eine Reaktion ja nicht sofort erfolgen. Dadurch entsteht beim Täter eine gewisse Distanz zum Online-Geschehen. Und auch dies fördert eine emotionale Abstumpfung und Desensibilisierung ... Auch weisen erste Forschungen darauf hin, dass die zunehmende Gewalt in den Online-Medien für das Leid anderer gleichgültiger machen kann" (S. 99).

Die personale und soziale Identität eines Menschen sei in seinem Leben keineswegs stabil festgelegt, sondern befinde sich in einem ständigen, lebenslangen Veränderungsprozess, wobei das soziale und gesellschaftlich-politische Umfeld eine entscheidende Rolle spiele; durch das Internet habe sich - so der aktuelle Stand der Forschung - unsere Identitätsbildung stark und radikal verändert:

"Wir bewegen uns heute in zwei gleichwertigen nebeneinander existierenden Lebensräumen, in unserer Offline- und unserer Online- Welt. Dadurch beeinflusst natürlich auch der Cyberspace den Prozess unserer Identitätsentwicklung" (S. 203).

Die so entstandene Patchwork-Identität könne durch das Hin-und-her- Switchen zwischen Online-und Offline-Identitäten zu Konflikten mit unserm Selbstbild führen:

"Das Netz ermöglicht uns zum ersten Mal das Erschaffen von Identitäten außerhalb unseres realen Umfeldes - in virtuellen Räumen. Und diese Identitäten sind 'echt', denn wir selbst füllen sie mit Leben ... Als Referenzpunkte für unsere Meinungen, Einstellungen, Beurteilungen oder konkretes Verhalten ziehen wir eben nicht mehr nur unser reales Umfeld in Schule oder Familie zurate. Vor allem bei der Frage, wer bin ich und wer will ich sein, was ist richtig und was ist falsch, orientieren wir uns immer stärker an Personen, den Peers, die wir im Netz treffen und mit denen wir connected sind" (S. 206/207).

Dadurch werde der Kreis des Bezugssystems für die Bildung unserer Identität erweitert, was sich insbesondere auf die junge Generation auswirke, die z.B. mit Facebook, WhatsApp und Co sozialisiert werde. Auch die menschlich ureigenen voyeuristischen Neigungen würden im Cyberspace reichlich befriedigt, wenn nicht funktionalisiert oder missbraucht; Zuschauen sei über das Internet zu einem Gemeinschaftserlebnis geworden:

"Journalisten werden gefoltert, und es wird gefragt: Bist du auch dabei gewesen? ... Durch die globale Verbreitung über ein Millionenpublikum werden Authentizität und Glaubhaftigkeit erzeugt, die wir gar nicht überprüfen können. Sie beeindruckt uns, macht uns dadurch auch zu leichtgläubig und lässt völlig falsche Bilder und Annahmen unserer Wirklichkeit entstehen ... Die Welt nur durch fremdes Bildmaterial vor einem Bildschirm wahrzunehmen, kreiert eine falsche Illusion von Wissen und Erfahrung" (S. 107/108).

Die massenhafte Verbreitung z.B. von Videos der IS-Terroristen gebe ihnen einen scheinbaren Grad von Wahrhaftigkeit, der es fast unmöglich mache, den Islam differenziert zu diskutieren (was ja auch die Absicht der Terroristen ist). Auf diese Weise würden wir durch voyeuristische Verführungen im Netz auf falsche Fährten gesetzt. Da Moral als Produkt unserer Gesellschaft über Lernprozesse weitergegeben wird, würden auch moralische Regeln und Übereinkünfte im virtuellen Raum "zum Teil stark" verändert; die Gefahr sei groß, dass über diesen immer intensiver werdenden Netz-Voyeurismus falsche Einstellungen zu einem allgemeinen "moralischen Mind-Set" werden. So sollte z.B. das Filmen von Toten am Straßenrand als Selfie keinenfalls zur Normalität werden, die man mit anderen teilen möchte; in der virtuellen Welt etabliere sich leider eine andere Moral; durch das Visuelle und Voyeuristische könnte ein Stück Humanität verloren gehen - befürchtet die Autorin:

"Wir machen Menschen durch das Element der Beobachtung zu einer Ware und rauben Sterbenden ihre Würde ... Durch ein Zuviel an Neugierde und voyeuristischen Neigungen können wir uns mitschuldig machen am Leid vieler Menschen, die zu Opfern seelenloser Täter werden oder ihren eigenen virtuellen Seelenstriptease irgendwann nicht mehr verkraften. Unser Online-Gewissen muss gestärkt werden" (S. 109/110).

Am Ende ihres Buches kommt Catarina Katzer zu einer differenzierenden Einschätzung der psychologischen Wirkungszusammenhänge des Lebens im Netz und mit dem Netz. Dieses könne für uns eine persönliche, individuelle und gesellschaftspolitische Chance sein, unser Leben in vielen Bereichen erleichtern und bereichern und andrerseits auch etwas ganz Essentielles stehlen:

"Es kann uns sehr unzufrieden machen und eine emotionale Entfremdung entstehen lassen. Das sind versteckte Kosten hinter der digitalen Invasion - unseres Arbeits - und Privatlebens, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen" (S. 312).

Aber was können wir tun, um aus der Netzfalle zu entfliehen? Wir sollten zu allererst - so die Autorin - mehr unseren Verstand gebrauchen, selbst denken, nicht alles hinnehmen oder unhinterfragt akzeptieren:

"Wir brauchen eine neue Zeit der Aufklärung. Sapere aude, also! ... Faulheit, so sagte ja schon Kant, sei der Grund, weshalb wir Menschen so gerne unmündig sind. Sich bestimmen und führen zu lassen, entlastet uns emotional und kognitiv und enthebt uns gleichzeitig jeglicher Verantwortung. Gegen diese Faulheit müssen wir angehen - gerade auch online" (S. 295).

Weiterhin sollen wir einen "digitalen Fernblick" entwickeln, mehr Netz-Verantwortung übernehmen und lernen, Nein zu sagen und uns selbst Grenzen zu setzen, denn Mensch-Maschine-Computer müsse kein Gegensatz sein. Catarina Katzer hat ein sehr gut lesbares und übersichtlich gegliedertes Buch über den virtuellen Raum als zweiter Lebenswelt geschrieben, das gerade auch für interessierte Medien- und Psychologie-Laien verständlich und nachvollziehbar ist; es sollte eine mahnende Pflichtlektüre werden für alle, die politisch-kulturell, medial wie pädagogisch Verantwortung tragen und die die digitale Zukunft gestalten wollen.


Catarina Katzer
Cyberpsychologie. Leben im Netz: Wie das Internet uns verändert
Dtv-Verlag (dtv premium) München 2016
352 Seiten
16,90 EUR

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Quelle:
© 2016 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Juli 2016

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