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BUCHBESPRECHUNG/097: "Der Wintertransfer" von Philipp Kerr (Thriller) (Klaus Ludwig Helf)


Philipp Kerr
Der Wintertransfer

von Klaus Ludwig Helf, Februar 2016


Philip Kerr, selbst begeisterter Fan vom FC Arsenal, hatte die geniale Idee, seinen neuen Thriller in der Welt des modernen Profi-Fußballs der englischen Premier-League spielen zu lassen: Milliardenschwere Oligarchen, die Clubs besitzen, millionenschwere, oft dümmliche Fußballjungs mit Popstar-Allüren und mit Püppchen-Frauen, mafiöse Strukturen in der FIFA und beim Spielertransfer, Klatsch und Tratsch, Sex and Crime, Hass und Häme, Begeisterung und Adrenalin pur. Wie immer in seinen Romanen vermischt Kerr reale und fiktive Figuren; es ist auch hier wieder spannend und amüsant zu erraten und zu entschlüsseln, wer sich hinter welchen Roman-Figuren versteckt und welche weiteren hintergründigen Anspielungen gemacht und welche Giftpfeile abgeschossen werden.

Philip Kerr (*1956 in Edinburgh) ist ein britischer Krimi-, Thriller- und Fantasy-Autor und Fußballfan. Nach dem Studium (Jura und Rechtsphilosophie) arbeitete er als Texter in einer Werbeagentur; 1989 erschien sein erster Roman «March Violets« (dt. «Feuer in Berlin«), der in den 1930er Jahren in Berlin spielt mit dem Privatdetektiv und Ex-Polizisten Bernhard Gunther, der während des Nazi-Regimes in der deutschen Hauptstadt ermittelt. Für seine Romane "Das Wittgensteinprogramm" und "Game Over" erhielt er jeweils den Deutschen Krimi Preis.

Der Kern der Geschichte ist kurz erzählt: Der Thriller spielt in der Hauptkulisse des fiktiven Premier-League-Clubs "London City" zur Zeit des Wintertransfers. Ein Mord am Cheftrainer des Clubs soll aufgeklärt werden, doch offensichtlich ist "New Scotland Yard" dazu nicht in der Lage. Deshalb wird der bisherige Co-Trainer und Vertraute des Ermordeten neben der Übernahme des Trainer-Chefpostens auch noch mit privaten Mordermittlungen beauftragt. Der Ich-Erzähler ist der vierzigjährige Co-Fußballtrainer Scott Mason bei "London-City"; er hasst Weihnachten, einmal wegen des traditionell vollgestopften Spielplans und dem sich anschließenden "Wintertransfer", zum anderen, weil er am 23. Dezember unschuldig wegen Vergewaltigung eingebuchtet worden war. Ein rassistischer Polizist, Mitglied der National Front, hatte ihm falsche Beweise untergeschoben; bis der Betrug aufflog, saß Scott achtzehn Monate unschuldig im Knast. Danach lebte er zunächst bei seinen Großeltern in Deutschland, studierte moderne Sprachen, absolvierte einen Trainerlehrgang und war dann als Assistenztrainer tätig, u.a. beim FC Barcelona und bei Bayern München. Sein jetziger Chef Jo’o Zarco holte ihn zu "London City", wo er sich um Training, Fitness und Fußballunterricht kümmert, während Zarco für die Spielphilosophie und Taktik, Spieler-Aufstellung und -Motivation, Entlassung, Einstellung und Transfers zuständig ist. Der machiavellistische und jähzornige Portugiese Zarco hat eine der größten Klappen in der Fußballwelt und verdient zehnmal so viel wie der beste Trainer in ganz Europa; er ist geliebt wie gehasst als der "Zauberer aus Portugal" mit seiner selbstbewussten, klaren und kantigen Spielphilosophie:

Das Ziel eines guten Trainers ist es, elf Arschlöchern zu zeigen, wie man wie ein Mann spielt. Aber wenn ich euch so anschaue, kommen selbst mir Zweifel. Jeder Trainer dieser Liga ist das Produkt seiner Zeit. Aber mal ehrlich: Ich bin der Einzige, der herausragt. Ich kann das Unmögliche möglich machen ... Das größte Arschloch ... bist du, Ron ... Ron, du musst so heiß sein auf den Ball wie auf die Titten deiner Mama, als du ein Säugling warst. (S. 36/37) 

Und es kommt noch drastischer und bösartiger in seiner letzten Motivationsrede, als er gegen den antriebslosen Stürmerstar Ayrton aufbraust: "Du spielst wie ein Kleinkind, nicht wie ein Mann ... Du bist ein Arschloch, das nicht mal zum Scheißen taugt." (S. 37) Zarco kann auch in politischen Dingen sehr direkt sein - so auch im Fernseh-Interview. Gefragt nach seiner Meinung über die Fußball-WM 2022 in Katar poltert er los über die völlig falsche Entscheidung der FIFA, in einem so winzigen Land "ein völlig belangloses Fußballturnier auszutragen" und vermutet Betrug und Bestechung:

Das ist Irrsinn! Mit Fußball hat das nichts mehr zu tun. Da geht es nur noch um Geld und Politik. Die letzte richtige Weltmeisterschaft war 1974, als Deutschland der Gastgeber war ... Und jetzt ist Katar Gastgeber. Alles daran ist falsch. Man weiß doch, dass Frauen es nicht leicht haben in einem arabischen Land ... dass das größte Stadion in Katar wie eine riesige Vagina aussieht.
Was für eine Ironie, dass die größte Vagina der Welt jetzt in Katar ist. Ich mag Vaginas ja sehr. Mein Leben hat in einer angefangen, wissen Sie? ... Dass es selbst im Winter noch zu heiß ist, um irgendwas anderes zu tun, als ein paar arme Kerle auszupeitschen, weil sie schwul sind. (S. 41) 

Daraufhin habe es drei Bombendrohungen gegen die Geschäftsstelle von "London City" gegeben. Schade, dass Jo’o Zarco im Roman zu früh sterben musste - diese zynische und ruppige, aber auch charmante Art, die sportliche, die gesellschaftlich-politische und die geschäftliche Welt des Profi-Fußballs zu kommentieren, ist genial.

Als Zarco tot im Stadion aufgefunden wird, ändert sich alles schlagartig. Für Scott Manson bricht eine Welt zusammen: "Ich liebte ihn, als wäre er mein älterer Bruder." (S. 33) Als designierter Nachfolger ist er voll damit beschäftigt, sein völlig deprimiertes Team für das bevorstehende Match wieder aufzurichten und im Auftrag des ukrainischen Oligarchen und Vereinsbesitzers den offensichtlichen Mord an Zarco aufzuklären. Und das möglichst schnell.

Im Gegensatz zu Zarco hat Manson subtile, pragmatisch und psychologisch fundierte Trainingsstrategien: "Ich bin kein Fußballphilosoph wie Jo’o Zarco, verstehen Sie? Wenn Sie mich fragen, trainiert man eine Fußballmannschaft am besten mit gesundem Menschenverstand. Und mit einem Schal um den Hals." (S. 73) Aber ähnlich wie sein Vorbild Zarco sieht er seine geliebte Welt des Fußballs durchaus mit kritischem Blick. So kriegen auch die jungen, verwöhnten Fußballer mit ihren Cremes und Haarprodukten in ihren Vuitton-Kulturtäschchen und ihren "verdammten Ferraris und albernen Lamborghinis" ihr Fett ab:

Ich kenne Fußballer, die sich weigerten, am Kopfballtraining teilzunehmen, weil sie am Nachmittag ein Shooting für Haarshampoo hatten ... Ich glaube, dass man mit einem Tritt in den Hintern und einem Witz weiterkommt als nur mit einem Tritt in den Hintern. (S. 33) 

Witz und z.T. auch kranker Humor sind für Scott Manson "absolut essenziell, wenn man eine Truppe überbezahlter junger Idioten trainiert. Das sorgt dafür, dass die mit den Flügeln halbwegs auf dem Boden bleiben und ordentlich spielen." (S. 77). Auch seine Rolle als frisch gebackener Cheftrainer sieht er durchaus selbstbewusst und selbstkritisch:

... heutzutage misst man einen Club nicht nur an den Spielerfolgen, sondern auch am Stil seines Trainers ... Es geht nicht immer nur um die Fotos der Spieler - auch das Image eines Trainers kann den Aktienkurs eines Clubs beeinflussen. Gewinnen allein reicht längst nicht mehr. Gewinnen und dabei gut aussehen, das ist die Essenz des Fußballs von heute. (S. 116) 

"Crowns of Thornes" - wie die Einheimischen das Stadion von London City am Silvertown Dock im Londoner East End nennen - ähnelt dem Vogelnest von Peking und kostete fünfhundert Millionen Pfund: "... aber das spielt keine Rolle, weil der Club einem ukrainischen Milliardär gehört, der anscheinend Geld scheißt." (S. 15) Er heißt Viktor Jewegenowitsch Sokolnikow, Platz fünfzig der Forbes-Liste und zwanzig Milliarden Dollar schwer. Er wird als eine ambivalente Figur geschildert, der einerseits nach Geld und Macht giert und vor Schmiergeldern in Millionenhöhe nicht zurückschreckt, aber auch einen durchaus kritischen Blick hat:

...im Fußball gibt es noch mehr Geld zu verdienen als je zuvor. Er ist wie ein Wal. Festgezurrt an der Seite eines Schiffes, das Weltwirtschaft heißt ... Fußball und Geld gehen Hand in Hand. Der Fußball ist zu einem wichtigen Marketing-Werkzeug geworden, vielleicht dem wichtigsten, das es zur Zeit gibt. Wo sonst erreicht man die wichtigsten Käufer der Welt, die Männer? Es sind Männer, die die großen finanziellen Entscheidungen zu Hause treffen ... Fußball ist die Lingua franca der modernen Welt" (S. 280) 

Um die Spannung im Vorfeld aufrecht zu erhalten, soll jetzt nicht mehr über die Lösung des Mordfalls und über die Liebesaffären berichtet werden. Es ist ein großartiger Thriller, der auch weniger fußballbegeisterte Leserinnen und Leser in den Bann ziehen wird. Kerr brilliert mit der satirischen, spitzzüngigen und streckenweise bösartigen Schilderung des Profi-Fußballs mit dessen Glanz- und Schattenseiten; aber auch die Begeisterung für das Spielen selbst kommt nicht zu kurz. Außerdem versteht es Kerr vorzüglich, die Welt des Fußballs mit einem dramatischen Spannungsbogen um die Aufdeckung eines Mordes zu verweben. Ein spannender Thriller, spritzig geschrieben, mit knackigen Dialogen und mit köstlichem, beißendem Humor.

Philipp Kerr
Der Wintertransfer
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2015
Tropen Thriller
425 Seiten
14,95 Euro

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Quelle:
© 2016 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Februar 2016

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