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BUCHBESPRECHUNG/047: Lena Muchina - Lenas Tagebuch. Leningrad 1941-1942 (Gerhard Feldbauer)


Tagebuch einer Heldin

Im von der Hitlerwehrmacht belagerten Leningrad schrieb die Schülerin Lena Muchina über den Glauben an den Sieg und den Kampf gegen den Hunger

von Gerhard Feldbauer, 23. September 2013



Neben dem Vormarsch auf Moskau und in den Kaukasus war die nach Lenin benannte zweitgrößte Stadt der UdSSR, in der die Oktoberrevolution 1917 siegte, strategisches Ziel des Überfalls der Wehrmacht im Juni 1941. Sie sollte auf Befehl Hitlers dem Erdboden gleich gemacht werden. Die Einnahme der Stadt im Frontalangriff scheiterte jedoch am hartnäckigen Widerstand der von der Leningrader Bevölkerung aktiv unterstützten Roten Armee. Auch standen nach dem Scheitern der Blitzkriegsstrategie der Wehrmacht vor Moskau nicht mehr genügend Truppen für die Fortsetzung der Offensive gegen Leningrad zur Verfügung. Die Stadt wurde von der Heeresgruppe Nord der Wehrmacht und finnischen Hilfstruppen am 8. September 1941 eingeschlossen. Nur über den Ladogasee existierte ein Verbindungsweg. Im Januar 1943 gelang es der Roten Armee die Belagerung südlich des Ladogasees teilweise aufzubrechen. Mit der Zerschlagung der deutschen Truppen bei Leningrad und Nowgorod wurde die Stadt an der Newa am 27. Januar 1944 völlig befreit.


1,1 Millionen Menschen verhungerten

Die Belagerung dauerte 872 Tage. Nach sowjetischen Angaben starben in dieser Zeit 632.253 Zivilisten. 300.000 bereits im ersten Hungerwinter 1941/42. Historiker gehen heute jedoch davon aus, dass etwa 1,1 der drei Millionen Einwohner ums Leben kamen, von denen die meisten verhungerten. Der massenhafte Tod durch Verhungern war ein direktes Ziel der faschistischen Belagerung und eines der barbarischsten Kriegsverbrechen Hitlerdeutschlands.

Über das Leben im eingeschlossenen Leningrad, vor allem das furchtbare Leiden unter dem Hunger, hat die bei Beginn der Belagerung 16 Jahre alte Schülerin Lena Muchina ein Tagebuch geführt, das der Münchener Graf-Verlag jetzt, betreut von der in Deutschland lebenden Publizistin Lena Gorelik und dem Historiker Gero Fedke, veröffentlichte. Der Verlag nennt Lena Muchina, "Eine russische Anne Frank", ihre Aufzeichnungen "das berührende, unsentimentale Tagebuch von 1941 bis 1942 eines sechszehnjährigen Mädchens, das die Belagerung von Leningrad überlebte."


Eine ganz normale Schülerin der Sowjetunion

Lena begann ihr Tagebuch bereits am 22. Mai 1941, einen Monat vor dem Überfall auf die UdSSR. Sie fühlte sich zur Literatur hingezogen und ihr großes Vorbild war Petschorin in Michail Lermontows Roman "Ein Held unserer Zeit". Der erste Satz, den sie am Abend vor der Literaturprüfung in das Tagebuch notiert, lautet: "Ich bin um fünf Uhr früh ins Bett gegangen, habe die ganz Nacht Literatur gelernt." In den Aufzeichnungen seit Beginn des Krieges lernt der Leser eine Heldin kennen, deren Haltung wohl für die meisten, die in Leningrad litten und starben und die wenigen Überlebenden typisch ist. Schon dass Lena dieses Tagebuch führte, zeigt sie als eine Heldin. Aber sie ist ebenso eine ganz normale Schülerin der Sowjetunion, wie viele ihrer Altersgefährten durch den Krieg eine frühreife Jugendliche. Sie ist eine Waise, die bei ihrer Pflegemutter (die für sie eine liebevolle Mama ist) und einer Bekannten in einer Gemeinschaftswohnung lebt. Es kommt der 22. Juni 1941, an dem die deutsche Wehrmacht in ihr Heimatland einfällt. Sie ist empört und entsetzt über diesen heimtückischen Überfall, glaubt aber, dass die Rote Armee den Feind bald zurückschlagen wird. Es gibt Resignation, aber immer wieder überwindet sie diese. Sie arbeitet zunächst als Sanitäterin in einem Lazarett, geht später wieder zur Schule. Sie dichtet, über die erste enttäuschte Liebe:

"Mein Leben lang an dich denken werde ich.
Dich nicht mehr lieben - kann ich nicht.
Niemals vergessen werde ich dich,
Mit Leid denk ich an dein Gesicht."

Auch andere poetische Zeilen des Tagebuches zeugen vom literarischen Talent der 16-17jährigen.


Herzerschütternde Berichte über qualvolles Sterben

Am 21. November 1941, ihrem 17. Geburtstag, schreibt sie: "Wann werden wir wieder satt sein? Wann hört diese Qual auf?". Sie empfindet Hass und Abscheu über die Faschisten, die sie hungern und leiden lassen, träumt davon, dass die Angreifer zurück geschlagen werden. Mit Jubel schreibt sie über die ersten Erfolge der eigenen Truppen bei Moskau. Am 14. Dezember heißt es: "Bei Moskau sind die Deutschen vernichtend geschlagen worden. Der zweite Großangriff der Deutschen auf Moskau ist gescheitert."

Sie schildert die Schrecken des Hungers im Winter 1941/42. Strom und Gas fallen aus, Wasser gibt es nur stundenweise, tägliche Luftangriffe, die deutsche Artillerie erreicht die Stadt. Die nicht in der Produktion arbeitenden Einwohner erhalten täglich nur noch 200 Gramm Brot, in Gemeinschaftsküchen etwas Wassersuppe. Hunde und Katzen werden geschlachtet. "Es wäre gut, irgendwo noch eine Katze aufzutreiben, dann hätten wir wieder genug für lange Zeit" (18. Dezember 1941). Aus Tierknochen hergestellter Tischlerleim wird verzehrt.

Am 3. Januar 1942 schreibt Lena: "Uns bleibt nichts mehr übrig, als uns hinzulegen und zu sterben. Von Tag zu Tag wird es immer schlechter" Eine Woche später: "Wir werden jeden Tag schwächer. Mama und ich bemühen uns, möglichst wenig Energie zu verbrauchen. Wir sitzen und liegen viel." Dann kommen die ergreifenden, herzerschütternden Berichte über das qualvolle Sterben von Verwandten und Nachbarn.

Vier Tage vor einer Erhöhung der Brotration stirbt ihre Mama. "Gestern Morgen ist Mama gestorben. Ich bin nun allein" (8. Februar 1942). "Wie schwer es allein ist! Ich bin doch erst 17 Jahre alt. Meine gute, liebe, allerliebste Mama. Nur noch ein paar Tage, und du hättest erlebt, wie sich die Lage bessert" (11. Februar). Der Schmerz vergeht nicht: "Mamotschka, Mamusia, du hast nicht durchgehalten, du bist gestorben. Mamulja, Mamontschik, meine allerliebste Freundin. O Gott, wie grausam das Schicksal ist, so sehr wolltest du leben."

Das Tagebuch endet am 25. Mai 1942 mit den letzten Aufzeichnungen: "Mit jedem Tag werde ich immer schwächer, die letzten Reste meiner Kräfte versiegen mit jeder Stunde." Im Juni 1942 wird Lena auf dem Verbindungsweg über den Ladogasee evakuiert und kommt danach zu Verwandten nach Gorki. Nach Kriegsende lebte sie einige Zeit wieder in Leningrad, ging 1950 auf eine Großbaustelle in Sibirien, zog dann nach Moskau, wo sie am 5. August 1991 mit 66 Jahren verstarb. Einen Monat später, am 6. September, erhielt Leningrad den Namen der Zarenmetropole Sankt Petersburg zurück, vier Monate danach erklärte Boris Jelzin das Ende der Sowjetunion. Man kann nur schlussfolgern, dass es Lena Muchina auf ihrem nicht einfachen Weg durch das Leben nach dem Krieg nicht vergönnt war, sich ihren literarischen Neigungen zu widmen, zum Beispiel durch ein entsprechendes Studium. Ein Tagebuch hat sie, soweit bekannt, nie wieder geschrieben.

Erst nach ihrem Tod wurde das Leningrader Tagebuch in einem Moskauer Archiv gefunden. Die Herausgeber ergründeten Identität und weiteren Lebensweg von Lena Muchina und veröffentlichten ihr Tagebuch.


Lena Muchina: Lenas Tagebuch. Leningrad 1941-1942. Aus dem Russischen übersetzt und mit Vor- und Nachwort sowie Anmerkungen von Lena Gorelik und Gero Fedtke. Graf Verlag, München 2013. 375 S., 18 Euro (D), 18,50 (A). ISBN 978-3-86220-38-8.

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Quelle:
© 2013 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. September 2013