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BUCHBESPRECHUNG/031: Ein Herr, doch kein Hirte - Hubertus Mynarek blickt in Luthers Abgründe (Ingolf Bossenz)


Ein HERR, doch kein Hirte

Hubertus Mynarek blickt in Luthers Abgründe

Von Ingolf Bossenz, 7. April 2012



Sein Diktum vom Charakterbild, das, »von der Parteien Gunst und Hass verwirrt«, in der Geschichte schwankt, machte Schiller an Wallenstein (1583-1634) fest.

Nicht weniger treffend passt es auf einen Mann, der 100 Jahre vor Wallenstein zur Welt kam und ohne den es des Friedländers Kriegszüge nicht gegeben hätte: Martin Luther (1483-1546). Die Rasanz, mit der sich Europa zwischen dem Thesenanschlag zu Wittenberg 1517 und dem Mordanschlag zu Eger 1634 gewandelt hatte, wäre ohne das Agieren und Agitieren des einstigen Augustinermönchs undenkbar. Den Dreißigjährigen Krieg konnte Luther indes ebenso wenig voraussehen wie die nunmehr fast 500-jährigen Kontroversen um sein Wirken und Werk.

Für Margot Käßmann, Luther-Botschafterin der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) für das Reformationsjubiläum 2017, ist Luther ein »Vorbild mit all seinen Schattenseiten«, ein »evangelischer Heiliger«. Denn, so die ehemalige EKD-Ratsvorsitzende, »ein Heiliger ist nach Luther kein perfekter Mensch, sondern ein Mensch, der weiß, dass er ganz und gar auf Gottes Gnade und Liebe angewiesen ist«. Gleichwohl ruft Käßmann dazu auf, »einen zeitgemäßen klaren und das heißt auch: kritischen Blick auf den Menschen, den Reformator und den Politiker Luther zu werfen«.

Mit dem einen »kritischen Blick« ist es indes für Hubertus Mynarek nicht getan. Der im rheinland-pfälzischen Odernheim lebende Religionswissenschaftler legt in seinem neuesten Buch (»Luther ohne Mythos«) nicht weniger bloß als - so der Untertitel - »Das Böse im Reformator«. Wer die Werke des produktiven Autors (am Karfreitag beging er seinen 83. Geburtstag) kennt, weiß, dass Mynarek nicht der Mann fürs »Ausgewogene« ist. Der ehemalige Dekan der Katholisch- Theologischen Fakultät der Universität Wien, der 1972 als erster Theologieprofessor im deutschsprachigen Raum die Romkirche verließ, holt sein Material zielsicher aus jenen Kisten, die zwar allgemein zugänglich sind, aber von den Mainstream-Medien meist gemieden werden, als wären sie Büchsen der Pandora. In brillierender Polemik demontierte er so bereits mediale Mythen um die Päpste Johannes Paul II. und Benedikt XVI.

Nun also Luther und »seine vergessenen, verdrängten, öffentlich tabuisierten und totgeschwiegenen Aspekte«, die der Autor »ohne alle Einschränkungen und Verschleierungen« aufzuzeigen verheißt. Und da kommt eine Menge zusammen. Akribisch erkundet Mynarek kapitelweise, wie Luthers Verhältnis war: zum Papst; zu den Bauern; zu den Ketzern, Hexen, Sektierern; zu Juden und Frauen; zur Sexualität und zum Staat; zu Vernunft und Willensfreiheit sowie - zu Gott.

Gutes, man ahnt es, wird bei diesen Erkundungen nicht zutage gefördert. Indes dürfte es schwer fallen, den von Mynarek aufgetürmten Berg von Anklagen, Vorwürfen und Verdikten mit redlichen Mitteln abzutragen. Denn Mynareks Kronzeuge gegen Luther ist in allen Fällen - Luther selbst. Dessen Schriften, Briefe und sonstigen erhaltenen und bewahrten Zeugnisse bilden die Basis für diese Streitschrift. Und sie offenbaren Erschreckendes.

Wie Luther mit den aufständischen Bauern umzuspringen gebot und was er den Juden anzutun riet, ist weder neu noch wird es von der evangelischen Kirche tabuisiert. Aber die geballte Vorführung der »mörderischen Hasstiraden und praktischen Vernichtungsanleitungen« (Mynarek) macht deutlich, welche Geschichtsschuld Luther sowohl bei der Verteufelung alles Revolutionären wie bei der Verfestigung des Antisemitismus auf sich geladen hat.

Mynareks mit alttestamentarischem Furor geführte Schläge legen Seite um Seite den Glutkern frei, aus dem sich Luthers vertrackte und verhängnisvolle Sichten auch auf Frauen und Sexualität, auf Staat und Obrigkeit, auf Philosophie und Willensfreiheit speisen: ein von Willkür, Irrationalismus und Gewalttätigkeit geprägtes Gottesbild. Kein »lieber Gott«, sondern ein dem Begriff »Gottesfürchtigkeit« entsprechendes Herrscherwesen, das mittels Angst und Schrecken absolute Unterordnung einfordert. Das dem Menschen keine Möglichkeit lässt, in Eigenverantwortung einen Weg zu diesem Gott zu finden, wie es doch auch evangelische Theologen immer wieder postulieren. Ein Gott, der - wie Luther selbst unumwunden zugab - »untragbar für die menschliche Natur ist«. Denn, so der englische Kirchenhistoriker und Theologe Diarmaid MacCulloch in seinem epochalen Werk »Die Reformation«, Luther »hasste nicht nur Aristoteles (einen der genialsten griechischen Philosophen - I. B.), sondern auch die Vorstellung, dass Gott guten Werken oder menschlichem Verdienst irgendeinen Wert beimesse«. Ein HERR. Doch kein Hirte.

Die fatalen Folgen in Form von Obrigkeitsfetischismus, menschlicher Selbstverachtung (der Philosoph Ernst Bloch zählte Luther zu den »großen Selbsthassern«), fatalistischer Schicksalsergebenheit zählen gewiss nicht zu den Ruhmesblättern 500-jähriger postreformatorischer Kirchengeschichte. Dass Hubertus Mynarek sie in massiver Form und ohne jedes relativierende Beiwerk serviert, verstört. Und stört - den unbefangenen, den wohlwollend-würdigenden, erst recht den huldigenden Blick auf das Denkmal Luther.

Luther hat historisch eine Menge gewirkt und bewirkt, vieles, was er gar nicht beabsichtigte. In seinem Namen wurde geredet, geschrieben, gehandelt - positiv wie negativ und oft ohne Recht auf diese Berufung. Die evangelische Kirche ist heute keine kritiklose Vollstreckerin von Luthers Schriften. Wie die katholische Kirche hat sie sich, über die Jahrhunderte, zivilisiert und domestiziert. Aber all das ändert nichts daran, dass das Fundament ihres Glaubens und ihrer Theologie nach wie vor Werk und Wirken ihres Gründers sind, dass sie sich unverdrossen auf diesen beruft und ihn feiert. Deshalb ist Mynareks Buch wichtig. Ein einseitiges Buch, gewiss. Aber diese Seite sollte jeder an Luther und dessen Kirche Interessierte kennen.


Hubertus Mynarek: Luther ohne Mythos. Das Böse im Reformator. Ahriman-Verlag Freiburg. 120 S., br., 12,80 EUR.

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Quelle:
Ingolf Bossenz, April 2011
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen Genehmigung des Autors.
Erstveröffentlicht in Neues Deutschland vom 07.04.2012
URL: http://www.neues-deutschland.de/artikel/223490.ein-herr-doch-kein-hirte.html


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. April 2012