Schattenblick →INFOPOOL →BUCH → LYRIK

REZENSION/001: Arthur Rimbaud - Illuminations/Illuminationen (SB)


Arthur Rimbaud


"Illuminations / Illuminationen"

übersetzt von Rainer G. Schmidt



Vom Ringen um Worte zur Mühe, zum Verständnis zu gelangen...

Jean-Nicolas-Arthur, kurz Arthur, Rimbaud wird am 20. Oktober 1854 in Charleville in den Ardennen geboren. Sein Vater, ein Offizier, verläßt die Familie, er wächst mit Mutter und drei Geschwistern auf. Früh schon gilt er als hochbegabt, gewinnt Schulpreise und überspringt ein Jahr. Verbunden mit der gründlichen französischen Schulbildung jener Zeit, die viel Wert auf Sprache und Literatur legt, erklärt dies schon einen Teil seiner heute als erstaunlich geltenden sprachlichen Leistungen - der frühe Erfolg motiviert. Im Alter von 13 Jahren verfaßt Rimbaud einen Gratulationsbrief in lateinischen Hexametern zur Erstkommunion des Kronprinzen, gewinnt ein Jahr später einen schulischen Gedichtwettbewerb mit einem, ebenfalls auf lateinisch verfaßten, Gedicht, was ihn sicher in seinem Interesse und seinen Aktivitäten weiter bestätigt hat. Hinzu kommen Neigung sowie Förderung durch seinen Lehrer Izambard, der selbst dichterische Ambitionen hegt und ihn mit entsprechender Literatur versorgt. Schon in sehr jungen Jahren versucht er, Kontakt zu Dichterkreisen aufzunehmen und bietet seine Gedichte zur Publikation an, wird jedoch enttäuscht, was sicherlich abgesehen von seinen sozialistischen Ideen seine Haltung gegenüber den Dichtern der klassischen Schule mit prägt. Er ist alles andere als ein angepaßter braver Schüler und Sohn. Mehrfach reißt er aus Richtung Paris, erhält Kontakt zum etwa zehn Jahre älteren Paul Verlaine, einem bereits anerkannten Dichter, aus dem schließlich eine intime und konfliktgeladene Freundschaft erwächst. Er tritt - zu jung - in die Nationalgarde ein, um gegen die Deutschen zu kämpfen, sympathisiert mit der Commune und erlebt die Zeit nach ihrer blutigen Niederschlagung durch die herrschende Klasse, die Razzien, Verhaftungen, Hinrichtungen, Prozesse, Deportationen, die großenteils gleichfalls mit dem Tod enden. Rimbaud hat im Gegensatz zu den etablierten Dichtern seiner Zeit den Volksaufstand und das Massaker von Paris nicht spurlos rationalisieren können und zu einer bürgerlichen Normalität übergehen, die ihm schon vorher einige Schwierigkeiten bereitet hat. Gleichwohl stürzt er sich - wie man heute sagen würde - ins Private und reibt sich in der Beziehung zu Verlaine auf. Gemeinsam ziehen sie durch Europa, Verlaine landet schließlich im Gefängnis, weil er einige Schüsse auf Rimbaud abgibt. Rimbaud seinerseits zieht sich 1873 auf ein kleines Gut seiner Familie zurück und arbeitet an "Une Saison en Enfer" - einer weniger Aufarbeitung, als weiteren Dramatisierung seines Verhältnisses zu Verlaine und des eigenen Gemütszustandes. Er läßt das Werk drucken, kann aber den Drucker nicht bezahlen; so verteilt er nur einige wenige Exemplare an Freunde. Als Dichter bleibt er zunächst weiter erfolglos. Der Durchbruch erfolgt erst mit der Veröffentlichung seiner "Illuminations" durch Verlaine im Jahre 1886. Da ist er schon lange fort, in Nordafrika in den Diensten eines Handelsherrn, und hat sich - von der Dichtung zumindest - völlig abgewendet. In dieser Zusammenstellung sollen die "Illuminations" im Jahre 1874 entstanden sein, was nicht ausschließt, daß eine Reihe der dort vereinten Texte früheren Datums sind. Diese Sammlung wiederum soll Rimbaud im Jahre 1875 Verlaine übergeben haben, als dieser ihn in Stuttgart besuchte, wo er sich zu Sprachstudien aufhielt. Rimbaud ist zu dieser Zeit 20 Jahre alt.

Bei den "Illuminations", handelt es sich - wie bei "Une Saison en Enfer" - um Prosagedichte, "poèmes en prose" (in zweisprachiger Ausgabe: vorn Deutsch, hinten Französisch). Der Definition nach ist dies eine neuere literarische Kurzform, die sich von der Lyrik nur dadurch unterscheidet, daß der Endreim und die Einteilung in Verse fehlen. Der zugrundeliegende Stoff wird hier dem Anspruch nach sprachlich rhythmisiert, klangvoll und in eindrücklichen Bildern zum Ausdruck gebracht. Das nur zur kurzen Information. Wieweit Rimbaud sich an diese Vorgaben gehalten hat, soll an dieser Stelle nicht weiter untersucht werden. Dennoch muß man sich vielleicht mit dem Gedanken vertraut machen, daß der Begriff Prosagedicht sowie die ihm unterstellte Form hier vielleicht nichts als eine Ausrede darstellt, ein Etikett für eine Ausdrucksform, die anderenfalls höchstens ein Tagebuch füllen würde. Nur handelt es sich um einen inzwischen gerühmt- berüchtigten Dichter, an dem sich schon so manche Phantasie entzündet hat. Auch die des Übersetzers, Rainer G. Schmidt, der "auf diese Energie der Texte selber setzen" will und damit eifrig zum mythischen Sockelbau beiträgt, vom dem Rimbaud doch eigentlich endlich mal herunter müßte:

Diese Übersetzung versucht, ohne den Gebrauch von Holzhammer und Zeigefinger, der Lust Rimbauds zu folgen, seine poetische Sprache zu schärfen und zuzuspitzen - und wieder im Stich zu lassen. Und Rimbaud zu folgen heißt, mit ihm unterwegs zu sein, die Dynamik seiner Reise mitzuvollziehen; die "Illuminations" enthalten ja Fetzen wirklicher Reisen (und haben insofern "biographische" Anhaltspunkte). Aber erst, indem sie imaginierte und noch kommende Bewegungen einbeziehen, erlangen sie die Fähigkeit, sich immer wieder neu aufzuladen, Sprach-Batterien. Weniger dem Mythos huldigen, als auf diese Energie der Texte selber setzen, auf ihre bleibende Leuchtkraft, überreich an Präsenzen. Texte, die sich aus ihrem eigenen Dunkel heraus immer wieder neu erleuchten, um uns als Lesende neu zu finden (und zu er-finden). Dem Wiedergänger Rimbaud eine neue Umschrift.
(S. 163/164)

Im Gegensatz zu allen versuchten späteren Interpretationen der "Illuminations" als "Erleuchtungen", hat der Dichter selbst einen recht nüchternes Leitwort für diese Sammlung gewählt: Farbstiche. Nun mag es stimmen, daß - wie der Übersetzer anmerkt - weder im Französischen, noch im Englischen eine Verbindung zwischen dem Begriff "illumination" und dem des Farbstichs zu finden ist, gleichwohl wundert die Begriffswahl weniger, wenn man bedenkt, daß Illuminieren im Mittelalter das Ausmalen von Handschriften und die Herstellung von Buchmalereien bezeichnete, der Illuminator somit der "Ausmaler" war, der eine Schrift oder Darstellung verschönte, verdeutlichte oder erhellte und Rimbaud des Lateinischen mächtig sowie ausgesprochen belesen war.

Gehen wir also diesem Begriff angenähert von Schlaglichtern aus, die der Dichter auf Situationen und Zusammenhänge zu werfen sucht, von Ausmalungen seiner Gedanken, Phantasien, Befürchtungen und Wünsche - kurz Reflexionen genannt. Die knappen Texte stellen sich dementsprechend als mehr oder weniger eindeutige oder in letzterem Fall auch gern als "dunkel" bezeichnete "Dichtung" in Form von Schilderungen und Assoziationsketten dar, die dem Leser manchmal rätselhaft bleiben und die sich auch dann nicht immer erschließen, wenn man sich ihnen ausführlich und detektivisch widmet. Wie ein Maler versucht Rimbaud das, was er sieht, und zugleich seine Empfindungen in Worte zu fassen, in Form dramatischer Ausbrüche und Textcollagen. Es gelingt ihm nicht unbedingt, allgemeinverständlich zu sein. Möglicherweise scheitert er in seinem Bemühen, doch ist zugleich fraglich, wieweit er dies überhaupt anstrebt. Seine Wortkombinationen und -schöpfungen sind situationsbedingt und selbstreflexiv. Gleichzeitig hat der Dichter ganz offensichtlich ein Interesse an der Verklärung und am Geheimnisvoll-Dramatischen. Kennt man die Umstände und seine Art sich auszudrücken nicht, wird es schwierig.

An dieser Stelle kommt dem Übersetzer die Rolle eines Vermittlers zu, der um Aufklärung bemüht ist. Zwar schafft er das Werk im Grunde neu, sucht jedoch auch, die größtmögliche Entsprechung zu finden. Jede Neuübertragung muß sich zwangsläufig auch mit den vorangegangenen auseinandersetzen, will sie sich nicht selbst ad absurdum führen. Dennoch ist es für den Übersetzer unerläßlich, sich auf gewisse Weise frisch an das Original heranzumachen und es neu in dem Bewußtsein zu deuten, daß es zwischen Mensch und Mensch zwar keinerlei Verbindung (der Sender ist vom Empfänger schon der Definition nach getrennt), aber dennoch eine Möglichkeit der Annäherung gibt, indem man versucht, sich mit Hilfe der vorgegebenen Daten (Gedicht) so weit wie möglich in den anderen und in die beschriebene Situation hineinzuversetzen. Eine nüchterne Herangehensweise müßte dabei eigentlich unerläßlich sein.

Ein Beispiel für eine in diesem Sinne mißlungene Übersetzung läßt sich dem Gedicht "Démocratie" entnehmen, das imperiale Eroberung anprangert, damals wie heute deutlich.

Rimbaud schreibt:

"Le drapeau va au paysage immonde, et notre patois étouffe le tambour.
"Aux centres nous alimenterons la plus cynique prostitution. Nous massacrerons les révoltes logiques.
"Aux pays poivrés et détrempés! - au service des plus monstrueuses exploitations industrielles ou militaires.
..."
(S. 135)

Der Übersetzer R. G. Schmidt schreibt:

"Die Fahne gerät in dreckiges Land, und unser Kauderwelsch erstickt die Trommel.
In den Zentren züchten wir die zynischste Prostitution. Wir massakrieren dann die logisch folgenden Revolten.
Auf in die gepfefferten und weichgemachten Länder! - im Dienst der monströsesten Ausbeutungen von Industrie oder Militär.
..."
(S. 71)

Was im Himmel sind "gepfefferte Länder"? Was hat der Weichmacher hier zu suchen? Leider muß man schon dankbar dafür sein, wenn dann nicht daraus auch noch die Länder werden, in denen der Pfeffer wächst - eine durchaus angebotene Übertragungsvariante. Wieviel Beliebigkeit will man sich zugestehen? Auch, wenn Pfeffer ehemals ein sprichwörtlich teures Gewürz war, ist kaum davon auszugehen, daß der Dichter hier den kolonialen Raubzug zum Erwerb von Pfeffer anspricht oder die Länder als abgelegen und unbedeutend kennzeichnen wollte. Nein, ganz einfach, es sind die Länder, die bereits betrogen und über den Tisch gezogen wurden, die sich von vornherein in der schwächeren Position befinden. Und dann macht die Zeile Sinn:

In die betrogenen und geschwächten Länder!


Wie sehr dem Übersetzer an Ver- statt an Erklärung gelegen scheint, läßt sich ganz gut an dem vergleichsweise einfachen Text "Brücken" zeigen. Nehmen wir doch Rimbaud ernst und gehen von Gravuren, von Farbstichen aus, namentlich von Bildern. Rimbaud unternimmt den Versuch, eine Szene, die zu sehen und zu hören ist, in Worte zu fassen: ein Schauspiel.

Les Ponts

Des ciels gris de cristal. Un bizarre dessin de ponts, ceux-ci droits, ceux-là bombés, d'autres descendant ou obliquant en angles sur les premiers, et ces figures se renouvelant dans les autres circuits éclairés du canal, mais tous tellement longs et légers que les rives, chargées de dômes s'abaissent et s'amoindrissent. Quelques-uns de ces ponts sont encore chargé de masures. D'autres soutiennent des mâts, des signaux, de frêles parapets. Des accords mineurs se croisent, et filent, des cordes montent des berges. On distingue une veste rouge, peut-être d'autres costumes et des instruments de musique. Sont-ce des airs populaires, des bouts de concerts seigneuriaux, des restants d'hymnes publics? L'eau est grise et bleue, large comme un bras de mer. - Un rayon blanc, tombant du haut du ciel, anéantit cette comédie.
(S. 100)


Die Brücken

Graue Kristallhimmel. Bizarr zeichnen sich Brücken ab, diese gerade, jene gewölbt, andere wiederum führen auf erstere herab oder schneiden sie in schiefen Winkeln, und diese Figuren wiederholen sich in den weiteren hell erleuchteten Windungen des Kanals, doch sind allesamt derart lang und leicht, daß die mit Domen beladenen Ufer sich senken und schmälern. Auf manche Brücken drückt noch altes Gemäuer. Andere stützen Masten, Schilder, brüchige Geländer. Moll-Akkorde kreuzen sich und verfliegen, Saiten steigen die Hänge hinan. Man erkennt ein rotes Wams, vielleicht auch andere Kostüme und Musikinstrumente. Sind dies Volksweisen, Fetzen von Gutsherren-Konzerten, Überreste von Nationalhymnen? Das Wasser ist grau und blau, breit wie ein Meeresarm. - Ein weißer Strahl schießt vom Himmel herab und löscht diese Komödie aus. (S. 33)

Manche der Texte, vor allem die Stadtansichten, wirken in der Tat wie Gravuren, so zum Beispiel "DIE BRÜCKEN": eine verwirrende Text- Zeichnung fragiler "Figuren", die sich zugleich als musikalische Gebilde lesen lassen: "Moll-Akkorde kreuzen sich und verfliegen, Saiten steigen die Hänge hinan." Das Bild ist in eine äußere Beleuchtung getaucht ("les autres circuits éclairés"), doch wird diese harmonisch ausgewogene Klang- und Lichtregie durch den brutalen Einbruch einer weiteren Lichterscheinung jäh zerstört: "Ein weißer Strahl schießt vom Himmel herab und löscht diese Komödie aus."
(Aus dem Nachwort, S. 157)


Nein, gerade dieser Text ist alles andere als verwirrend, und die Figuren, sagen wir die Muster, die die Brückenverläufe im Auge des Betrachters Rimbaud erzeugen, lassen sich keinesfalls als musikalische Gebilde - womöglich am Himmel schwebende Noten - lesen. Es ist eine einfache Szene: Der Kanal mit seinen mehr oder weniger im Sonnenlicht liegenden Windungen, der Himmel grau. Eine Vielzahl von Brücken bildet aus der Ferne oder vielleicht von einer Anhöhe, einem höheren Stockwerk aus betrachtet, ein bizarres Muster. Aus der Ferne hört man Musik, in Bruchstücken nur, und der Betrachter beginnt sich zu fragen, was es ist, das er da hört. Und gleichzeitig erspäht er eine Gruppe Menschen mit Musikinstrumenten, die die Böschung hinauf- oder hinunterziehen, die dort mit Seilen gesichert ist. Dann dringt ein Sonnenstrahl durch die Wolkendecke und taucht den Kanal in so helles Licht, daß sich die Szene verwischt.

Brücken

Der Himmel grau wie Kristall. Ein bizarres Muster von Brücken: diese gerade, jene gewölbt, andere wieder führen zu ersteren hinab oder schwenken seitlich im Winkel auf sie zu, und diese Figuren wiederholen sich in anderen erhellten Windungen des Kanals, doch alle so lang und leicht, daß sich die mit Kuppeln beladenen Ufer senken und schwinden. Einige dieser Brücken tragen verfallene Gebäude. Andere halten Maste, Signale, zerbrechliche Geländer. Mollakkorde kreuzen sich und verklingen; Seile spannen sich über die steile Böschung. Man erkennt eine rote Jacke, noch mehr Kostüme vielleicht und Musikinstrumente. Sind es bekannte Melodien, Fetzen herrschaftlicher Konzerte, Überreste von Volksweisen? Das Wasser ist grau und blau, weit wie ein Meeresarm. - Ein weißer Strahl fällt aus der Höhe des Himmels und wischt dieses Schauspiel fort.
(Übersetzung MA-Verlag)


Es mag sein, daß Rimbaud die Worte fehlten, die Szenerie ungebrochen vor dem Auge des Lesers erstehen zu lassen. Ganz sicher ist jedoch, daß der Übersetzer in seiner Funktion als Vermittler nicht zur Verwirrung beitragen sollte. Es tut dem Dichter, gleich wie man ihn einschätzen mag, einfach von vornherein unrecht und widerspricht zudem den von R.G. Schmidt zu Beginn seines Nachworts zustimmend zitierten Worten:

Louise Varèse hatte im Vorwort zu ihrer 1957 erschienenen Neu- Übersetzung der "Illuminations" ins Englische folgendes bemerkt: "Ich wünsche oft, wenn ich einige Exegeten von Rimbaud lese, daß dieser die Vorschrift von Aloysius Bertrand als Motto über seine 'Illuminations' gesetzt hätte: 'Hier ist mein Buch, so, wie ich es gemacht habe und so, wie man es lesen soll, bevor die Kommentatoren es mit ihren erhellenden Bemerkungen verdunkeln.'"
(S. 155)

Um damit noch einmal auf die grundsätzliche Frage der Darstellung und Übermittlung zurückzukommen: Wenn man bedenkt, wie schwierig - bei den Grundlagen, die wir als Menschen haben - Verständigung überhaupt ist, dann bedarf es der ganzen Mühe des Dichters, sich präzise auszudrücken - wenn er denn weiß, was er sagen will - und dieses wiederum dem Leser zu vermitteln - es sei denn, er verzichtet darauf, gelesen zu werden und verwendet Dichtung zum eigenen Erkenntnis- oder sonstigen Gewinn. Hier ist schon ansatzweise zu erkennen, wieviele Bruchstellen es bei der Vermittlung beziehungsweise eigentlich schon bei der Erstellung eines Gedankenganges gibt, die wiederum die Möglichkeit verstanden zu werden, ganz grundsätzlich infrage stellen. In diesem Raum bewegt sich der Übersetzer, und es wäre weit hilfreicher, sich auf das vorhandene oder zu entwickelnde Instrumentarium zu konzentrieren, statt geistige Höhenflüge zu postulieren und damit ein Dichtergenie zu schaffen, das es so nie gegeben hat.

Werfen wir noch einen Blick auf einen der zunächst doch etwas verwirrender erscheinenden Texte. Er beschreibt eine Gefühlslage.

Beklemmung

Vermöchte Sie denn zu bewirken, daß ich mir mein immerzu niedergedrücktes Streben vergebe, - daß ein behagliches Ende die Zeiten des Darbens behebt, - daß ein Erfolgstag uns über die Schmach unserer fatalen Unfähigkeit hinwegduselt?
(O Palmen, Diamant! - Liebes-Kraft! - höher als alle Freudefunken und Ruhm! - auf alle Arten, überall, - Dämon, Gott, - dieses junge Blut bin: ich!)
Sollten denn wirklich Wissenschaftsgaukelei und Bewegungen sozialer Verbrüderung als schrittweise Wiedereinsetzung der ursprünglichen Freiheit wertgeschätzt werden?...
Doch die Vampirin, die uns artig macht, heißt uns an dem zu lecken, was sie uns läßt; ansonsten wären wir noch größere Tröpfe.
Mit Wunden wandern, durch träge Luft und das Meer; mit Qualen, durch die Stille tödlicher Wasser und Lüfte; mit Martern, kichernd in ihrer gräßlich hohlen Stille.
(S. 51)


Angoisse

Se peut-il qu'Elle me fasse pardonner les ambitions continuellement écrasées, - q'une fin aisée répare les âges d'indigence, q'un jour de succès nous endorme sur la honte de notre inhabilité fatale?
(O palmes! diamant! - Amour, force! - plus haut que toutes joies et gloires! - de toutes façons, partout, - démon, dieu, - Jeunesse de cet être-ci: moi!)
Que des accidents de féerie scientifique et des mouvement de fraternité sociale soient chéris comme restitution progressive de la franchise première?...
Mais la Vampire qui nous rend gentils commande que nous nous amusions avec ce qu'elle nous laisse, ou qu'autrement nous soyons plus drôles.
Rouler aux blessures, par l'air lassant et la mer; aux supplices, par le silence des eaux et de l'air meurtriers; aux tortures qui rient, dans leur silence atrocement houleux.
(S. 116)

Stellen wir uns die Situation vor:
Der Dichter sieht sich in dem, was er bisher begonnen hat, gescheitert. Er ist verzweifelt und verletzt aus seiner Zeit mit Verlaine hervorgegangen. Gleichzeitig sieht er seine Neigung, sich in sein Schicksal zu fügen und den Weg der gesellschaftlichen Anpassung zu gehen, den die Furcht (Sie, Vampirin) nahelegt.

Furcht

Kann es sein, daß Sie mich dazu veranlaßt, mein ständig zunichtegemachtes Streben zu verzeihen, - daß ein bequemes Ende die Zeiten der Not wieder gutmacht, - daß ein Tag des Erfolgs uns über die Schande unserer verhängnisvollen Unfähigkeit hinwegtäuscht?
(Oh Palmen! Diamant! - Liebe, Kraft! - gewaltiger als alle Freuden und aller Ruhm! - auf jede Weise, überall, - Dämon, Gott, - Jugend dieses Geschöpfes hier: ich!)
Daß die Zufälle wissenschaftlicher Magie und die Bewegungen sozialer Brüderlichkeit als fortschreitende Wiederherstellung der ursprünglichen Freiheit geliebt werden?...
Aber die Vampirin, die uns sanft macht, befiehlt, daß wir uns mit dem vergnügen, was sie uns läßt, sonst seien wir nicht mehr lustig.
Verwundet umherstreifen durch ermüdende Luft und übers Meer; gepeinigt durch die Stille mörderischer Wasser und Lüfte ziehen; in Folterqualen, die in ihrer grauenhaft bewegten Stille lachen.
(Übersetzung MA-Verlag)


Es ist schon ein Geschenk, sich der gleichen Arbeit noch einmal korrigierend widmen zu können, und so bald wird Rainer G. Schmidt, der bereits an der deutschen Gesamtausgabe der Werke Rimbauds vor 25 Jahren beteiligt war, diese Gelegenheit wohl nicht wieder erhalten. Daß die Grundlage, also hier die "Illuminations" von Rimbaud ein lohnendes Objekt darstellen, wage ich zu bezweifeln, aber zugunsten der eigenen Fortentwicklung tritt vielleicht der Stoff, mit dem man umgeht, zugunsten der Methode in den Hintergrund.

Das Material an sich bedarf keiner neuen Betrachtung, keiner neuen Fürwerthaltung. Es handelt sich um Augenblicksbetrachtungen und in Worte gekleidete Gefühlsausbrüche, die dem Autoren für den Moment in seiner Befindlichkeit und während seiner späteren Bearbeitung wichtig und bedeutend genug erschienen, um sie festzuhalten und weiterzugeben. Allein, über seine Befindlichkeit gehen sie nicht hinaus - etwas, das zugegebenermaßen gerade heute wieder seinen Widerhall zu finden vermag. Und hierin liegt vielleicht auch, neben dem 150. Geburtstag des Dichters, das Motiv für eine Neuausgabe. Wie auch immer der Dichter respektive seine Fürsprecher es vermochten, das Interesse auf ihn zu ziehen und in welchen Korrespondenzen es auch immer seinen Widerhall gefunden hat, es liegt ganz sicher nicht in der Qualität seines Werks begründet. Sondern wir müssen uns wohl mit dem Gedanken anfreunden, daß Rimbaud ausschließlich auf geneigte Umstände traf und diese einmal genauso hinterfragen wie die Ambition, Qualität und Stimmigkeit der vorliegenden Übersetzung.

Begriffe - um einmal ein paar herauszugreifen - wie der 70er Jahre Szene-Jargon "Pinte" (S. 9), wie "Blödian" und "Knechtchen" (S. 14), "abgehobene Halbgötter" (S.18), "wahnwitzig" (S. 21), "hinwegduseln" (S. 51) befremden und folgen vielleicht des Übersetzers Haltung zum Werk, die sich an Dichter wie Allgemeinrezeption anzupassen sucht, tragen jedoch eher noch zusätzlich zum Befremden bei, weil sie begrifflich auf eine Weise herausfallen, die durch die französische Fassung nicht gedeckt wird. Sie provozieren, wie das Nachwort, den nüchternen Verstand:

Der Text der "Illuminations" ist ein schillernder Sprachkörper, mal von quecksilbriger Eleganz, mal von kristalliner Härte. Gleich Edelsteinen eingestreut sind exquisite Vokabeln. Wort-Fremdkörper. Diese in der Tat prismatischen Reflexe einer vieldeutigen Dynamik in der anderen Sprache so einzufangen, daß alle Lesarten virulent bleiben und sich die Sprachmusik erhält, ist ein heikles Unterfangen.
(S. 163)

Oh Heilige Kuh, so kann man es auch sehen...

Rimbaud hat in der Tat auch umgangssprachliche Ausdrücke verwendet, auch mal auf Fäkalsprache abgehoben, was in den etablierten Dichterkreisen jener Zeit nicht gerade auf Verständnis stieß und den Dichter selbst möglicherweise noch nachgerade motivierte. Doch entspricht diesem die Mischung von neuem Deutsch, Wortneuschöpfungen und eher veralteten Wörtern wie "Wams" oder "darben" keinesfalls und wirft Fragen auf. Dazu verwendet Rimbaud noch, je nach Einfall, Metaphern, Bilder und Anspielungen, die das Verständnis schwierig machen. Und es stimmt natürlich, daß man sich mit den Lesarten und Wortschattierungen herumschlägt, weil diese sich in zwei verschiedenen Sprachen nicht entsprechen. Eigentlich kann man die Übersetzung von Gedichten für ein Lesepublikum - wie akribisch auch immer - nicht vertreten. Es empfiehlt sich die Lektüre der Originalsprache mit gelegentlich eigenen Übersetzungsansätzen. Und wenn schon übersetzt, dann ist die zweisprachige Ausgabe unerläßlich.

Vielleicht sollte man sich der Frage nach dem wozu noch etwas weiter öffnen. Was soll ein solches Projekt über den Broterwerb und die gesellschaftliche Anerkennung hinaus? Brät man hier wieder im eigenen Saft? Die Frage an Dichtung generell, die sich auch Rimbaud gestellt hat, der sie im Gegensatz zur "l'art pour l'art" in den Dienst des Volkes und der Revolution stellen wollte. Vielleicht hat er sich deshalb letztlich von ihr abgewandt, weil er erkennen mußte, daß sich mit ihr kein Umsturz bewirken läßt. Und dennoch bleibt die Frage. Wenn Dichtung als Versuch gesehen werden kann, die Realität auf knappem Raum zu fassen, sich einen Zugang zu verschaffen und damit - durch den Erkenntnisgewinn, der naturgemäß nicht voraussehbar ist - auch einen Zugriff auf die Wirklichkeit, um sie zu verändern, kommt das Rimbauds Vision möglicherweise nahe.

Zur allgemeinen Beruhigung und als Credo für die Verlagsbranche läßt sich noch anfügen, daß diese Art der Dichtung mit Sicherheit nach wie vor dem Publikumsgeschmack entgegenkommt. Das Versprechen auf den Kontakt zu Höherem als der schnöden Lebenswirklichkeit wirkt immer. Dies wird - so paradox es klingt - geradezu unterstützt von der aktuellen Sprachentwicklung hin zu zunehmender Sprachverwirrung und -egalisierung. Die klischeebehaftete, zugeengte und knappere, technischere und zweckgebundene Eins-zu-Eins-Verständigung korrespondiert nachgerade mit der Vorliebe für Mystik und große Rätsel, die im Dunkel liegen und uns ein Gefühl vermitteln, mehr aber auch nicht. Verloren geht die Fülle der Ausdrucks- und Denkmöglichkeiten - und das liegt natürlich nicht an Rimbauds (der in dieser Hinsicht mit Sicherheit eine größere Fülle zur Verfügung hatte, als viele heutige Zeitgenossen) oder welcher Dichtung auch immer, sondern spiegelt sich im Umgang damit.


5. September 2005


Arthur Rimbaud
"Illuminations / Illuminationen"
Französisch und Deutsch
übersetzt von Rainer G. Schmidt
Urs Engeler Editor Wien und Basel/Weil am Rhein, 2004
Gebunden, mit Schutzumschlag, Fadenheftung
168 Seiten, 17,- Euro
ISBN 3-905591-86-3