Schattenblick →INFOPOOL →BUCH → HÖRBUCH

REZENSION/016: Karl May - Der Orientzyklus (Hörspielserie) (SB)


Karl May


Der Orientzyklus

Hörspielbearbeitung und Regie: Walter Adler



Karl Mays Orientzyklus spielt in den Siebzigerjahren des 19. Jahrhunderts. Das Osmanische Reich ist im Zerfall begriffen, dennoch hat es noch immer eine enorme Ausdehnung, und so führt die abenteuerreiche Reise von Mays Alter ego Kara Ben Nemsi und seinem treuen Diener und Freund Hadschi Halef Omar ungehindert durch Staatsgrenzen von Algerien bis nach Albanien. Von den Befreiungskämpfen der beherrschten Völker und dem Niedergang der türkischen Hegemonie ist bei Karl May wenig zu spüren. Die Interessen der europäischen Großmächte an dem Zerfall des Riesenreichs zwecks kolonialer Aneignung weiterer Gebiete sind Karl May allerdings auch nicht verborgen geblieben. Mit seinen wenigen Bezügen zur politischen Lage erweist er sich - der öffentlichen Meinung seiner Zeit entsprechend - eher als etwas indifferenter Freund des Großtürkischen Reichs und "kranken Mannes am Bosporus", denn als ernstlicher Kritiker.

Dem zwölfteiligen Hörspiel "Der Orientzyklus" aus der Produktion des WDR unter der Regie von Walter Adler, der auch für die Bearbeitung verantwortlich ist, tut das jedoch keinen Abbruch. Es ist schon eine Weile her, daß ein so hervorragend gemachtes, rundum fesselndes Hörspielabenteuer im Radio zu hören war; nun ist es auch im Hörbuchverlag auf 12 CDs zusammen mit einem ausführlichen Begleitheft erschienen. Karl Mays Vorlage ist so lebendig umgesetzt und gespielt, daß man meint, die Personen vor sich zu haben und mit ihnen durch die Wüste zu reiten, Schliche und Fluchtwege zu ersinnen und Bedrängten zu helfen. Auch wenn es haufenweise Schurken, Not und vor allem die korrupte Obrigkeit gibt, ist hier die Welt in Ordnung, weil die Getreuen um Kara Ben Nemsi sich für die Schwachen und Bedrängten einsetzen. Wenn es noch den Traum gibt, mutig und sich selbst vergessend einzugreifen, gepaart mit dem Wunsch nach einem Leben voller Abenteuer und neuer Entdeckungen, so kommen Karl Mays Erzählungen gerade in ihrer Hörspielumsetzung diesem entgegen.


Zum Hörspielgeschehen

Wie im Buch gerät der Hörer zunächst mitten in ein Zwiegespräch der Hauptpersonen, die sich schon geraume Zeit zu kennen scheinen. Hadschi Halef Omar unternimmt gerade den xten Versuch, seinen Herrn zum "wahren Glauben" zu bekehren. Mit blumigen Worten preist er die Vorzüge des Paradieses der Gläubigen und malt die Höllenqualen der Ungläubigen aus. Während Halef im Hintergrund seinen endlosen Redestrom entfaltet, stellt Kara Ben Nemsi dem Hörer seinen Begleiter vor und führt in die Situation ein:

"...Du bist so gut, so ganz anders als andere Sihdis, denen ich gedient habe und darum werde ich dich bekehren, du magst wollen oder nicht..." Halef, mein Diener und Wegweiser, mit dem ich in den Schluchten und Klüften des Dschebel Aures herumgekrochen und dann nach dem Dra el Haua heruntergestiegen war, um über den Dschebel Tarfaui nach Seddada zu kommen, war ein eigentümliches Kerlchen. Er war so klein, daß er mir kaum bis unter die Arme reichte, und dabei so hager und dünn, daß man hätte behaupten mögen, er habe ein volles Jahrzehnt zwischen den Löschpapierblättern eines Herbariums in fortwährender Pressung gelegen. ...

"...Aber ich schwöre es bei meinem Barte, daß ich dich bekehren werde, du magst wollen oder nicht." Bei diesen Worten zog er seine Stirn unter einem gewaltigen Turban in sechs drohende Falten, zupfte sich an den sieben Fasern seines Kinns, zerrte an den acht Spinnenfäden rechts und an den neun Partikeln links von seiner Nase, summasummarum Bart genannt. Aber trotz dieser äußerlichen Unansehnlichkeit mußte man allen Respekt vor ihm haben. Er besaß einen ungemeinen Scharfsinn, viel Mut und Gewandtheit und eine Ausdauer, welche ihn die größten Beschwerden überwinden ließ - mit einem Wort: Er besaß meine vollste Zufriedenheit, so daß ich ihn mehr als Freund denn als Diener behandelte.

Auf ihrem Weg durch die algerische Wüste entdecken die beiden die Leiche eines Franzosen und stoßen bald darauf auch auf dessen Mörder, den Armenier Hamd el Amasat, auch Abu en Nasser genannt, und seinen Begleiter. Kara Ben Nemsi läßt sie laufen, nachdem er ihnen die Habseligkeiten abgenommen hat, die sie dem Toten stahlen, da er zunächst keine Möglichkeit sieht, sie einer gerechten Strafe zuzuführen, verfolgt sie aber bis nach Kris. Auf dem berüchtigten Schott el Dscherid, einem Salzsee, erschießt der Armenier ihren Führer Sadek, ohne den er sie für verloren hält. Sein Begleiter versinkt im Schott, er selbst kann entkommen. Gerettet werden die Gefährten Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar von Omar Ben Sadek, der sich auf der Rückkehr über das Schott befindet. Als er vom Tod seines Vaters erfährt, schwört er in tiefer Erschütterung dem Mörder seines Vaters blutige Rache und macht sich an dessen Verfolgung. Kara Ben Nemsi, der im weiteren wiederholt klarstellen wird, wie wenig er vom Töten und von der Rache hält, weiß, daß hier jede Einmischung sinnlos wäre. Omar werden wir weit später in Stambul wieder begegnen, nachdem Hadschi Halef Omar und Kara Ben Nemsi unzählige Abenteuer bestanden haben und sich Abu en Nasser als ein noch größerer und vor allem mächtigerer Schurke entpuppt hat als zunächst geglaubt.

Doch erst einmal machen die beiden Station in Kairo, wo sich Halef in einen gebieterischen Aga mit Nilpferdpeitsche und Kara Ben Nemsi in einen erfolgreichen Arzt verwandelt, der den Nil hinab zu einer Kranken namens Senitza gerufen wird, die sich als entführte Jungfrau herausstellt. Gemeinsam mit deren Verlobtem befreien sie diese aus der Gewalt eines bösartigen Lebemannes.

Im folgenden fallen sie in die Hände eines Piraten, begleiten einen Beduinenstamm in seinem Kampf gegen Räuber, Kara Ben Nemsi erhält den wertvollen Hengst Rih zum Geschenk, besucht als Ungläubiger das ihm verbotene Mekka, und Halef sieht ihn, der das Wasser des Heiligen Brunnen Semsem bei sich trägt, fürderhin als bekehrt an. Zuvor schließt der Deutsche Freundschaft mit dem englischen Weltenbummler Sir David Lindsay, der auf der Suche nach "Fowlingbulls" und weiteren archäologischen Schätzen nach Bagdad reist und die Freunde mit Unterbrechungen auch weiter begleitet, zunächst durchs Kurdengebiet, um den Sohn von Mohammed Emin, einem befreundeten Scheich, aus der Festung Amadijah zu befreien. Hier lernt Kara Ben Nemsi Marah Durimeh, eine weise alte Frau, kennen, und es gelingt ihnen, den blutigen Streit zwischen verfeindeten Stämmen zu schlichten. Nach einer Reihe von Scharmützeln mit räuberischen Kurden schließen sich die beiden Freunde für einige Zeit einem persischen Prinzen an, der sich aus politischen Gründen auf der Flucht befindet, klären einen Juwelenraub in Damaskus auf und geraten bei der Verfolgung des Übeltäters in weitere Gefahren. Dies ist nur der Beginn aller Abenteuer, doch mehr soll nicht verraten werden... Kein Wunder, daß der Erzähler, Kara Ben Nemsi, es mitunter etwas eilig zu haben scheint.


Hörspielbearbeitung und die schwierige Kunst des Streichens

In einem Interview mit Walter Adler (unter dem Titel "Anarchist und Prediger - Über den Hintertreppenliteraten Karl May" im Begleitheft zu finden) schildert der Regisseur seine Vorgehensweise. Sechs Bücher zu 11 Stunden zu kondensieren ist nicht einfach, und da es sich bei dem durch Abenteuerhörspiele angesprochenen Publikum nicht unbedingt um jene handelt, die sich mit wachsender Begeisterung Landschafts- oder volkskundliche Beschreibungen anhören, fällt notwendigerweise eher dieser Teil und damit einiges an Tiefe weg.

Es gibt eine Stelle in 'Durchs wilde Kurdistan', da trifft Nemsi eine alte Frau, die in Mays späterem Werk noch sehr wichtig wird, und der erklärt er, was er eigentlich will. Er sieht sich als Missionar des "guten Beispiels". Also nicht der Mann der Worte, sondern der guten Tat. Als Kind liest man da einfach drüber hinweg. Sobald die Religion kam, weiterblättern, sobald die Landschaftsbeschreibungen kamen, weiterblättern. Wenn man es heute liest, stellt man fest, dass darin das Interessante, das ganz Besondere des Karl May liegt. Es sind keine Action-Romane. Action, so wie wir sie heute verstehen, kommt ganz selten vor.
(Begleitheft, S. 26)

So kann es sein, daß in der Umsetzung manches plakativ, klischeehaft und oberflächlich erscheint, was ursprünglich nicht so beabsichtigt war. Dies ist allerdings auch deswegen kein Wunder, weil Walter Adler in seiner Auswahl schon davon ausgegangen ist, daß die einzelnen Episoden - ursprünglich wurden die Reiseerzählungen ja als Fortsetzungsgeschichten im 'Katholischen Hausschatz' veröffentlicht - sich ihrem Aufbau nach wiederholen:

Episodenstruktur besteht im Grunde genommen immer aus dem gleichen Ablauf. Anschleichen, belauschen, die Sache in Ordnung bringen, weiterreiten. Man braucht also nicht jede Episode, man muss das Ganze wiedergeben.
(Begleitheft S. 20)

Da ist natürlich etwas dran: Man konfrontiert seine Helden mit einem Problem und läßt sie es lösen. Dennoch befaßt sich Karl May mit jeder neuen Situation und Episode im nebenherein mit einer Reihe existentieller Fragen und Überzeugungen und vertieft diese sogar. Beispielhaft hierfür ist die Frage, ob der Mensch des Menschen Richter und insbesondere Scharfrichter sein sollte, die der Autor ganz grundsätzlich und von verschiedenen Seiten her angeht. Im Hörspiel taucht zwar textgetreu die eine oder andere Regung der Protagonisten und insbesondere Kara Ben Nemsis in dieser Richtung auf, doch ist die Kontinuität, mit der sich der Autor mit dieser Frage befaßt hat, in den Büchern deutlicher zu erkennen. Gegen Ende des Hörspiels allerdings, wie um die Frage vorerst abzurunden, verschont Omar den Mörder seines Vaters Kara Ben Nemsi zuliebe, der seine Haltung immer deutlich gemacht hatte. Omar nimmt Hamd el Amasat das Augenlicht, und der Geehrte, der natürlich auch dieses nicht gutzuheißen vermag, fragt sich ein wenig hilflos: Was sollte ich antworten?

Ganz beispielhaft ist hier auch der Konflikt zwischen Mohammed Emin und seinem Sohn Amad el Ghandur auf der einen Seite und Kara Ben Nemsi, Hadschi Halef Omar und Sir David Lindsay auf der anderen, nachdem sie schon viele Gefahren gemeinsam überstanden haben und sich Kara Ben Nemsi für ihre Begriffe immer zu christlich gezeigt hat, darüber, ob ein Gefangener zum Tode zu verurteilen sei. Des Autors Alter ego geht hier sogar soweit, dem alten Scheich den Hengst Rih zurückzugeben und sich von seinen Begleitern zu trennen; den Tod des Gefangenen duldet er nicht und nimmt diesen mit sich.

"Effendi, wohin willst du?" fragte Mohammed Emin.
"Fort", erwiderte ich kurz. - "Ohne uns?" - "Wie es euch beliebt."
"Wo ist der Rappe?" - "Drüben, wo er war."
"Maschallah, Rih ist dein!" - "Er ist wieder dein! Allah gebe dir Frieden!" Ich gab meinem Pferd die Sporen, und wir trabten davon. Kaum aber hatten wir eine englische Meile zurückgelegt, so kamen die beiden uns nach. Amad el Ghandur hatte den Rappen bestiegen und führte sein bisher gerittenes Pferd am Halfter. Jetzt war es für mich unmöglich geworden, Rih zurückzunehmen.

Mohammed Emin kam an meine Seite, während sein Sohn zurückblieb. "Effendi, ich verstehe dich nicht. Ich will den Bebbeh bestrafen, der mich und meinen Sohn gefangennahm. Was habe ich dir getan?" - "O Scheik, du hast dir die Liebe und Achtung von drei Männern geraubt, die für dich und deinen Sohn ihr Leben wagten und bis heute für euch ohne Zaudern in den Tod gegangen wären." (Von Bagdad nach Stambul, Ungekürzte Volksausgabe, Verlag Carl Ueberreuter,
(c) 1951 Joachim Schmid, Karl May Verlag, Seite 71)

Die Charakterisierung der einzelnen Personen und ihres Lebenshintergrundes geht, auch wenn man es im ersten Ansatz vielleicht nicht bemerken mag, über eine platte Typisierung hinaus. Hier kann der gleiche Konflikt als Beispiel dienen. Kara Ben Nemsi weigert sich, Rih wieder zurückzunehmen.

"Siehst du nicht, daß der Rappe bereits einen Besitzer hat?" - "Jetzt verstehe ich dich, Effendi. Amad el Ghandur wird absteigen." - "Aber ich werde das Pferd doch nicht nehmen! Dein Sohn hat seinen Sattel aufgelegt und das Tier bestiegen. Das ist ein Zeichen, daß ihr Rih von mir zurückgenommen habt. Brächtest du mir den Rappen so wieder, wie ich ihn zurückgelassen habe, ungesattelt und unberührt, so würde ich denken, daß wir Freunde waren, und ich könnte die Schande von dir nehmen. Doch das habt ihr mir unmöglich gemacht."

"Allah! Was haben wir für Fehler begangen!" Ich konnte nicht begreifen, was den beiden sonst so verständigen Männern auf einmal in den Sinn gekommen war. Vielleicht war der Keim zu ihrem Verhalten schon länger in ihnen gesteckt gewesen und von mir durch die Nachsicht gepflegt worden, mit der ich unsere Gegner behandelt wissen wollte. Die Schonung aber, die ich gegen die beiden Bebbeh gezeigt hatte, war dann der Tropfen gewesen, der das Gefäß überlaufen ließ. Der Haddedihn ritt schweigend neben mir her. Endlich fragte er zagend: "Warum zürnst du so anhaltend?" - "Ich zürne nicht, Mohammed Emin, aber es betrübt mich, euch so blutdürstig zu sehen."

"Wohlan, so werde ich diesen Fehler wieder gutmachen."
(ebd., Seite 71-72)

Karl May ist hier wesentlich gründlicher, und man lernt die Hauptpersonen nicht nur deshalb gut kennen, weil man mit diesen eine Menge Zeit verbringt, sondern weil der Autor sich ihnen eingehend widmet und ihnen wiedererkennbare Eigenarten gibt, die sie von anderen unterscheiden. Diese sind zwar auch beschrieben, aber in der Hauptsache lernt man die Personen durch ihre Taten kennen. Sie entwickeln sich im Verhältnis zueinander und besonders im Verhältnis zum Ich-Erzähler Kara Ben Nemsi, durch den man fraglos eine Menge über den Autoren selbst erfährt.

Da kam Halef herbei, bückte sich über mich und fragte leise: "Sihdi, dein Herz ist betrübt. Ist dir das Pferd lieber als dein treuer Hadschi Halef Omar?"
"Nein, Halef. Für dich würde ich zehn solche Pferde hingeben." "So tröste dich, mein guter Sihdi, denn ich bin bei dir und bleibe bei dir und kein Haddedihn soll mich von dir wegbringen!"
Er legte die Hand an seine Brust und streckte sich dann neben mir aus. - Da saß ich nun in stiller Nacht, und das Herz wurde mir weit in der Gewißheit, die Liebe eines Menschenkindes zu besitzen, dem auch meine Zuneigung gehörte. Wie glücklich muß ein Mann sein, der eine stille Heimat hat, die unerreicht ist von der Brandung der Schicksalswogen, ein Weib, dem er vertrauen darf, und ein Kind, in dem er sein veredeltes Ebenbild heranwachsen sieht. Auch das rauhe Herz eines Weltläufers fühlt zuweilen, daß es im Inneren des Menschen hinter den öden, einsamen Flächen auch Höhen gibt, die die Sonne mit ihrem Strahl vergoldet und erwärmt. (ebd., Seite 74-75)


Biographische Daten in Hörspielform

Walter Adler, der sowohl die Vorlage (zugrundegelegt wurde die historisch-kritische Ausgabe) bearbeitet als auch Regie geführt hat, versucht - und das ist neu - Teile der Biographie Karl Mays einzuflechten, die mit jeder Hörspielfolge vertieft wird. Jede Folge beginnt mit Erkennungsmelodie und -geräuschkulisse, dann hört man metallene Gefängnistore schlagen und Karl Mays Stöhnen wie in einem unschönen Traum, und die Szene geht in eine fiktive Gerichtsverhandlung über. Diese wiederum tritt durch Einblendungen von Karl Mays Schilderung seiner von Armut gezeichneten Kindheit und der familiären Verhältnisse, in denen er groß geworden ist, sowie seiner Zukunftswünsche bald in den Hintergrund, bald wird sie mit den selbstgerechten und mitleidlosen Beurteilungen seiner Person durch Richter, Staatsanwalt und Zeugen wieder aufgenommen. Dabei führen sich die vorgebrachten Beschuldigungen in ihrer menschenfeindlichen Härte teilweise selbst ad absurdum.

Richter: Im übrigen ist aktenkundig, daß der Vater Heinrich August May sich '49 dem linksdemokratischen Vaterlandsverein angeschlossen hat. Vater bei den radikalen Aufwieglern, und der Sohn geht aufs Lehrerseminar, wo sich bekanntlich in den 40er Jahren allerhand Kehricht angesammelt hatte: dunkle Existenzen, politisch Verfemte, reichs- und königsfeindliche Elemente. Kreti und Pleti! Damit wurde dann ja gründlich aufgeräumt.

May: Ich wäre viel lieber aufs Gymnasium gegangen und hätte studiert. Der Arztberuf...

Richter (unterbricht): Auch noch Flausen im Kopf!

(Teil 1)

So auch in der Verhandlung um Karl Mays Avancen, die er der jungen Frau seines Glauchauer Wirtes gemacht hatte, während er ihr private Klavierstunden gab. Dabei hatte er alle Schuld auf sich genommen, um seiner Wirtin nicht weiter zu schaden.

May: Auch erlaube ich mir untertänigst darauf hinzuweisen, daß ich in dieser Sache zwar verurteilt worden bin, aber nicht nach Recht und Gesetz.

Richter: Nicht nach Recht und Gesetz? Das ist ja dann doch wohl die Höhe! Was erlauben Sie sich? Wir sitzen doch hier nicht zu unserem Vergnügen! Sie sind doch hier das asoziale Subjekt, das nun schon viele Jahre in Sachsen sein Unwesen treibt und ehrbare Familien um Hab und Gut gebracht hat.

May: Ich möchte aber...

Richter: Ja, was denn noch?!

May: Ich möchte darauf hinweisen, daß ich in Glauchau das Unglück gehabt habe, bei einem dem Trunk ergebenen Wirte zu wohnen.

Richter: Wir müssen in der Sache jetzt hier zu einem Abschluß kommen.
(Teil 5)

Parallelen zu ziehen zwischen einzelnen Lebensdaten und den Inhalten seiner Erzählungen, die in den Jahren 1881 bis 1888 als Fortsetzungsgeschichte im 'Deutschen Hausschatz' erschienen sind, ist sicher reizvoll, aber auch schwierig, birgt der Versuch doch auch die Gefahr, daß man wie bei der Wahrsagerei oder beim Horoskop genau das findet, was man voraussetzt, weil man unmerklich nur in dieser Richtung interpretiert. Vergleicht also Walter Adler beispielsweise den Karl May unterstellten Diebstahl einer Taschenuhr mit der Tatsache, daß er dem Mörder des Franzosen dessen Taschenuhr nebst anderen Dingen abnimmt, ist das ein wenig wacklig. Denn im Rahmen einer Erzählung, die später die Identifikation eines Toten ermöglichen soll, bieten sich natürlich Taschenuhren, Eheringe, Tabaksdosen und dergleichen an wegen der üblichen Gravur. Ganz fraglos ist das Werk des Autoren von seinen Lebensumständen und Erfahrungen nicht zu trennen, doch ein Blick in die Vergangenheit eines anderen Menschen birgt eine Unmenge von Fehlerquellen. Naheliegt sicher, daß Karl Mays Schriftstellerei in Verbindung mit den dazu nötigen ausführlichen Recherchen, ihm eine Möglichkeit des Ausgleichs und der kurzzeitigen Flucht vor den Alltagsproblemen geboten hat, eine Regung, die jede Leseratte, die sich gern in andere Welten begibt, wohl nachzuvollziehen vermag. Gleichzeitig bietet jedoch das Lesen und mehr noch das Schreiben eine Möglichkeit, Probleme zu durchdenken und mit neuer Zuversicht an die anstehenden Schwierigkeiten heranzugehen.

Karl May hat wegen unterschiedlicher Delikte, die sich im wesentlichen unter die Begriffe wirtschaftliche Not und Rebellion gegen gesellschaftliche Verhältnisse subsummieren lassen, die eine Mehrzahl von Menschen zugunsten einer Minderzahl in Abhängigkeit und Zwang halten, mehr als acht Jahre in Gefängnissen verbracht - zuletzt waren es drei Wochen wegen "unbefugter Ausübung eines öffentlichen Amtes". Der Autor hatte sich, um seinem angehenden Schwiegervater einen Gefallen zu tun, als Detektiv betätigt und in zwei Wirtshäusern unter Vorspiegelung einer falschen Identität - er sei "von der Regierung eingesetzt und etwas höheres wie der Staatsanwalt" - Befragungen durchgeführt. Die schmerzliche Erkenntnis, daß der Mensch für sich nichts gilt und nichts wert ist, hatte er schon lange vollzogen und wußte, daß Kleider Leute machen und anmaßendes Gebaren Respekt erzeugt.

Wie die Verhältnisse in den Haftanstalten jener Zeit aussahen, soll hier nur insoweit thematisiert werden, als sie über das Trauma hinaus, der "Freiheit" beraubt zu sein, dazu geeignet waren, den Insassen zu demütigen und seinem gesellschaftlichen Platz gemäß zurechtzustutzen. Die u.a. verabreichte Prügelstrafe ist zu hören, während Karl May eine Reihe von Lauten ausstößt, die vermuten lassen, daß er träumt und dann dem Alptraum enteilt in die Weiten der Wüste...

Die Zeit vom 3. Mai 1870 bis zum 2. Mai 1874, die May als "Züchtling No. 402" im Zuchthaus Waldheim verbüßen muss, wird für ihn zur Hölle. Der hier für den Strafvollzug gebräuchliche Begriff 'progressiv' bedeutete in der Praxis das ganze Gegenteil: übergroße Härte als Abschreckung und Vergeltung von Anfang an, die lediglich am Ende geringfügig gemildert wird.

In einem ausgeklügelten System der Demütigung rangiert an erster Stelle das "Gebet beim Eintritt in die Haftanstalt": "...Ich selbst bin die Ursache meines Elends, ich selbst muß mich anklagen und verdammen ... ich erkenne Deine strafende Gerechtigkeit ... ich murre nicht wider die Wege ... will die Befehle und Anordnungen meiner Vorgesetzten gehorsam und unverdrossen befolgen, will dieselben als meine Wohltäter erkennen ... will ich geduldig in meinem Trübsal bleiben..."

Eine endlos lange, erniedrigende Litanei muss nach vorgegebenem Text gesprochen werden. Alles zielt auf bedingungslosen Gehorsam, auch das absolute Sprechverbot während der 13-stündigen, täglichen Arbeit.

Wer das auferlegte Pensum nicht schafft oder auch nur geringfügig unliebsam auffällt, wird bestraft: durch Streichung des Verdienstes oder mit mehrtägigem 'Dunkelarrest' in einer engen Zelle, die kein Hinlegen ermöglicht. Besonders grausam ist der so genannte 'Latten- Arrest'. Die dafür präparierten Zellen sind am Boden und an den Wänden mit scharfkantigem Hartholz ausgeschlagen. Wird das 'Tragen von Holz und Kette' verordnet, muss bis zu einem Monat, auch während der Arbeit, an einer langen Kette am Bein ein Eisenklumpen von fünf, zehn oder fünfzehn Kilogramm mitgeschleppt werden. Zum zehnteiligen, noch vielfach untergliederten Strafenkatalog gehören auch 30 Schläge mit einem '85 cm langen ... 3/4 starken Haselstocke auf das entblößte Gesäß'. Als es in Waldheim noch nicht 'progressiv' zuging, verabreichte man 60 Hiebe.
(Christian Heermann: Winnetous Blutsbruder, Karl May Verlag 2002, S. 119)

Einige Zeugnisse seiner demütigenden Anpassungsleistungen und Rationalisierungen sind im Rahmen der bereits erwähnten fiktiven Gerichtsverhandlung zu hören, die zu Beginn eines jeden Hörspielteils fortgeführt wird und in strengem Verhör Karl Mays Vergehen eines nach dem anderen ans Licht bringt. Der Versuch, Verständnis für den Autoren, für seine soziale und psychische Situation zu schaffen, gelingt zum Teil, könnte jedoch auch zu einer Vorführung geraten. Neben den quälenden Selbstzeugnissen Karl Mays sind die für die Szenen verwendeten Gerichtsakten, die ihn durch das Auge der sächsischen Staatsgewalt erscheinen lassen, kaum dazu geeignet, den Standpunkt des "Delinquenten" zu vertreten, der in seiner Verteidigung gegen die Obrigkeit stets versagen muß.

Bitter ist beispielsweise neben den "untertänigsten" Gesuchen die Stellungnahme zu Rinaldo Rinaldini, mit der er seine Träume der bedrängten Situation gemäß, widerruft. Als Dreizehnjähriger hatte er den spanischen Robin Hood zu Fuß herbeiholen wollen, damit er ihnen in ihrer Not helfe. Keine Regung hätte für dieses Kind verständlicher und mehr Zeugnis sein können für die eigene selbstlose Gesinnung.


Zur Produktion

Insgesamt 140 Schauspielerinnen und Schauspieler - man trifft hier so manchen alten Bekannten - waren an der Produktion des Orientzyklus' beteiligt, die vom ersten Planungsstadium bis zur Ausstrahlung auf WDR 5 über ein Jahr gewährt hat. Zu hören waren die einzelnen Folgen ab Dezember 2006 bis Ostern 2007, und es steht zu hoffen, daß sich weitere Sender zu einer Übernahme entschließen. Diesen Hörgenuß sollte man sich eigentlich nicht entgehen lassen. Gespielte Handlung, die Erzählung und die Reflexionen von Kara Ben Nemsi gehen ineinander über, manchmal tritt die Handlung in den Hintergrund und wird von den Überlegungen des Deutschen überlagert. So entsteht ein Hörbild mit tieferer Perspektive im Gegensatz zu einer linearen Handlung und zieht den Hörer ins Geschehen hinein, Musik und Sounddesign tun das ihrige zur Gesamtwirkung.

Abgesehen davon, daß die Produktion im klassischen Hörspielsinne ein wirkliches Abenteuer vor den Ohren und im Herzen der Zuhörer entstehen läßt, ist deutlich zu spüren, wieviel Freude die Beteiligten daran gehabt haben müssen. Davon überzeugen auch die Bilder und Kommentare im Begleitheft, dessen Lektüre im übrigen sehr zu empfehlen ist. Da 140 Namen diesen Rahmen sprengen würden, seien hier lediglich die sechs am häufigsten genannten Personen aufgeführt, alles weitere findet sich dann im Heft:

Kara Ben Nemsi/Karl Friedrich May: Sylvester Groth
Hadschi Halef Omar: Matthias Koeberlin
Hamd el Amasat: Werner Wölbern
Abrahim Mamur: Michael Mendl
Sir David Lindsay: Rufus Beck
Scheik Mohammed Emin: Hans Peter Hallwachs

Musik: Pierre Oser
Sounddesign: Peter Schilske

Inhalt:
Durch die Wüste
Durchs wilde Kurdistan
Von Bagdad nach Stambul
In den Schluchten des Balkan
Durch das Land der Skipetaren
Der Schut


Der Soundtrack auf CD

Neben dem Hörspielzyklus hat der WDR einen Soundtrack zum Orientzyklus mit dem Titel "Senitza" herausgegeben - Senitza war jene junge, aus Montenegro stammende Frau, die Abrahim Mamur in seine Gewalt gebracht hatte, um sie zu ehelichen. Dies ist gleichzeitig auch der Titel einer der 16 Kompositionen. Das Stück "Der Orientzyklus" erkennt man natürlich sofort wieder, da es zu Beginn eines jeden Hörspielteils erklingt und sich leicht einprägt. Weitere Titel sind "Durch die Wüste", "Tunesia", "Adrianopel", "Schott Dscherid", "Am Nil", "Senitza", "Damask", "Hanneh", "Haddedihn", "Amadijah", "Kurdan", "Marah Durimeh", "Skipetaren", "Wadi Tarfaui", "Kahwehane". Wer die Hörspielserie verfolgt hat, wird sogleich merken, daß die Titel nicht der Spielhandlung entsprechend chronologisch angeordnet sind. Vielmehr wurden einzelne Stücke aus dem ganzen Hörspielmusik-Komplex neu arrangiert, zum Teil auch ganz neu eingespielt und speziell abgemischt. Auch zu diesem Soundtrack gibt es ein kleines Begleitheft, in dem Walter Adler und Pierre Oser über ihre Zusammenarbeit und über das Thema Hörspielmusik berichten, eine interessante Ergänzung für jene, die sich gern mit den Hintergründen der Hörspielproduktion beschäftigen möchten, und obendrein ein - besonders mit Kopfhörern zu empfehlen - entspannender Hörgenuß.

19. November 2007

Karl May
Der Orientzyklus
Hörspiel in 12 Teilen auf CD
Hörspielbearbeitung und Regie: Walter Adler
Der Hörverlag GmbH, München 2007
Produktion: Westdeutscher Rundfunk Köln 2007
Gesamtlaufzeit ca. 646 Minuten
im Schuber mit 62seitigem Booklet, 79,95 Euro
ISBN 978-3-86717-143-4


Pierre Oser:
Senitza - Musik aus dem "Orientzyklus"
Westdeutscher Rundfunk Köln 2007
in Zusammenarbeit mit Westfire Entertainment
ISBN 978-3-940539-01-4