Schattenblick →INFOPOOL →BUCH → FAKTEN

BIBLIOTHEK/499: Bibliotheken im digitalen Zeitalter - Veränderung als Konstante (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 136/Juni 2012
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Veränderung als Konstante

Bibliotheken im digitalen Zeitalter

von Sebastian Nix



Das digitale Zeitalter stellt auch wissenschaftliche Bibliotheken vor neue Herausforderungen. Wissenschaftliche Informationsrecherche verlagert sich zunehmend ins Netz. Gleichzeitig bietet das Internet neue Möglichkeiten für die Wissenschaftskommunikation, etwa im Bereich Open Access oder der Vernetzung von Forschungsprimärdaten. Hier haben Bibliotheken die Chance, mit ihrem speziellen Know-how neue, internetbasierte Dienstleistungen für die Wissenschaft zu entwickeln und damit auch einer zunehmenden Privatisierung und Kommerzialisierung wissenschaftlich relevanter Informationen entgegenzuwirken.

Wissenschaft lebt von Information. Davon, dass kreative Ideen entwickelt, Daten erhoben, strukturiert und zueinander in Beziehung gesetzt werden - kurz: dass Wissen geschaffen wird. Die zugrundeliegenden Kommunikationsprozesse reichen weit in die Vergangenheit zurück.

Am Anfang der Wissenschaft stand eine Tradition mündlicher Überlieferung. Allerdings plädierte schon Aristoteles in Auseinandersetzung mit seinem Lehrer Platon für eine Verschriftlichung wissenschaftlicher Erkenntnis. Noch in der Antike gewannen Bibliotheken als vermittelnde Instanzen der Wissenschaftskommunikation an Bedeutung. Man denke nur an die heute noch bekannte Bibliothek von Alexandria. Während des Mittelalters dienten Bibliotheken dann hauptsächlich religiösen Zwecken, spielten aber im Gefolge der Aufklärung vom 18. Jahrhundert an auch für die Wissenschaften wieder eine wichtige Rolle. Es entstanden eigenständige Universitätsbibliotheken und spezialisierte Fachbibliotheken. Wissenschaftliche Bibliotheken hatten und haben seitdem die Aufgabe, jenes Wissen zu bewahren und zugänglich zu machen, das gleichermaßen Ergebnis wie Rohstoff wissenschaftlicher Arbeit ist.

Heute erleben wir einen atemberaubenden Wandel der Rahmenbedingungen wissenschaftlicher Informationsversorgung. Gerade einmal 21 Jahre sind vergangen, seit Tim Berners-Lee das World Wide Web aus der Taufe hob. Sieben Jahre später, 1998, entstand Google - und schon 2004 fand das Verb "googeln" Eingang in die 23. Auflage des Duden.

Heute sind das Internet oder Google nicht nur in aller Munde, sondern bereits in vielen Hosentaschen: Smartphones und immer leistungsfähigere Mobilfunkstandards ermöglichen fast überall den Zugriff auf die scheinbar unendliche, jedenfalls aber rasant wachsende Informationsfülle im Internet. Gleichzeitig erlauben neue Technologien neue Formen der Informationsgenerierung und des Informationsaustauschs. Schlagworte wie "Web 2.0" oder "Crowdsourcing" beschreiben die Möglichkeiten der kollaborativen Schaffung und Weiterentwicklung von Wissen. Eines der bekanntesten Beispiele ist sicher die Online-Enzyklopädie Wikipedia.

Weitere Entwicklungen deuten sich bereits an. Mittlerweile ist die Rede von einem "Web 3.0" oder auch "semantischen Web". Dessen Wesensmerkmal ist die Möglichkeit der maschinellen Herstellung inhaltlicher Zusammenhänge zwischen heterogenen Informationen unterschiedlichster Art. Damit würden Internetsuchen eine völlig neue Qualität erhalten, da "semantische Suchmaschinen" der Zukunft in der Lage wären, die Bedeutung einer Suchanfrage zu "verstehen" und dazu passende Informationen aus verschiedenen Quellen ad hoc und bedarfsgerecht miteinander zu verknüpfen. Man stelle sich beispielsweise eine Suchmaschine vor, die bei der Suche mit einem Buchtitel nicht nur sofort erkennt, dass tatsächlich nach einem Buch gesucht wird, sondern die gleich noch eine Vielzahl passender Zusatzinformationen aus verschiedenen Quellen in übersichtlicher Form bereitstellt: Bibliotheken und Buchhandlungen in der Nähe des eigenen Standorts, bei denen der gesuchte Titel verfügbar ist; biographische Informationen zum Autor; literarische Vorbilder; Literatur über das gesuchte Werk.

Was bedeutet all dies für die Wissenschaftskommunikation - und damit auch für die wissenschaftlichen Bibliotheken? Gerade das Beispiel Wikipedia lässt erahnen, wie sehr sich die Existenz des Internet auf gewachsene Strukturen im Wissenschaftssystem auswirken kann: Spätestens seit Mitte des 18. Jahrhunderts, also seit der Zeit der französischen Enzyklopädisten um Denis Diderot, gelten von Fachleuten verfasste Enzyklopädien als die Sammlungen des universellen Wissens der Menschheit oder zumindest eines Fachgebiets. Heute sind diese traditionellen Enzyklopädien einem erheblichen Aktualitätsdruck ausgesetzt. Sichtbares Zeichen dieser Entwicklung: Im März 2012 wurde bekannt, dass die hoch renommierte "Encyclopaedia Britannica" nach fast 250 Jahren zukünftig nur noch digital erscheint.

Auch an allen, die wissenschaftlich arbeiten, gehen diese Entwicklungen nicht spurlos vorüber. Die heute sozialisierte Wissenschaftlergeneration kann bereits zu den digital natives gezählt werden. Für sie ist der Umgang mit dem Internet eine Selbstverständlichkeit. Ihr Suchverhalten ist geprägt von der Erfahrung mit Universalsuchmaschinen wie Google: einfache Bedienbarkeit; große Ergebnismengen, von denen jedoch nur ein winziger Bruchteil - von der Suchmaschine als besonders "relevant" eingestuft - beachtet wird; die Erwartung, möglichst am eigenen Arbeitsplatz direkt auf Ressourcen wie wissenschaftliche Zeitschriftenartikel in digitaler Form zugreifen zu können.

Nicht umsonst ist daher auch in wissenschaftlichen Bibliotheken seit einigen Jahren eine deutliche Umschichtung von Erwerbungsmitteln zugunsten elektronischer Ressourcen zu beobachten: Gerade wissenschaftliche Zeitschriften werden immer seltener in gedruckter, stattdessen zunehmend in digitaler Form bezogen. Das bedeutet häufig auch, dass die Zeitschriften nicht mehr dauerhaft gekauft werden, sondern dass ein zeitlich befristetes Zugangsrecht erworben wird. In Großbritannien geht man im Rahmen des Programms UK Research Reserve sogar so weit, die gedruckten Exemplare wenig genutzter wissenschaftlicher Zeitschriften aus dem Bestand der meisten Universitätsbibliotheken zu entfernen; was bleibt, ist der Onlinezugriff, der allerdings zumeist über kommerzielle Akteure (nämlich Verlage) bereitgestellt wird. Hier ist die Frage nach der Privatisierung wissenschaftlich relevanter Informationen angesprochen. Diese stellt sich auch deshalb mit besonderer Schärfe, weil solche Informationen häufig an öffentlich finanzierten Einrichtungen entstehen. Ihre Vermarktung durch private, kommerzielle Verlage wurde bereits angesprochen.

In eine etwas andere Richtung weist das bekannte Bücherdigitalisierungsprojekt Google Books. Dafür sind schon Millionen Bücher digitalisiert und teilweise frei verfügbar gemacht worden - manchmal übrigens unter Missachtung des Urheberrechts. Und natürlich werden diese Inhalte von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gerne genutzt. Mehr noch: Google Books bietet ganz neue Möglichkeiten der maschinellen Textanalyse. So konnte beispielsweise der US-Historiker Dan Cohen unter Rückgriff auf 1,7 Mio. von Google digitalisierte Bücher aus der Zeit von 1789 bis 1914 zeigen, dass im Laufe des viktorianischen Zeitalters in Buchtiteln Begriffe wie "heilig" oder "Religion" immer seltener vorkommen, während "Wissenschaft" an Bedeutung gewinnt - was durchaus Rückschlüsse auf den Zeitgeist zulässt.

Diese Entwicklung wirft auch Fragen auf, zum Beispiel: Wird wissenschaftliche Forschung so noch stärker von einem privaten, ökonomische Interessen verfolgenden Akteur abhängig? Wie kann gewährleistet werden, dass die heute mit privaten Mitteln digitalisierten Texte auch in Zukunft angesichts immer neuer technischer Entwicklungen noch lesbar und damit benutzbar sind? Nicht zuletzt deshalb plädierte Jean-Noël Jeanneney, von 2002 bis 2007 Direktor der Französischen Nationalbibliothek, schon 2005 in einer vielbeachteten Streitschrift für verstärkte Anstrengungen der EU-Staaten bei der nachhaltigen Digitalisierung ihres kulturellen Erbes - ein neues Betätigungsfeld auch für Bibliotheken.

Und was ist mit den Forscherinnen und Forschern? Sie rezipieren nicht nur digitale Inhalte via Internet, sondern sie bedienen sich ebenso neuer Formen der internetbasierten Kommunikation: E-Mails haben die Wissenschaftskommunikation erheblich erleichtert und beschleunigt. Hinzu kommen Kommunikationsformen wie Weblogs oder der Kurznachrichtendienst Twitter, die auch den interaktiven, öffentlichen, wissenschaftlichen Diskurs beschleunigen und vereinfachen können. Bibliotheken stellt diese Entwicklung unter anderem vor die Frage, welche Teile dieses dynamisierten, netzbasierten Wissenschaftsdiskurses dauerhaft bewahrt, erschlossen und zugänglich gemacht werden sollten.

Zugleich belegen empirische Studien, dass Wissenschaftler mehrere Stunden pro Woche für die Suche nach Informationen aufwenden. Nach wie vor spielt aber der persönliche Austausch, zum Beispiel das Gespräch mit Kolleginnen und Kollegen am eigenen Arbeitsplatz, eine wichtige Rolle. Andere Suchzugänge wie Fachbibliographien oder Bibliothekskataloge verlieren dagegen tendenziell an Bedeutung. Hier ist die Entwicklung neuer, zeitgemäßer Suchwerkzeuge für Bibliotheken das Gebot der Stunde.

Die neuen Technologien bergen viele, teilweise ungenutzte Potenziale. So wird unter der Überschrift "Open Access" diskutiert, inwieweit auch die Endergebnisse eines konkreten Forschungsvorhabens via Internet frei zugänglich gemacht werden können - und sollten. Einer der klassischen Publikationswege, gerade auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften, ist nach wie vor die (gedruckte oder digitale) Monografie, die bei einem wissenschaftlichen Verlag erscheint. Zumindest zahlenmäßig noch wichtiger sind Veröffentlichungen in renommierten Wissenschaftsjournalen. Diese Zeitschriften sind in der Regel in der Hand kommerzieller Anbieter, die zum Teil sogar über eine quasi-monopolistische Stellung verfügen. Ihre Journale sind eben diejenigen, in denen ein wissenschaftlicher Beitrag erscheinen muss, um als exzellent und renommeeträchtig zu gelten. Diese Marktstruktur stellt übrigens gerade auch wissenschaftliche Bibliotheken vor Probleme, da die Verlage ihre Marktmacht für Preissteigerungen nutzen, die nicht einmal annähernd durch entsprechende Steigerungen des Erwerbungsetats der Bibliotheken aufgefangen werden. So erklärte im April 2012 selbst die renommierte und finanziell gut ausgestatte Harvard-Universität, sie stoße bei der Beschaffung wissenschaftlicher Fachzeitschriften an finanzielle Grenzen. Und aus Protest gegen die Preispolitik des Elsevier-Verlags boykottiert eine kleine, aber wachsende Zahl von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern weltweit die Zusammenarbeit mit diesem wirtschaftlich hochpotenten Wissenschaftsverlag.

Es gibt deshalb Versuche, Zeitschriften zu etablieren, die zum Teil nur online erscheinen und unentgeltlich zugänglich sind. Solche Entwicklungen sind je nach Disziplin unterschiedlich weit fortgeschritten. Zudem stellen sich auch hier Kostenfragen im Zusammenhang mit dem Betrieb der Infrastruktur für solche Open-Access-Zeitschriften, ihrer redaktionellen Betreuung sowie der Organisation einer adäquaten Qualitätskontrolle. Bei der Beantwortung dieser Fragen können Bibliotheken helfen.

Umbrüche zeichnen sich ebenso bei den Forschungsprimärdaten ab. Das Spektrum reicht dabei von Daten aus astronomischen Beobachtungen bis hin zu den Ergebnissen sozialwissenschaftlicher Befragungen. Schon wegen des finanziellen Aufwands für die Erzeugung solcher Daten wäre es ein Mehrwert, sie via Internet sichtbar und öffentlich zugänglich zu machen - beispielsweise um Doppelerhebungen zu vermeiden. Zugleich bestünde so eher die Möglichkeit, Forschungsergebnisse, die auf diesen Daten basieren, nachzuvollziehen und nachzuprüfen - angesichts mancher Fälschungsskandale in der jüngsten Vergangenheit ein nicht unwichtiger Aspekt. Schließlich könnte das semantische Web in Zukunft ganz neue Möglichkeiten bieten, Forschungsdaten inhaltlich neu zueinander in Beziehung zu setzen und neue Zusammenhänge aufzuspüren.

Wo bleiben bei alldem die wissenschaftlichen Bibliotheken? Sie haben die Chance, den hier skizzierten rasanten Wandel der Wissenschaftskommunikation kreativ mitzugestalten, denn sie verfügen über gut ausgebildete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die den Forschenden dabei helfen können, einen Weg durch den manchmal undurchdringlichen Dschungel der via Internet zugänglichen Informationsressourcen zu finden. Sie haben über Jahre Expertise bei der maschinellen Verarbeitung großer, strukturierter Datenmengen aufgebaut. Bibliotheken nutzen mächtige Werkzeuge zur systematischen Beschreibung von wissenschaftlich relevanten Informationsressourcen, die zu einem "Sprungbrett" in die Welt des semantischen Web werden können, wie Thesauri oder Normdateien für Personen und Institutionen. Sie wissen um die Notwendigkeit der nachhaltigen Sicherung wissenschaftlich relevanter Informationsressourcen und arbeiten aktiv daran, dieses Wissen auch auf die Welt der elektronischen Ressourcen zu übertragen. Und schließlich sind Bibliotheken Dienstleister, deren primärer Daseinszweck nicht die Erzielung von Gewinnen ist, sondern eine optimale Informationsversorgung ihrer Nutzerinnen und Nutzer.

Damit können Bibliotheken wichtige Akteure in einer Gesellschaft sein, die gerade in einem rohstoffarmen Land wie Deutschland auf die Ressource Wissen besonders angewiesen ist. Gleichzeitig stehen sie jedoch vor vielfältigen Herausforderungen. Diese reichen von urheberrechtlichen Restriktionen über die begrenzten finanziellen Mittel der öffentlichen Hand bis hin zur Heterogenität der Bibliothekslandschaft, die im föderalistischen System Deutschlands besonders stark ausgeprägt ist. Diese macht es nicht leicht, Synergien zu nutzen, die im Zeitalter weltweit vernetzter Kooperationsstrukturen notwendiger denn je erscheinen.

Doch die Probleme sind erkannt: Akteure wie der Wissenschaftsrat, die Gemeinsame Wissenschaftskonferenz oder die Deutsche Forschungsgemeinschaft und nicht zuletzt die Bibliotheken selbst befassen sich so intensiv wie seit Jahren nicht mehr mit der Neuausrichtung der wissenschaftlichen Informationsinfrastruktur in Deutschland. Es besteht also berechtigter Anlass zu der Hoffnung, dass wissenschaftliche Bibliotheken auch in Zukunft Treiber und nicht Getriebene des Internetzeitalters sein können.


Sebastian Nix hat Kommunikationswissenschaft und Bibliotheks-/Informationswissenschaft studiert. Seit Juli 2009 leitet er den Bereich Bibliothek und wissenschaftliche Information am WZB.
sebastian.nix@wzb.eu

Literatur

Ball, Rafael: "Wissenschaftskommunikation im Wandel - Bibliotheken sind mitten drin". In: Hohoff, Ulrich/Knudsen, Per (Hg.): Wissen bewegen - Bibliotheken in der Informationsgesellschaft. Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie, Sonderband 96. Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 2009, S. 39-54.

Kommission Zukunft der Informationsinfrastruktur: Gesamtkonzept für die Informationsinfrastruktur in Deutschland. Berlin: Wissenschaftsgemeinschaft Gottfried Wilhelm Leibniz e.V. 2011, online: http://www.leibniz-gemeinschaft.de/download.php?fileid=555 (Stand: 27.04.2012).

Wissenschaftsrat: Empfehlungen zu Forschungsinfrastrukturen. Köln: Wissenschaftsrat 2011.

*

Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 136, Juni 2012, Seite 22-25
Herausgeber:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
10785 Berlin, Reichpietschufer 50
Tel.: 030/25 49 10, Fax: 030/25 49 16 84
Internet: http://www.wzb.eu
 
Die WZB-Mitteilungen erscheinen viermal im Jahr.
Der Bezug ist kostenlos.


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Juli 2012