Schattenblick →INFOPOOL →BUCH → BIOGRAPHIE

REZENSION/015: Pechmann - Mary Shelley, Leben und Werk (Literatur) (SB)


Alexander Pechmann


Mary Shelley - Leben und Werk



Kein anderer Roman der englischen Schriftstellerin Mary Shelley, geborene Wollstonecraft Godwin, hat auch nur annähernd den Bekanntheitsgrad erreicht wie "Frankenstein". Es ist nicht übertrieben, diesem 1818 veröffentlichten Werk einen mythischen Charakter zu attestieren. Wobei der vollständige Titel, "Frankenstein oder Der moderne Prometheus", im Unterschied zu der bekannteren, aber verkürzten Version treffender daran erinnert, daß der Roman nicht als Gruselschocker geschrieben wurde, sondern daß er sich an eine klassische, ideengeschichtliche Vorlage anlehnen sollte. So wie der Sage nach Prometheus, der Sohn des Zeus, den Menschen das Feuer gebracht und auch Menschen geschaffen hat, läßt Mary Shelley den von Wissensdurst getriebenen Forscher Viktor Frankenstein ein übermächtiges Wesen erzeugen, zusammengesetzt aus menschlichen Leichenteilen, dank überragender chemischer Kenntnisse bewahrt und unter Nutzung der unbändigen Kraft des Blitzes ins Leben geschleudert. Doch Frankenstein schuf einen Dämon, der seinem Schöpfer vom ersten Augenblick an zum Fluch geriet.

Ist bereits den wenigsten Menschen Mary Shelleys anspruchsvolle Romanvorlage für die manchmal nur noch entfernt assoziativ verknüpften Frankenstein-Adaptionen im Film, auf der Bühne oder in der Popkultur bekannt, so dürfte sich der Kreis der Menschen, die weitere Romane aus dem literarischen Werk der Autorin gelesen haben, bestenfalls auf wenige Experten der englischen Literatur beschränken. Dem möchte Alexander Pechmann, der zeitgleich eine Neuübersetzung der Urfassung des Frankenstein-Romans vorgelegt hat, mit seiner jetzt erschienenen Biographie von Mary Shelley abhelfen. Beide Bücher können durchaus als gelungene Werbung für künftige Übersetzungsprojekte dieser Autorin verstanden werden.

Aus den Reisebeschreibungen, Romanen und Manuskripten Mary Shelleys, ihrem regen Briefverkehr und den Tagebuchnotizen sowie aus schriftlichen Hinterlassenschaften ihres Bekanntenkreises hat Pechmann eine thematisch akzentuierte Chronologie des Lebens der Autorin verfaßt, das schon früh von tragischen Todesfällen im privaten Umfeld gekennzeichnet war. Die Mutter, die bekannte Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft, stirbt zehn Tage nach der Entbindung an Kindbettfieber. Mary Godwin lernt in jugendlichen Jahren den verheirateten englischen Dichter Percy Bysshe Shelley kennen und bringt mit 17 Jahren eine Tochter, Clara, zur Welt. Diese überlebt nur zwei Wochen. Im Jahr darauf, 1816, nimmt sich sowohl Marys Halbschwester Fanny das Leben als auch Harriet Shelley, die Frau P. B. Shelleys, den Mary noch im gleichen Jahr heiratet. 1818 und 1819 verliert Mary zwei weitere Kinder, Clara Everina und William. Das Jahr 1822 hält für sie gleich mehrere tragische Todesfälle bereit. Am 19. April kommt die Tochter ihrer Halbschwester Claire ums Leben, am 16. Juni erleidet Mary eine Fehlgeburt, und am 1. Juli kentern ihr Gatte und ein gemeinsamer Freund, Edward Williams, während einer gemeinsamen Italienreise bei einem Bootsausflug im Golf von Spezia.

Da stand sie nun, 25 Jahre jung, Witwe und Mutter eines einzigen ihr verbliebenen Kindes, des 1819 geborenen Percy Florence. Die vielen tragischen Schicksalsschläge sowie das Leben in einer "Patchwork-Familie", wie Pechmann sie nennt, beeinflußten in starkem Maße das gesamte literarische Schaffen Mary Shelleys. Dabei hat sich der Biograph mit allzu kühnen Interpretationen des Lebens der Autorin zurückgehalten. Spekulationen über spiritistische Praktiken, wie sie gern mit der Zeit in der Villa des englischen Lebemanns und Dichters Lord Byron am Genfer See verknüpft werden, in der auch der "Frankenstein"-Roman entstand, läßt Pechmann zwar nicht unerwähnt, aber er teilt sie nicht. In den Fällen jedoch, in denen er über die möglichen Beweggründe Mary Shelleys für bestimmte Handlungen oder über ihr Verhältnis zu einzelnen Familienmitgliedern und Bekannten schreibt, stützt er seine Annahmen durch plausible Verweise entweder auf Mary Shelleys eigene Aussagen oder auf überlieferte Ereignisse in ihrem Lebensumfeld ab.

Dabei fällt ein Phänomen ins Auge, das typisch für viele Biographien ist: Je intensiver sich jemand mit einer historischen Person befaßt, desto facettenreicher erscheint sie ihm. Wenn Mary Shelley beispielsweise als eine führende Autorin der englischen Romantik beschrieben würde, könnte dem entgegengehalten werden, daß sie eine nüchtern denkende, eher der Wissenschaft zugeneigte Person war. Wollte aber jemand umgekehrt behaupten, Mary Shelley sei schon früh vom Leben gezeichnet gewesen, so daß ihr für Träumereien kein Platz geblieben sei, so könnte diese Vorstellung durch den Verweis auf ihre durchaus vorhandenen, idealistischen Neigungen gekontert werden, die an etlichen Stellen ihrer Arbeiten eingeflossen sind und sich beispielsweise ausgerechnet in dem wissenschaftlichen Forscherdrang Frankensteins zeigen.

Kurzum, vereinfachende, lineare Erklärungen, welche mal von dieser, mal von jener Stelle aus Shelleys Schriften abgeleitet werden, nur um eine vermeintlich abschließende Charakterstudie von ihr zu zeichnen, würden der Autorin in keiner Weise gerecht. Darauf macht Pechmann bereits in seinem Vorwort, das er mit einem Tagebucheintrag Shelleys beginnt, aufmerksam, wenn er schreibt:

Die in der knappen Notiz verborgenen Standpunkte belegen eine Unabhängigkeit im Denken und einen fundamentalen Skeptizismus, der eine eindeutige Zuordnung unmöglich macht. (S. 7)

In dem vorliegenden Buch werden die Leserinnen und Leser nicht mit biographischen Standards abgespeist. Pechmann versucht vielmehr, ein möglichst umfassendes Bild der Autorin zu zeichnen, indem er verstärkt ihre persönlichen Aufzeichnungen heranzieht. Außerdem geht er ausführlich auf die Inhalte ihrer Romane ein und erörtert, welche Einflüsse bei bestimmten Handlungen eine Rolle gespielt haben könnten, wobei als überzeugendster Beweis für die erstaunliche literarische Bandbreite Mary Shelleys sicherlich ihr Roman "Frankenstein oder Der moderne Prometheus" angesehen werden muß. Insbesondere in der von Pechmann neuübersetzten Urfassung finden sich zahlreiche Anspielungen aus dem Privatleben der Autorin sowie auf die von ihr gelesenen Bücher. Auch die sozialtheoretischen Schriften ihres Vaters, William Godwin, finden sich im Gesamtwerk der Autorin wieder, ebenso wie die Ansichten des radikalen Romantikers Percy B. Shelley, dessen Stimmung regelmäßig zwischen Himmel hoch jauchzend und zu Tode getrübt zu pendeln schien.

Pechmann hat für jedes der 17 Kapitel dieser Biographie einen anderen Schwerpunkt gesetzt, der mal der Mutter, dem Vater oder Ehemann, mal Freunden und Bekannten oder auch Shelleys Romanen gewidmet ist. Zu nennen sind "Valperga" (1823), "Der letzte Mensch" (1826), "Perkin Warbeck" (1830), "Lodore" (1831-35), "Falkner" (1835-37) und ihr Erstlingswerk "Frankenstein" (1818). In diesem spiegelt sich der Übergang von der aus heutiger Sicht rückständigen Alchimie zu der vermeintlich nüchternen Chemie ebenso wider wie die von der Philosophie, Naturwissenschaft und Religion aufgeworfene Frage nach dem Wesen des Menschen, seiner Seele, dem göttlichen Funken oder schlicht dem Unvergänglichen.

Die frühe Verarbeitung des "Frankenstein"-Stoffs durch die Bühnenaufführung hat der Autorin allerdings keinerlei Tantiemen eingebracht und ihr auch auf andere Weise zum Nachteil gereicht, nämlich durch die starke Verfremdung dieses vielschichtigen Stoffs. Wie hartnäckig sich der allgemein verbreitete Irrtum gehalten hat, daß in Abweichung von der Romanvorlage die meisten Menschen den Unhold und nicht seinen Schöpfer als Frankenstein bezeichnen, beweist selbst die vorliegende Biographie, auf deren Einbandrückseite der Text mit den Worten beginnt: "Wer kennt nicht Frankenstein, das aus Leichenteilen zusammengesetzte Monster? ..." Dieser allzuleicht nachvollziehbare Lapsus ist nicht Pechmann anzulasten, da ein Autor normalerweise auf die Präsentation seines Werks wenig Einfluß hat und er das Produkt womöglich vor der Drucklegung gar nicht zu sehen bekommt.

Das Leben Mary Shelleys war bereits so bewegt, daß Pechmann es sich erlauben konnte, die Biographie recht unaufgeregt zu schreiben. Das liest sich angenehm und läßt das Leben und Werk der Autorin viel klarer vor dem inneren Auge entstehen, als wenn er mit Überhöhungen und sensationsheischenden Formulierungen gearbeitet hätte. Im deutschen Sprachraum wurde bislang wenig zu der Autorin veröffentlicht. Mit der Neuübersetzung von "Frankenstein" und der Biographie von Mary Shelley dürfte Alexander Pechmann seinem selbsterklärten Ziel, den Anstoß zu geben, daß das übrige Schaffenswerk der Schriftstellerin auch der deutschsprachigen Leserschaft zugänglicher gemacht wird, ein beachtliches Stück nähergekommen sein.

Datum: 3.11.2006


Alexander Pechmann
Mary Shelley - Leben und Werk, Biographie
Patmos Verlag, Artemis & Winkler, Düsseldorf 2006
ISBN 3-538-07239-6