Schattenblick →INFOPOOL →BUCH → BIOGRAPHIE

REZENSION/012: Hans Wollschläger - Karl May (Abenteuerliteratur) (SB)


Hans Wollschläger


Karl May (Abenteuerliteratur)

Grundriß eines gebrochenen Lebens



Karl May - ein zerstörter Mythos?

Der Schriftsteller Karl Friedrich May wurde am 25.2.1842 in Ernstthal, Sachsen in eine Weberfamilie geboren, die sich mehr schlecht als recht am Leben hielt. Karl May hatte mit Sicherheit keine glückliche Kindheit: Hunger hat er schon früh spüren müssen und mit Heimarbeit zum Unterhalt der Familie beitragen. Für Verständnis kindlichen Bedürfnissen gegenüber bleibt da wenig Raum. Der Vater scheitert mit einer Reihe von Unternehmungen, die aus der Not bringen sollen, eine kleine Erbschaft der Mutter wird durchgebracht. Diese macht schließlich mit Auszeichnung eine Ausbildung zur Hebamme und kann so die Kasse aufbessern. Früh wird dem Jungen eine Neigung zum Lernen beschieden, die der Vater auf seine mißverstandene Weise mit zusätzlichen Lernaufgaben und mit Schlägen zu fördern sucht, mit dem Ergebnis, daß Karl May kaum zum Spielen aus dem Haus und mit Gleichaltrigen kommt.

"Ein echter, wirklicher Schulkamerad und Jugendfreund ist mir nie beschieden gewesen."
(Chr. Heermann: Winnetous Blutsbruder. Karl-May-Biografie, S. 60)

Einziger Trost scheinen die Großmutter mit ihren Märchen und der als Wanderbursche in der Welt herumgekommene Schmied Christian Friedrich Weißpflog - der auch in späteren harten Tagen noch zu ihm steht - gewesen zu sein, der die Knaben des Ortes mit seinen Erlebnissen bezaubert. Als 12jähriger stellt May in einer Gaststube Kegel auf, um ihm auch noch aufgezwungene Privatstunden zu finanzieren. 1957 beginnt er, von den Eltern und einem Stipendium finanziert, in Waldenburg eine Ausbildung zum Grundschullehrer. Für ein Studium fehlen die Mittel, und die materielle sowie geistige Not hat hiermit keineswegs ein Ende. Die Ausbildung ist streng daran orientiert, die Zöglinge und damit ihre künftigen kleinen Schüler zu einem gottesfürchtigen und ihrem Stand gemäßen gehorsamen, fleißig-bescheidenen Lebenswandel anzuhalten.

Um der darbenden Familie das Weihnachtsfest zu erhellen, entwendet der Proseminarist May einige Kerzen aus der Schule, wird entdeckt und kann nur mit großem Einsatz von Pfarrer, Familie und Gnadengesuch seine Ausbildung an einer anderen Lehranstalt zuendebringen. Ein Mißverständnis mit einem Stubengenossen wird ihm während seiner bereits zweiten Anstellung als Diebstahl zur Last gelegt - 6 Wochen Gefängnis sind die Folge. Er kehrt nach Ernstthal zur Familie zurück, schlägt sich mit Gelegenheitsarbeiten durch, bis er durch eine Reihe kleinerer, vorwiegend Betrugs- und Diebstahlsdelikte aus Not, erneut das Auge des Gesetzes auf sich zieht und eine Strafe von vier Jahren und einem Monat Arbeitshaft. Diese verbringt er im Arbeitshaus in Zwickau, in dem man zusätzlich zur Bestrafung und Disziplinierung noch den Gedanken an "Besserung" hegt. Hier beginnt er in der wenigen Zeit, die ihm zur Verfügung steht, Pläne für spätere schriftstellerische Vorhaben zu schmieden - nach eigener Darstellung hat er mit dem Schreiben schon 1860 begonnen und 1863 die ersten Geschichten veröffentlicht. Vorzeitig nach etwa dreieinhalb Jahren im November 1868 entlassen, wird er erneut straffällig und muß weitere vier Jahre im Zuchthaus verbringen.

Wenn nicht schon der Freiheitsentzug als zusätzliche Strafe zur gesellschaftlich auferlegten, materiellen Not einen Menschen demütigt und seelisch vernichtet, schafft es mit Sicherheit ein Aufenthalt im verschärfter Arbeitshaft, die darauf angelegt ist, sich an jenen zu rächen, die ihr Los nicht klaglos und unauffällig tragen. Gilt es doch, ihnen unmißverständlich klarzumachen, daß für sie im gesellschaftlichen Gefüge nichts als der bedingungslose Gehorsam einem Herrn - sei es Fabrikherr oder Staatsgewalt - gegenüber gilt, der mit ihnen nach Belieben verfahren kann.

Wer das auferlegte Pensum nicht schafft oder auch nur geringfügig unliebsam auffällt, wird bestraft: durch Streichung des Verdienstes oder mit mehrtägigem 'Dunkelarrest' in einer engen Zelle, die kein Hinlegen ermöglicht. Besonders grausam ist der so genannte 'Latten-Arrest'. Die dafür präparierten Zellen sind am Boden und an den Wänden mit scharfkantigem Hartholz ausgeschlagen. Wird das 'Tragen von Holz und Kette' verordnet, muss bis zu einem Monat, auch während der Arbeit, an einer langen Kette am Bein ein Eisenklumpen von fünf, zehn oder fünfzehn Kilogramm mitgeschleppt werden. Zum zehnteiligen, noch vielfach untergliederten Strafenkatalog gehören auch 30 Schläge mit einem '85 cm langen ... 3/4 starken Haselstocke auf das entblößte Gesäß'. (Chr. Heermann, S. 119)

Karl May verbringt anfangs etwa ein Jahr in Isolationshaft. Geschrieben hat er in der ganzen Zeit wohl nicht. Liest man dieses, so ist es eigentlich nur und nichts anderes als ein Wunder, daß May es geschafft hat, nicht zu verbittern und darüber hinaus mit seinen Geschichten Generationen von Lesern Freude zu bereiten und sie auf Reisen und Abenteuer zu schicken, die sie anders nie erlebt hätten.

Im May 1874 wird er schließlich entlassen, nicht ohne den festen Entschluß, sich nie wieder in eine solche Lage zu bringen. Es gelingt ihm, bereits geknüpfte Kontakte zu erneuern, als Redakteur und Autor Fuß zu fassen und einen Mantel des Vergessens über die Schattenseiten seiner Vergangenheit zu breiten. Wollschläger berührt die Zuchthauszeit kaum, obgleich die Tatsache und die Dauer von Karl Mays Haft einigen Anlaß für weiterführende und greifendere Überlegungen geboten hätten, als diese analytisch zu verklären (s.u.).

Das gleiche trifft auch für die Hintergründe der vorwiegend Eigentumsdelikte zu. Bedenkt man allein die wirtschaftliche Situation seiner Familie, die sich, bereits in Not, für seine Lehrerausbildung noch das Letzte abverlangt hatte, fragt man sich, wie sie ihn, der längst auf eigenen Füßen stehen sollte, auch noch durchfüttern konnte. Karl May war wie seine Familie mit Sicherheit in materieller Not, und diese wird auf der einen Seite aus Scham (May selbst) und auf der anderen (der des Betrachters) aus Unverstand in ein psychisches Problem umgedeutet. Nicht, daß Karl May nicht auch seelisch in hohem Maße durch bereits Erlebt-Erlittenes und die Zukunftssorgen belastet war, doch die Sorge ums tägliche Brot wird zu jener Zeit die hervorragende gewesen sein. Seine Versuche, sich als Amtsträger oder wohlsituierter Bürger zu präsentieren und dadurch zu Barem zu gelangen, war wohl eher aus der Erkenntnis geboren, daß man schon etwas vorstellen muß, um materiell gesichert zu sein. Es gibt sicher keine zwei Meinungen darüber, daß Karl May seiner Herkunft wegen das Gros der gesellschaftlichen und persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten versperrt war und daß er dies auch tief als solches empfunden hat. Dieser Ansatz ermöglicht, wenn man handlungsorientiert denkt, ein breiteres Spektrum an Fragen und Möglichkeiten als der, einen psychologisch zu deutenden, aus Herkunft und Sozialisation geborenen Persönlichkeitsdefekt zu postulieren, der sich in seiner Folge so niederschlägt, daß das Ich, bzw. der bewahrte Rest, zur Sicherheit aus der Realität in die Buchwelt verlagert wird und jedesmal einen Dämpfer erfährt, wenn es sich auf unvorsichtige Weise daraus hervorwagt.

Mitten in diesem zäh und langsam beginnenden Aufstieg stößt May noch einmal mit dem Gesetz zusammen. Und das innere Schauspiel, das der Fall bietet, ist wichtiger und interessanter als der äußere Verlauf, der wenig mehr als einen Unfall erkennen läßt: Sicher geworden in den buchstabilen Regionen großer Gebärden, riskiert May es einmal, den auf Erden verbliebenen Rest seines Ichs sie imitieren zu lassen; einmal versucht er eine praktische Anleihe bei der wachsend stärkeren Imagination; - daß die Dämpfung so jäh und grob auf ihn niederkommt, erklärt, warum nun um so längere Zeit in um so sorgfältigerer Behutsamkeit verstreicht. Fast 20 Jahre dauert es, bis May - dann allerdings in großem Stil - die Identifizierung mit seinem abseits restaurierten Ich ein zweites Mal unternimmt: um ein zweitesmal, in großem Stil, damit zu scheitern ..." (Hans Wollschläger, Karl May - Grundriß eines gebrochenen Lebens, S. 60-61)

Sicher hatte der Autor auch, wie sich in vielen seiner Bücher zeigt, einen Sinn für Späße und Scharaden und wurde von einer gewissen Abenteuerlust gezwackt, doch hat er früh und sehr schmerzlich verstanden, daß allein die gesellschaftliche Stellung zählt.

Das, was heute gern psychologisch als Geltungsbedürfnis dargestellt wird und was Karl May im späteren Rückblick als Auswirkungen einer schweren seelischen Depression bezeichnet - vielleicht um die als größere Schande empfundene, bittere Armut nicht zu offenbaren - kann man auch als den verzweifelten Versuch eines Menschen sehen, sich in einer sich ihm gegenüber feindlich gebärdenden Umgebung zu behaupten und die Würde zu bewahren, die dem in Not Geratenen selten gewährt wird. Wird diesem doch von jenen, die unter unseren Eigentumsverhältnissen aus dem Elend Anderer Gewinn ziehen, die Schuld im doppelten Sinne aufgelastet: Er ist bedürftig und hat für andere Leistung zu erbringen und ist auch noch selbst dafür verantwortlich.

In seinem Buche, da deutet er sehr viel vom Schmutz und Sumpfe seines Heimatortes Ernstthal an, und darüber hätte ich gern von ihm genaue Angaben gewünscht. Er versagte, weil ihm die Erinnerung daran wehe tat...
(Friedrich S. Krauss: Karl Mays Selbstbiographie, in: Anthropophyteia, VIII, 501, Leipzig 1911 - zitiert nach: Hans Wollschläger: Karl May - Grundriß eines gebrochenen Lebens, S. 10)


Hans Wollschläger kommt zweifellos das Verdienst zu, als einer der ersten den Versuch unternommen zu haben, Karl May aus einer Wolke seliger Verklärung und dunstiger Gerüchte zu befreien und den Menschen in seinem Konflikt mit den schizophrenen gesellschaftlichen Vorgaben und Bedingungen zu zeigen. Dennoch muß man den Versuch als mißlungen betrachten. Weder gelingt die Annäherung an den noch immer beliebten Autoren, noch scheint diese vom Konzept her wirklich angelegt. Ein wesentlicher Punkt dieses Konfliktes, der der unmittelbaren Bedingungen des Überlebens, wird zu wenig berücksichtigt und höchstens psychologisch verklärend ausgedeutet.

Zum Wandel Karl Mays während seines Zuchthausaufenthaltes heißt es:

Nicht abgespalten, sondern - nach endlos langen Übungen in kahler Zellenstille - ganz heimlich und behutsam in sich isoliert werden sämtliche so verhängnisvollen Züge der gescheitert zerschundenen Person; ein gleichwohl riesiger Schub von Energie überführt sie in einen Bewußtseinsbezirk, in dem sie fortan schadlos weiterschalten können: in Bücher gebannt, von Einbänden gebändigt, vermögen sie heil zu bleiben noch im kranken, krankhaften Detail; die Heilung des Konflikts selbst entgeht der schmerzhaften, verkrüppelnden Operation. Was May hier gelingt, ist so ziemlich ohne Beispiel (und ein 'Geniestreich', wenn man will): nicht stutzt er zurecht, beschneidet, duckt, bekämpft, was ins bürgerliche Milieu nicht einzupassen war und auf weitere Zeit darin hätte umkommen müssen, sondern er verwandelt das Milieu selbst: er schafft seiner so bizarren Person und allen ihren heroischen, revoltierend herrischen Attitüden eine eigene, imaginäre Umwelt, in der sie ungehemmt gedeihen können: einen Traumraum, der in zähen Kleinarbeiten von jetzt an mit immer reicheren Details von höherer Wirklichkeit ausstaffiert wird. Der Vorgang dauert lange: über ein Vierteljahrhundert hin vollzieht sich Mays Entwicklung nunmehr im Gehäuse seiner Imagination. Was draußen in der rohen Realität übrigbleibt, ist nur der schattenhafte Umriß des alten, vertrackten Charakters: ein ungefährliches, umweltverträgliches Wesen, das auf sehr leisen Sohlen weitergeht, bis ... das wird später zu verfolgen sein." (Wollschläger, S. 50)

Der Titel "Grundriß eines gebrochenen Lebens" faßt eigentlich schon recht genau, worum es in dieser Biographie geht, die man keinesfalls als eine vollständige ansehen kann. Hans Wollschläger betrachtet tatsächlich ein Leben unter einem bestimmten Aspekt: dem des vergeblichen Versuchs, sich eine gesicherte und geachtete, dauerhafte gesellschaftliche Existenz zu schaffen und sich schriftstellerisch wie geistig in Ruhe umfassend zu entwickeln. Im Hintergrund könnte man das Postulat vermuten, daß dies zwar grundsätzlich möglich, jedoch an einigen kardinalen, mehr oder weniger zu erklärenden Fehlern Mays sowie letztlich an seinem Stammbaum gescheitert sei. Um den Kampf, den Karl May durchzustehen hatte, als solchen zu beleuchten, zieht der Autor - auch dieses Verdienst kommt ihm zu - eine Vielzahl von Dokumenten und Gerichtsakten heran, die der Leser als Interessierter kaum allein bewältigen könnte. Schon in dieser Aufbereitung stellen sie eine hohe Anforderung dar, da ein wenig der erzählend gelegte rote Faden fehlt. Es bedarf schon Detailaufmerksamkeit, um zu folgen. Die Zitierung und Aufbereitung solcher Dokumente legt in der Regel Objektivität nahe, vergessen wir jedoch nicht, daß diese von vornherein aus einer Position erstellt wurden, die das Individuum als potentiellen Delinquenten von vornherein verurteilt und daß der Biograph sie grundsätzlich unter seinem die Interpretation lenkenden, Blickwinkel wählt und darlegt, der im folgenden deutlich wird:

Weber waren fast alle Vor- und Vorvoreltern; Weber war der Vater. Von ihrem Dahinleben ist wenig aufbewahrt;... Intraden ohne Glanz - die dürftige Dorfpantomime immer stummer Rollen, deren letzte Hantierung noch vom grau sausenden Webstuhl bestimmt ist - Exit ins Dunkel. Das Erbe, das aus solchen Generationen auf den Letzten der Familie sich ablagerte, wiegt schwer, und wenn er sich später auch empört dagegen verwahrte, daß man ihn a t a v i s t i s c h e r S c h w a c h h e i t e n zeihe, so erklärt sich doch so manche Bruchstelle im wunderlichen Gewebe seines Lebens aus der trüben Provenienz der Fäden, die darin zusammenliefen: nicht nur die Revolution des Unteren, die in ihm heraufkam; das verkrüppelte Rechtsbild der vom Recht sehr lange Vergessenen; - auch der gestaute Kräfteschub derer, die selber nichts zu stiften vermochten, was geblieben wäre; und aus der Schwermut der Vergeblichen die singuläre Anstrengung selbst, die sie durchbrach und aufhob. (Wollschläger, S. 7-8)

May entspricht hier der singulären Anstrengung und Quintessenz des vergeblichen Bemühens vorangegangener Generationen. Eigentlich - und das ist bitter - legt diese Sicht nahe, daß Karl May von seiner Herkunft her schon so vorbelastet ist, daß er eine dumpfe Neigung zu Rebellion und Rechtsbruch in sich vereint. Diese Position spricht jedem, der sich gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse - auf welche Art auch immer - wehrt, und zwar ganz besonders natürlich aus seiner benachteiligten Position heraus, die Kompetenz, überhaupt das Vermögen ab, dies selbstbestimmt und aus freiem Willen zu tun. Überzieht man die Deutung ein wenig, hat man es bei natürlich nicht nur Mays Vorfahren mit einem gedrückten, trübe vegetierenden Menschenschlag zu tun, dem der Glanz des Kulturmenschen versagt ist, der Bodensatz im Grunde, aus dem sich vielleicht einmal ein Phönix erhebt, doch mit beschmutzten Schwingen. Allzuleicht und gern vergißt man als Mensch auf der Sonnenseite, daß die gesellschaftlichen Verhältnisse, an denen wir alle gleich beteiligt sind, das Handicap für jene darstellen, die kein Bein auf den Boden bekommen. Und der Kulturmensch oder wie auch immer man den zufrieden prosperierenden Bürger nennen mag, kann nicht der Maßstab für das vom Menschen Erstrebenswerte sein, denn er ist, wenn man das mal so platt sagen will: nur die andere Seite der gleichen Münze.

Die Weber sind Teil des Bodens, auf dem das System steht. Es beraubt sie ihrer Lebensqualität und -kraft, die - Metropolis - der Maschinerie zugeführt wird. So sollte nicht der Blick auf den Schmutz, in dem Menschen wühlen, fallen, sondern auf den, der diese Menschen dorthin bringt und dort hält. Das "verkrüppelte Rechtsbild der vom Recht sehr lange Vergessenen" ist nicht verkrüppelt, sondern richtet sich recht präzise gegen jene, die das Elend am Laufen halten, weil es ihnen nur aus dem Grunde besser geht als anderen. Und aus diesem Grunde führt auch die Betrachtung von Karl Mays "krimineller" Vorlaufbahn in die falsche Richtung. Der Maßstab dafür, was Verbrechen ist, ist vom Kapital geeicht, das den Raub allein für sich beansprucht, ihn jedoch als Recht benennt und den Raub des Menschen, der in der Not ist, sich am Leben zu halten, als Unrecht brandmarkt. Der Arme bricht das Herrenrecht, das ihm vorenthält, was er zum Leben braucht, das die Unterschiede schafft und aufrechterhält, das die Wut dessen zu bändigen, zu binden sucht, den man betrügt, indem man ihm Land, Luft, Wasser nimmt und ein Leben in (Lohn)Sklaverei aufzwingt - mit Psychologie hat das wenig zu tun.

Die Funktion der Psychologie an dieser Stelle ist deutlich jene, eine weitere Erklärung für die herrschenden Verhältnisse zu liefern, die sie in ihrem Bestand festigt. Und darüber hinaus, und auch dafür ist jenes Zitat so passend, in jedem einzelnen die Hoffnung zu nähren, der Misere entkommen zu können und auf die andere Seite zu wechseln - und damit wiederum das ganze Gefüge am Laufen zu halten. Karl May ist ein gutes Beispiel dafür. Denn ihm ist es - fast - gelungen, die so schmerzliche Vergangenheit hinter sich zu lassen. Auf eine Zeit als geachteter, gar geheimnisumwobener Autor, die ihm einiges an Wohlstand beschert, folgen Erpressung, langwierige Urheberprozesse und Verleumdungsklagen, seine wohlverschleierten Jugendverfehlungen werden ans Licht gezerrt und an seiner Legende vom reiseschriftstellenden Abenteurer gesägt. Das Schreiben fällt ihm zunehmend schwer, obwohl er neben den Anfeindungen auch Unterstützung erfährt. Er verläßt sich - vergeblich - auf die Weisheit der Justiz, wie er auch sonst schlecht beraten ist. Heute hätten vielleicht ein guter Anwalt und ein engagierter Agent geholfen. Karl May stirbt - eigentlich voller Pläne - am 30.3.1912.

Verlauf und Ausgang der von und gegen Karl May geführten Prozesse sind bei Wollschläger ausführlich dokumentiert. Zusammen mit den Jugendsünden bilden sie gewissermaßen den Rahmen des biographischen Grundrisses. Möchte sich der Leser nicht selbst in eine Unzahl von Dokumenten, Reiseerzählungen und Selbstdarstellungen, Gerichtsakten und Sekundärliteratur vertiefen, kann er hier schon, wenn er kritisch mit eigenem Ansatz an die Ausführungen herangeht, einen zusätzlichen Eindruck von Karl May gewinnen und sich vielleicht auch dem Menschen May nähern.

Mag man Karl May vorwerfen, daß er, bei aller Abenteuerlust und Aufsässigkeit seiner Helden, ein bürgerliches Leben vorgezogen hat, bewahrt er sich jedoch zumindest in seinem Verständnis gesellschaftlicher Verhältnisse ein Stückchen Eigensinn. Deutlich wird dies recht gut an folgendem Beispiel:

Im Jahre 1901, Karl May befindet sich auf der Höhe seines Ruhms, tritt der Verleger Joseph Kürschner mit der Bitte an ihn heran, er möge sich mit einem erzählenden Beitrag an einem großen Sammelwerk über China beteiligen. Dieser sagt zu, wie er später berichtet, ohne zu wissen, daß das Werk "der 'patriotischen' Verherrlichung des 'Sieges' über China gewidmet" war. (Heermann, S. 435) Vielmehr nutzt er die Gelegenheit, seine Stimme nicht nur gegen den deutschen Militarismus, sondern gegen jede koloniale Eroberung, Unterdrückung und zwangsweise Missionierung zu erheben:

Haben wir jemals ihr Blut vergossen? Haben wir sie jemals beleidigt, befeindet, übervorteilt und betrogen, wie sie es untereinander tun? Verlachen wir ihre Voreltern? Spotten wir über ihre Geschichte? Nein! Trachten wir nach den Schätzen ihrer Bergwerke, nach den Früchten ihrer Felder, nach den Erträgen ihrer Industrie? Nein und wieder nein und dreimal nein! Also frage ich:

Woher nehmen sie das Recht, wie Bazillen durch alle leiblichen und geistigen Poren in den Körper und in die Seele unserer Nation einzudringen und an dem so genannten 'gelben' Mann denselben Rassenmord zu verüben, an dem der 'rote' auch schon zugrunde gegangen ist?
(Und Friede auf Erden - Reiseerzählung von Karl May, Gesammelte Werke Bd. 30, S. 154/155)

und freut sich auch noch diebisch:

Ich hatte etwas geradezu Haarsträubendes geleistet ... Während ganz Europa unter dem Donner der begeisterten Hipp, Hipp, Hurra und Vivat erzitterte, hatte ich mein armes, kleines, dünnes Stimmchen erhoben und voller Angst gebettelt: 'Gebt Liebe nur, gebt Liebe nur allein!' Das war lächerlich; ja, das war mehr als lächerlich, das war albern. Ich hatte mich und das ganze Buch blamiert und wurde bedeutet, einzulenken. Ich tat dies aber nicht, sondern ich schloß ab... Mit dieser Art von Gong habe ich nichts zu tun!" (Wollschläger, S. 141)

Hans Wollschläger legt mit seinem Buch den Finger auf die Dinge, die man von sich selbst nicht so gern veröffentlicht sähe, auch das läßt es neben dem im Grunde ehrenrührigen analytischen Erklärungsansatz und einem Anstrich von Überheblichkeit, den der Biograph als Beobachter nur mit Feingefühl vermeiden kann, fraglich erscheinen. Zweifellos stellt es einen bestimmten Stand der Karl May-Forschung dar - das Buch ist im Jahr 1965 zum ersten Mal herausgekommen. Damit bewegt es sich in seiner Grundhaltung und in seinem psychologischen Ansatz noch vor der "Psychowelle" der 70er Jahre, die psychologische Begriffssysteme umfassend ins deutsche Bewußtsein gespült hat. Somit mag uns heute einiges als überholt erscheinen. Wer sich umfassend über Karl May informieren möchte, sollte vielleicht nicht unbedingt mit diesem Buch beginnen. Wir können allerdings angesichts entsprechend ausgefahrener moderner Publikationen, die wirklich diffamierend werden, froh darüber sein, daß wir hier nicht von einem Kenner in die tiefenpsychologischen Abgründe einer Hölle entführt werden, die entwicklungsgeschichtlich und gesellschaftssystemisch bedingt, zu ganz anderen Fragestellungen führen müßte als zu einer Versöhnung mit den gesellschaftlichen Verhältnissen. Wir können aber auch davon ausgehen, daß Karl May nichts als letzteres anstrebte - in einer etwas besseren Welt. Was er darunter verstand, läßt sich aus seinem Werk ohne Zweifel ableiten.

Der Autor:
Hans Wollschläger, geb. 1935, ist Schriftsteller, Übersetzer (James Joyce, E. A. Poe), Historiker, Rhetor, Essayist und psychoanalytisch ausgerichteter Literaturhistoriker. (Klappentext)


Hans Wollschläger
Karl May
Grundriß eines gebrochenen Lebens
Wallstein Verlag, Göttingen, 1. Auflage 2004 304 Seiten inklusiv Abbildungen, 32,- Euro