Schattenblick →INFOPOOL →BUCH → BIOGRAPHIE

BUCHBESPRECHUNG/010: Tavalaro - Bis auf den Grund des Ozeans (Medizin) (SB)


Julia Tavalaro


Bis auf den Grund des Ozeans

Sechs Jahre betrachtete man mich als hirntot.
Aber ich war es nicht. Ich bekam alles mit



Ein Hauptmerkmal des menschlichen Miteinanders, treffender auch bezeichnet als soziale Gegenseitigkeit, ist der beständige Handel. Im Geben und Nehmen spiegelt sich der soziale Status, die Wertigkeit eines Menschen. Wie stark dieser soziale Austauschmechanismus unsere Gefühle beeinflußt, unsere Wertvorstellungen prägt, ja sogar die Einschätzung des Selbstwertgefühls bestimmt, zeigt sich meist erst in Momenten, wo man sich plötzlich seiner "Handelsgüter" beraubt sieht. Krankheit Armut, Alter - Hilfsbedürftigkeit in jeglicher Form verschiebt das soziale Gleichgewicht. Kann nicht adäquat zurückgegeben werden, ist es nur eine Frage der Zeit und des Kalküls, wie lange andere Menschen bereit sind, sich noch für einen einzusetzen und zu engagieren.

Diese bittere und schmerzhafte Erfahrung muß Julia Tavalaro machen. Mit 31 Jahren erleidet sie einen Schlaganfall und fällt ins Koma. Als sie nach sieben Monaten das Bewußtsein wiedererlangt, merkt es keiner, denn ihr wacher Verstand ist eingeschlossen in einem vollständig gelähmten Körper. Lediglich die Augen kann sie bewegen und den Hals um wenige Zentimeter nach vorn schieben. Erst nach sechs Jahren gelingt es ihr, den ersten Kontakt aufzunehmen.


Das Buch von Julia Tavalaro macht nicht nur betroffen, es schockiert. Es ist nicht die flüssige Sprache oder der gut lesbare Stil, der dieser Aufarbeitung ihres Schicksals in Form einer Autobiographie die Ausdruckskraft verleiht. Es ist die Nüchternheit, mit der die Autorin ihre Erlebnisse schildert. Was sie gelernt hat, läßt sich nicht in Worte fassen und auch nicht durch Moral, Beschwerden oder Appelle vermitteln. So ist ihr Buch dann auch frei von diesen Formen der Mitteilsamkeit. Da Moral - sei sie auch noch so berechtigt - zunächst einmal immer auf Widerstand treffen würde, ist es gerade nicht verwunderlich, daß es Julia Tavalaro beim Schreiben dieses Buches gelungen ist, den Leser jenseits jeder Moral viel direkter und persönlicher zu erreichen und zum Nachdenken anzuregen.

"Ich wußte nicht, was Lähmung ist, bis ich nichts mehr bewegen konnte als meine Augen. Ich wußte nicht, was Einsamkeit ist, bis ich, Schmerzen von Kopf bis zu den Füßen, die ganze Nacht in der Dunkelheit warten mußte und vergeblich auf jemanden hoffte, der mit einer Träne des Trostes zu mir kam. Ich wußte nicht, was Schweigen ist, bis das einzige Geräusch, das ich hervorbringen konnte, das Pfeifen meines Atems durch das Loch war, das man in meine Kehle gebohrt hatte. [...] Niemand weiß, wie dunkel die Nacht ist, bis er nicht einmal mehr in der Lage ist, etwas ins Dunkel zu sprechen." (S. 46-47)

In den aktuellen Handlungsstrang, der mit dem Aufwachen aus dem Koma beginnt, sind Erinnerungen, Szenen aus ihrem früheren Leben, ihrer Kindheit, ihrer Jugend, ihrer Heirat eingeblendet. Plastisch erzählt Julia Tavalaro, wie sie die ersten Stunden und Tage erlebt, in denen sie langsam das Ausmaß und die Ausweglosigkeit ihrer Lage begreift. Sie beschreibt das, was um sie herum vorgeht, so bruchstückhaft, wie sie es mit ihrem eingeschränkten Gesichtsfeld wahrnimmt.

"Ein weißes Kleid kommt näher, hebt mich hoch, lacht mit einem anderen weißen Kleid, das mit der Zunge schnalzt und sagt: "Das Gemüse muß gewickelt werden." Mit einem jähen, entsetzlichen Wissen begreife ich, daß ich eine erwachsene Frau bin, die gleich erfahren wird, wie es ist, ein Baby zu sein." (S. 27)

Als ihre Eltern sie am dritten Tag besuchen kommen, knüpfen sich zwei große Hoffnungen an diesen Besuch: Zum einen, daß sie erfährt, wieviel Zeit verstrichen ist, und zum anderen, daß ihre Mutter merkt, daß sie wach ist. Doch der Schock ist groß, als sie sich eingestehen muß, daß nicht einmal die ihr vertrautesten Menschen mitbekommen, daß sie bei Bewußtsein ist. Statt getröstet zu werden, fühlt sie sich auch noch schuldig für den Kummer, den sie ihrer Mutter und ihrem Vater durch ihre Krankheit bereitet hat.

Jetzt habe ich furchtbare Angst. Sie beide glauben offensichtlich, daß es keine Hoffnung gibt. Ihr Kummer und die Angst meiner Tochter vor mir sind schwerer zu ertragen als der Schmerz in meinen Armen und Beinen, als meine Unfähigkeit, ihnen zu sagen, daß ich noch lebe. Ich versuche zu signalisieren, daß ich wach bin, indem ich den Kopf zwei oder drei Zentimeter vom Kissen hochhebe und ihn von einer Seite zur anderen drehe. Ich bewege auch die Augen, erst in ihre Richtung, dann zur Decke hinauf und schließlich nach unten zum Boden. Entweder sie bemerken es nicht, oder sie halten es für eine mechanische Bewegung, die ich mache, eine Geste ohne Bedeutung. (S. 62-63)

Der erste Mensch, der ahnt, daß Julia Tavalaro wach ist, der ihr etwas Trost und Hoffnung geben kann, ist ihre Schwester Joan, der sie immer sehr nahe gestanden hat. Doch ihr Versprechen "Komme, was da wolle, ich weiß, daß du da unten lebst. Was auch geschehen mag, und wenn die Erde einstürzt, ich werde dich hier rausholen." löst sie nicht ein. Die Krankenschwestern und Ärzte nehmen sie nicht ernst. Keiner glaubt ihr und keiner kommt auf die Idee, zu überprüfen, ob Frau Tavalaro nicht doch verstehen kann, was gesagt wird. Schließlich beginnt Joan selbst zu zweifeln und ihre Besuche werden immer seltener.

Sechs lange Jahre stehen Julia Tavalaro bevor, in denen sie weiterhin so behandelt wird, als wäre sie hirntod, in denen sie gedemütigt, gequält und mißhandelt wird. Sie weiß nicht, wo sie sich befindet und wieviel Zeit vergangen ist. Keiner spricht mit ihr, keiner weiß, daß sie alles mitbekommt und furchtbare Schmerzen erleidet.

Ich weiß nicht, was als nächstes in dieser Hölle geschehen wird, aber ich fühle mich, als wäre ich tief in einem Loch begraben, über das jeder hinwegtritt, ohne zu wissen, daß ich hier unten bin und atme. (S. 31)

Als Frau Tavalaro gebadet werden soll, hat das Pflegepersonal es nicht nötig, ihr mitzuteilen, was man mit ihr vorhat. Der Transport mit Hilfe eines Krans und einer Bahre bereiten ihr furchtbare Schmerzen, aber sie kann sich nicht artikulieren. Das Stöhnen, das sie hervorbringt, veranlaßt eine der Schwestern lediglich zu der Bemerkung: "Es wird immer schlimmer, was für Leute sie hierherschaffen. Man kann nicht mal mehr sagen, ob das Menschen sind oder nicht, finden Sie nicht auch?"

"Die Frauen rollen mich an der Schulter zur Seite, bis ich das Gefühl habe, daß ich ertrinke, ohne daß jemand einen Finger krumm machen wird, um mich zu retten. Das ist der Augenblick, in dem ich einen stillen Ort tief unten in meinem Bewußtsein finde, wohin meine Gedanken herabsinken können, wo ich Trost darin finden kann, Farben vor mir dahingleiten zu sehen. Ich schwebe jetzt an diesem warmen Ort, schwimme hier an einem Grashalm vorbei, dort an einem Lichtstrahl, bewege mich auf einen flinken roten Fisch zu und auf einen grünen Nebel, der das Blau filtert, den Strahl einfallenden Lichts. Farben blitzen auf wie ein Juwelenarmband am Handgelenk meiner Mutter, und ich sehe zu, wie die Juwelen blinken - ein Smaragd, eine Rubin, ein Amethyst -, jedes Juwel ein Gedanke frei von Schmerz, ein Fenster in einem U-Boot auf dem Grund des Ozeans. Solchermaßen geschützt treibe ich weiter und blicke zu meinem Rubin auf, zu meinem Diamanten, meinem Saphir, meinem Tunnel aus Licht, bis die Krankenschwester das Wasser abdreht und Stille einkehrt." (S. 42)

Ganz offen, unverblümt und ohne etwas zu beschönigen, schildert Julia Tavalaro ihre Gefühle. Zorn, Angst, Trauer, Haß, enttäuschte Hoffnungen, mißbrauchtes Vertrauen - sie muß erfahren, wie uneffektiv und unergiebig Gefühle sind, wenn man sie nicht äußern kann und sie damit ihre soziale Signalfunktion verloren haben.

Im ersten Tageslicht kurbelte eine Krankenschwester mein Bett hoch. Ich betrachtete ihre schlanken Finger und sah den fuchsigen roten Lack, mit dem sie am Vorabend ihre Fingernägel lackiert haben mußte. Ich war so wütend, daß ich ihr die Schuld gab. Ich gab meinem Mann die Schuld, weil er mich nicht rechtzeitig zu einem Arzt gebracht hatte. Ich gab meiner Mutter und meinem Vater die Schuld, weil sie mich nicht ordentlich großgezogen hatten, den Kindern in der Schule, weil sie mich verspottet hatten, Ärzten und Krankenschwestern und Krankenwagenfahrern und Gott. Ich beschuldigte sie alle, bis mein Kopf von soviel unbegründeten Anklagen schmerzte. Ich dachte, ich würde den Verstand verlieren bei all dem Zorn, den ich verspürte, aber dann wurde mir klar, wie falsch es war, anderen die Schuld an meinem Unglück zu geben. Niemand trug die Verantwortung für den Zusammenbruch meines Körpers. Aber was sollte ich mit dem Zorn machen, den ich nicht ausdrücken konnte? Wieder zeigte sich keine Antwort, und ich wollte lieber sterben, als gezwungen zu sein, ganz allein das Leiden zu ertragen, die Demütigung, den nagenden Schmerz in meinen Beinen und das Brennen in meinen Füßen. Ich konnte nicht verstehen, warum Joanie und die anderen Mitglieder meiner Familie nicht hier waren, vor allem, nachdem ich gerade die Lungenentzündung überlebt hatte. Wenn sie wirklich glaubten, daß ich bei Bewußtsein war, warum kamen sie dann nicht her, um mir zu helfen? Obwohl mir klar war, daß es schwierig und zeitaufwendig war, für eine Familie zu sorgen und sie zusammenzuhalten, wie Joan es tat, verstand ich doch nicht, daß meine Schwester, die ich immer für meine beste Freundin gehalten hatte, mich so ganz allein meinem Siechtum überlassen konnte. (S. 100-101)

Nach vier Jahren besucht ihr Mann sie zum allerersten Mal. Dieser Besuch zerstört ihre letzten Hoffnungen. Der Moment, in dem ihr Mann und ihre inzwischen sechsjährige Tochter gemeinsam hinaus in den Flur gehen und keiner zurückblickt, bringt die Wende. Es ist der Augenblick, in dem sie Kriegspläne zu schmieden beginnt. Die Zeit der Hoffnung, der Perspektiven ist vorbei, die der Demütigungen, Rückschläge und Schmerzen nicht. Ohne sich Illusionen zu machen und ohne jeden sozialen und menschlichen Rückhalt beginnt sie zu kämpfen und sich zu wehren. Die treibende Kraft ist ihr Zorn. Sie sucht nach Mitteln und Wegen, um die Menschen darauf hinzuweisen, daß sie bei Verstand ist.

Nicht nur im Beißen und Schreien brachte ich es zu wahrer Meisterschaft, ich lernte auch, viele direkte Formen nonverbaler Kommunikation zu benutzen. Ich lernte, mit einiger Lautstärke zu heulen, während ich mich vorbeugte und die Arme so fest wie möglich an die Brust preßte, um irgend jemanden daran zu hindern, etwas zu tun. Ich lernte, mich ganz schlaff zu machen, so daß es nicht mehr ganz so einfach war, mich auf die Seite zu drehen und irgend etwas mit mir zu machen. Wenn die Leute negativ über mich sprachen, weinte ich so heftig, daß ich sie ablenkte. Aber das Beste war mein neuer Trick: Erbrechen. (S. 110)

Als Julia Tavalaro nach 6 Jahren das erstemal von jemandem direkt angesprochen wird, glaubt sie zu träumen.

""Können Sie die Augen schließen, Mrs. Tavalaro?" Diese Worte sind ein Schock, der mich in die Realität zurückreißt. Das ist kein Traum: Jemand spricht m i t m i r. Ich schließe die Augen. Ich öffne sie und sehe Arlenes Gesicht. "Können Sie zweimal blinzeln?" Ich tue es. Stille füllt den Raum zwischen uns. Ihr Gesicht zeigt Schock und Trauer und Glück gleichzeitig. In den vergangenen sechs Jahren war niemand auf die Idee gekommen, mir diese einfachen Fragen zu stellen." (S. 121-122)

Mit Hilfe eines speziell für sie konzipierten Schreibgerätes lernt Julia Tavalaro, sich zu verständigen. Sie stürzt sich auf diese Möglichkeit der Kommunikation und beginnt, Gedichte zu schreiben. Bei einem Schreibworkshop im Oktober 1991 lernt sie den Mitautoren des Buches Richard Tayson kennen. Er ist Schriftsteller und Lehrer für kreatives Schreiben in New York und hilft Frau Tavalaro dabei, ihre Geschichte aufzuschreiben.

Nach mehr als 30 Jahren in einer New Yorker Klinik hat die heute über 60jährige Julia Tavalaro eine Möglichkeit gefunden, ein relativ selbständiges Leben zu führen.


"Bis auf den Grund des Ozeans" ist ein Buch, das sich zu lesen lohnt und das jedem nur empfohlen werden kann. Es macht betroffen und regt zum Nachdenken an. Gesellschaftliche und menschliche Werte werden nicht nur hinterfragt, sondern grundsätzlich infrage gestellt. Es ist eine Kampfansage an Ignoranz, Gleichgültigkeit und Mißachtung und macht Mut, nicht aufzugeben und sich zu wehren.
Vor langer Zeit stellten mich die Fragen, wie und wann ich hierhergekommen bin, vor ein grauenhaftes Rätsel. Inzwischen weiß ich mehr. Nach und nach kehrte die Erinnerung an die Einzelheiten eines heißen Sommerabends im August 1966 zurück - aber sie ist nicht so wichtig, wie sie mir einst schien. Die Antworten, so habe ich festgestellt, kratzen nicht einmal an den größeren und gefährlicheren Fragen meiner dreißigjährigen Existenz in dieser Anstalt. (S. 12)


Julia Tavalaro mit Richard Tayson
Bis auf den Grund des Ozeans
Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 1998
ISBN 3-451-26658-X