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BUCHBESPRECHUNG/006: Jehan Sadat - Ich bin eine Frau aus Ägypten (SB)


Jehan Sadat


Ich bin eine Frau aus Ägypten



Jehan Sadat ist die Tochter einer christlichen Engländerin und eines muslimischen Ägypters. Ihr Vater ist Beamter, repräsentiert somit die Mittelschicht eines Landes, in dem es eine winzige, reiche Elite und eine breite Masse Armer gibt. Wie viele Mädchen in Kairo besucht Jehan eine Schule, die sie in erster Linie auf ihre Haushaltspflichten als künftige Ehefrau vorbereitet. "Du bist hübsch und wirst vermutlich früh heiraten" (S. 45) antwortet ihr Vater auf die Frage, ob sie sich für den wissenschaftlichen oder den traditionell haushaltlich orientierten Zweig entscheiden sollte. Nichts weist darauf hin, daß sie einmal eine der einflußreichsten Frauen Ägyptens werden wird. Normalerweise hätte sie irgendwann ihren Nachbarn, einen Cousin oder einen anderen der potentiellen Bewerber geheiratet, die bereits sehr früh ihr Interesse an einer Ehe bekundeten.

Daß die junge Jehan überhaupt einen anderen Mann kennenlernte, war nicht vorgesehen und gehört in die Rubrik: blanker Zufall - oder Schicksal, wie der Sichtweise einer Muslimin eher entspricht. Nicht einmal ihr etwas ungewöhnliches Interesse für Politik, mit dem sie als junges Mädchen eine patriotische Moslembruderschaft unterstützte und schließlich den Prozeß an einigen Offizieren verfolgte, hätte an ihrem vorhersehbaren Lebensweg normalerweise irgend etwas geändert.

Bei dem Prozeß handelte es sich um eine Attentatsanklage. Der Finanzminister des Landes war nach einer pro-britischen Stellungnahme ermordet worden, und als Hauptverantwortlicher für das Attentat saß ein junger Offizier namens Anwar el-Sadat auf der Anklagebank, der von anti-britisch gesonnenen Ägyptern als Nationalheld gefeiert wurde. Jehan, die trotz ihrer englischen Mutter gegen die Besetzung ihres Landes war, schwärmte für den angeklagten Hauptmann wie andere für einen Sänger oder Filmstar.

Während eines heißen Sommers gehörte Jehan zu den vielen Großstädtern, die die Möglichkeit nutzten, der Bruthitze Kairos zu entfliehen und etwas Zeit am Meer zu verbringen. Sie besuchte ihre Cousine in Sues und erlebte hier den Freispruch ihres Helden Sadat. Als kurz darauf ihr Verwandter erklärte, daß er einen Gast im Haus habe, der eine Weile bei ihnen leben würde, hatte Jehan keine Ahnung, daß es sich bei dem Gast um niemand anderen als um den bewunderten Offizier handelte. Er kam gerade aus dem Gefängnis, lebte in Scheidung, hatte keine Arbeit und war absolut mittellos.

Eine Ehe zwischen dem geschiedenen Sadat und der minderjährigen Jehan gestatteten ihre Eltern nur nach Anwendung von Tricks, Überredungskünsten und intensiven Gesprächen mit der Mutter. Die einfache Herkunft Sadats sowie seine politische Vergangenheit sprachen gegen ihn und - was fast noch schlimmer war - seine dunkle Hautfarbe. Nichts zeichnete ihn in den Augen der Familie für eine Ehe mit ihrer hübschen Tochter aus, für die man sich eine weitaus bessere Partie versprochen hatte. Auch das Image als Nationalheld trug ihm zwar die glühende Bewunderung des Schulmädchens Jehan ein, nicht jedoch die Begeisterung der britischen Mutter. Freilich ahnte zu diesem Zeitpunkt niemand, daß der arbeitslose Offizier einmal Präsident von Ägypten werden sollte.

"Was würde geschehen, wenn Anwar und meine Eltern sich kennenlernten? Ich war wie erstarrt vor Angst. An dem Tag, an dem Anwar, meine Eltern und ich zusammen Tee trinken sollten, betete ich inbrünstig darum, daß es nicht unsere letzte Begegnung sein möge. Was meinen Vater betraf, so war ich sicher, daß er Anwar lieben würde, wenn die beiden nur lange genug Zeit hatten, sich zu unterhalten. Doch meine Mutter? Daß sie sich mit Anwar streiten, daß sie ihn anfangs strikt ablehnen würde, davon war ich ebenso fest überzeugt. Ich hörte sie schon jetzt zu mir sagen: "Nein, Jean. Diese Heirat kommt nicht in Frage."
Beim Tee nahm ich zwischen meiner Mutter und Anwar Platz. Keinen von beiden wagte ich anzusehen, sondern konzentrierte mich auf das Muster unseres Teppichs, das ich seither noch immer vor Augen habe. Das sich anbahnende Gespräch glich allerdings weniger einer höflichen Konversation als einem strengen, unerbittlichen Examen. Ich sprach kein Wort und hörte mir nur die Fragen an, die sie ihm stellte.
"Wir lasen ziemlich viel in der Zeitung über Sie, Herr Sadat", sagte sie auf arabisch. "Sind Sie noch immer gegen die britische Okkupation?"
Mir bleib beinah das Herz stehen.
"Ja, ich bin gegen diese Okkupation", gab er zurück. "Als Ägypter kann ich nicht dulden, daß wir uns von einem anderen Land vorschreiben lassen, wie wir leben sollen. Genau wie Sie das in England auch nicht dulden würden." Gut, dachte ich. Das kann sie verstehen.
"Wünschen Sie sich, daß alle Engländer Ägypten verlassen?" fragte sie weiter. Wieder blieb mir fast das Herz stehen.
Aber Anwar war großartig. "Natürlich nicht", antwortete er. "Ich habe nichts gegen das englische Volk. Wir sind schließlich alle Menschen, haben dieselben Träume und Hoffnungen. Es ist die Regierung, gegen die ich mich wehre, die Regierung, die mein Land besetzt hält."
Verstohlen beobachtete ich die beiden, während sie fragte und er antwortete, und versuchte in ihren Minen zu lesen. Aber da gab es nichts zu lesen. Ängstlich sah ich zu meinem Vater hinüber, doch dessen Mine war ebenfalls ausdruckslos. Er sprach kein Wort; er wußte, daß dieses strenge Examen nur zwischen meiner Mutter und Anwar stattfand, ohne ihn.
Dann kam die Frage, vor der ich mich besonders fürchtete: "Was halten Sie von Winston Churchill?"
"Winston Churchill ist ein Dieb", erklärte er fest. "Seit 1923 ist Ägypten ein souveräner Staat, doch er raubt unserem Land noch immer den Stolz und die Unabhängigkeit. Seine Politik ist die schlimmstmögliche, denn er verfolgt die Interessen seines Landes, indem er das meine demütigt. Für die Engländer mag er ein großer Mann sein, für uns ist er ein verhaßter Feind. Bei allem Respekt für Sie, Madame, empfinde ich für Mr. Churchill nichts als Verachtung."" (S. 74-75)

Die Ehe wird schließlich unter der Bedingung bewilligt, daß sich der Schwiegersohn künftig aus der Politik heraushält. Das Argument: die ständige Gefahr einer neuerlichen Verhaftung würde die geliebte Tochter unglücklich machen.

Dieser Logik folgend, ist es auch der erste Gedanke der jungen Jehan Sadat - als sie ausgerechnet beim Zahnarztbesuch erzählt bekommt, daß ihr Gatte soeben an einem Staatsstreich mitgewirkt hat -, daß er sich doch wieder in die Politik eingemischt hat, und ihr Vater wahrscheinlich böse sein wird.


Während dieser erste Teil des Buchs noch vorwiegend von persönlichen Erlebnissen berichtet, kommt nach der Revolution der Offiziere immer mehr das politische Geschehen in Ägypten zur Sprache. Jehan Sadat berichtet von dem Sturz König Feisal und der Regierungsübernahme Gamal Abdel Nassers, der als Präsident des nordafrikanischen Staates einen vollkommen anderen politischen Kurs einschlägt, als ihn das fremdregierte Land bisher erlebt hat. Sadat, der seit Jahren zur gleichen Gruppe Offiziere gehörte wie Nasser, wird zu einem seiner engsten Mitarbeiter und rückt bald in hohe politische Positionen auf, bis er schließlich, nach dem plötzlichen Tod Nassers, selbst das Amt des Präsidenten übernimmt.

Diese Schilderungen sprengen auf angenehme Weise den rein persönlich gehaltenen Rahmen einer Autobiographie. In einem flüssig lesbaren Plauderton geschrieben, bietet das Buch Einblicke in die politischen Verhältnisse Ägyptens, sowohl, was die inneren Angelegenheiten des Staates betrifft, als auch in Hinblick auf seine Außenpolitik. In puncto Außenpolitik stellt die Beziehung zu Israel einen besonderen Schwerpunkt dar. Durch das ganze Buch zieht sich das wechselvolle Verhältnis Ägyptens zu dem ursprünglich verhaßten Staat, bis hin zu den in der arabischen Welt einzigartigen Friedensgesprächen durch Präsident Sadat.

Weiterhin gewährt das Buch Einblick in den moslemischen Alltag Ägyptens. Die Autorin beschreibt beispielsweise die täglichen Gebete, eine Reise nach Mekka oder auch die unterschiedlichen Koranauffassungen von 'gemäßigten' Moslems sowie Fundamentalisten und trägt damit in unseren christlichen Breitengraden auf einfachste Weise zum Grundverständnis für diese Religion bei.

Ein anderer Schwerpunkt des Buches liegt auf der Darstellung ihrer eigenen, teilweise höchst innovativen, politischen Aktivitäten. Sie vertritt die Auffassung, daß sie sich in der priviligierten Position befindet, etwas für ihr Land - und besonders für die Frauen ihres Landes - tun zu können und setzt alles daran, dies in die Tat umzusetzen. So stellt sie sich beispielsweise zur Wahl in einen Volksrat, einer traditionellen Männerdomäne, wo sie Stück für Stück an Boden gewinnt.

"Anfangs hatte mich die Arbeit im Volksrat jedoch frustriert, denn die anderen Ratsmitglieder wollten mich nicht akzeptieren. Ganz gleich, was ich sagte, so provozierend es auch sein mochte - kein einziger Mann widersprach. "Ich stimme der Frau unseres Präsidenten zu. Die Frau unseres Präsidenten hat durchaus recht", pflegten sie alle ehrerbietig zu sagen. Das brachte mich allmählich zur Weißglut. "Ich sitze hier nicht als die Frau eures Präsidenten, sondern als Mitglied dieses Rates", hielt ich ihnen immer wieder vor. "Behandeln Sie mich also bitte nicht so furchtbar respektvoll. Das ist nämlich nicht höflich, sondern unfreundlich, denn es beweist mir, daß Sie meine Meinung nicht ernst nehmen." Eines Morgens dann, einen Monat nach meiner Wahl, schlug endlich ein Ratsmitglied mit der Faust auf den Tisch und sagte energisch: "Frau Sadat, Sie haben unrecht!" Ich lächelte ihm zu, denn nun wußte ich, daß wir mit unserer gemeinsamen Arbeit beginnen konnten." (S. 253-254)

Ihr Engagement reicht von der Krankenpflege verwundeter Kriegsopfer bis hin zu engagierten Projekten, die den Frauen ihres Landes konkrete Mittel in die Hand geben, ihre Lebensumstände und die traditionelle Abhängigkeit von den Männern zu verbessern. Hier scheut sie nicht vor der zermürbenden Durchsetzung von Gesetzesänderungen zurück, die beispielsweise das einengende und folgenschwere Scheidungsrecht zugunsten der Frauen verbessern. Bei allen ihren politischen Aktivitäten muß sie sich mit harten Verurteilungen - und Drohungen - der fundamentalistischen Moslems auseinandersetzen, obgleich sie selbst an keiner Stelle anstrebt, irgendein Gesetz zu befürworten, das sich nicht an die Gebote des Islam hält - nur interpretiert sie diese teilweise nicht auf die althergebrachte Weise.


Insgesamt gesehen vermittelt Jehan Sadat das Bild einer rund um die Uhr beschäftigten Frau. Dabei hebt sie sich wohltuend vom Klischee der mildtätig wirkenden, sozial engagierten Politiker- Gattin oder Prinzessin ab. Daß sie ihre Anliegen leidenschaftlich und stellenweise auch ambitioniert erzählt, trägt vielleicht nicht überall zur Sympathie der Autorin bei, macht jedoch ihren Standpunkt unzweifelhaft deutlich und sorgt dafür, daß das Buch an keiner einzigen Stelle langatmig zu lesen ist. Aufgrund seiner vielschichtigen Informationen, berichtet von einer unmittelbar am Zeitgeschehen beteiligten Frau, ist es als eine Art 'persönliches Geschichtsbuch' Ägyptens rundum zu empfehlen.


Zum Schluß noch ein Zitat, das eine Szene des Oktoberkriegs (Jom Kippur Krieg) zwischen Ägypten und Israel beschreibt und somit ein Beispiel für die historische Seite des Buches gibt:

"Trotz aller Aufforderungen zur Waffenruhe durch die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten drangen unsere Truppen weiter in den Sinai vor. Ich arbeitete den ganzen Tag in den Lazaretten und nahm nachts im Schlafzimmer die Anrufe ausländischer Regierungen entgegen, die Anwar sprechen wollten. Doch Anwar weigerte sich, auf eine Waffenruhe einzugehen, bevor Israel fest zusagte, sich aus allen arabischen Gebieten zurückzuziehen, die es besetzt hatte.
Zum erstenmal vermochte Ägypten aus einer Position der Stärke heraus zu verhandeln. Unsere Luftwaffe hatte in den ersten drei Kriegstagen ein Drittel aller israelischen Maschinen an der ägyptischen Front zerstört. Von Syrien, das sich Ägypten beim Angriff gegen Israel angeschlossen hatte, war ein großer Teil der israelischen Luftmacht im Norden vernichtet worden. Am vierten Kriegstag zerstörten die ägyptischen Streitkräfte über 120 Panzer der wichtigsten israelischen Panzerbrigade. Das Unglaubliche war geschehen, der Weg nach Tel Aviv lag weit offen vor uns. In Israel brach Verteidigungsminister Mosche Dayan zusammen und weinte vor dem versammelten ausländischen Pressekorps.
Als jedoch Israel den Krieg zu verlieren drohte und die Vereinigten Staaten um Hilfe bat, ließen die Reaktionen nicht lange auf sich warten. Wir, in den Krankenhäusern entlang der Kanalzone, mußten mit ansehen, wie die Zahl der ägyptischen Verwundeten plötzlich anschwoll und sich die Natur der Wunden auf eine Art veränderte, wie wir sie noch nie zuvor erlebt hatten. Modernste amerikanische Kriegstechnologie, darunter die neuen Splitterbomben, wurde gegen unsere Truppen eingesetzt.
Auf diese unbekannten neuen Waffen waren wir nicht vorbereitet. Trotz der Hilfe von Freunden und Verbündeten wie Präsident Tito von Jugoslawien, Präsident Boumedienne von Algerien und König Faisal, auf dessen Initiative elf ölproduzierende Araberstaaten Amerika mit einem Ölembargo belegten, blieb Anwar infolge der zunehmenden Unterstützung Israels durch Amerika nur eine einzige Möglichkeit offen: Am 19. Oktober verkündete er die Waffenruhe. "Mit blutendem Herzen habe ich die Aufforderung zur Waffenruhe befolgt", kabelte er Präsident Assad von Syrien. "Israel zu bekämpfen bin ich bereit, so lange es auch dauern mag, nicht aber die USA... Ich werde nie wieder zulassen, daß meine Streitkräfte vernichtet werden."" (S. 237-238)


Jehan Sadat
Ich bin eine Frau aus Ägypten
Die Autobiographie einer außergewöhnlichen Frau unserer Zeit
Zweite Auflage 1989
Scherz Verlag Bern, München, Wien
Titel der Originalausgabe: "A Woman of Egypt" (1987)
381 Seiten