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KALTE PLATTE/0050: Klatsch auf krossen Kräckern (SB)


Satirische Canapés und Cocktailbissen


Europa zu Fuß

Europa, die schöne Tochter des Königs Agenor von Phönikien, wird von Zeus, dem Herrscher über die Götter des Olymp, entführt. Zu diesem Zweck hat Zeus die Gestalt eines mächtigen Stiers angenommen. Mit Europa auf dem Rücken begibt sich der Zeusstier nach Kreta.

Dieses archaische Bild aus der griechischen Mythologie hat zahlreiche Völker anderer Kulturen zu eigenen Interpetationen angeregt. Auch der heutige Staatenbund "Europäische Union" ist eine solche. Doch wer oder was steht im Falle der EU für den Stier, der die Menschen der Mitgliedstaaten auf seinen Rücken nimmt, um mit ihnen dorthin zu laufen, wo sie vermutlich gar nicht hinwollen? Sicherlich nicht Zeus. Aber auf jeden Fall steht für den Stier eine ähnliche, vorrangig der eigenen Herrschaftssicherung verpflichtete Größe. Warum sollte man diese der Einfachheit halber nicht Zeus nennen? Die Europäische Union hat mit einer wunderschönen Phönikierprinzessin doch auch nicht viel gemein.

Doch nun wieder zurück zu den "Originalen". Der herrschaftslüsterne Zeus also trägt die sich hilflos auf seinem Rücken festklammernde Europa mit sich fort. Abzusteigen wagt sie nicht, denn der Koloß könnte sie dabei verletzten. Also läßt sie ihn gewähren. In vielerlei Hinsicht. Heraus kommen dabei die beiden Söhne Minos und Rhadamanthys, deren Karrierehöhepunkte ihre Ernennung zu Richtern des Totenreichs darstellt.

Auf Europa im Sinne der heutigen Union übertragen, ist das eine realistische Zukunftsprognose: Aus der schönen Idee "Europäische Union" und den sie davontragenden stierstarken, machtpolitischen Interessen gehen letzten Endes gerichtliche Instanzen hervor, die über jeden Einzelnen in jedem Detail seines Tuns ihr Urteil fällen. Und daß dies nicht in der vertrauten Alltagssphäre, sondern im Totenreich stattfindet, bedeutet schlichtweg, daß die künftige Existenz der Bürger Europas mit dem, was sie heute Leben nennen, nichts mehr gemein haben wird.

Ist es da nicht besonders witzig, daß sich ausgerechnet die Griechen als Erschaffer des Europa-Mythos so schwertun, wenn es um ihre Integration in den gleichnamigen Staatenbund geht? Haben sie aus der Entführungsgeschichte womöglich eigene Schlüsse gezogen? Wollen sie etwa, daß eine Europa nach ihrem Wunsch dankend auf das kraftstrotzende, herrschsüchtige Reittier verzichtet und zu Fuß dorthin geht, wo es sich für alle gut leben läßt?!

10. November 2011