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INTERVIEW/040: Maßgeblich - Gültigkeit und Akzeptanz ...    Prof. Dr. Volker Gerhardt im Gespräch (SB)




Aus schweren Steinblöcken gemauerter Brunnenschacht mit umlaufender, zum Wasserspiegel führender Treppe - Foto: Olaf Tausch, CC BY 3.0 [https://creativecommons.org/licenses/by/3.0/]

Nilometer zur Messung des Wasserstands des Nils und Festlegung der Feldbesteuerung aus der Zeit der Herrschaft der Ptolemäer über Ägypten
Foto: Olaf Tausch, CC BY 3.0 [https://creativecommons.org/licenses/by/3.0/]

Die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften hat ihren diesjährigen Salon Sophie Charlotte (s. Anm.) dem Thema "Maß und Messen" gewidmet. Dem Publikum offen, fanden in den Abendstunden des 19. Januar im Haus der Akademie am Berliner Gendarmenmarkt und im benachbarten WissenschaftsForum zeitgleich in rund zwanzig Räumlichkeiten Vorträge, Vorführungen und Mitmachveranstaltungen mit Bezug zu Maß und Messen statt.

Die Vortragsreihe im großen Leibniz-Saal der Akademie, welche deren Präsident Prof. Dr. Martin Grötschel eröffnete, deckte in leichtfüßig begehbarer Weise das Thema Messen in der Physik und das Maß in der Philosophie ab.

Prof. Dr. Klaus von Klitzing schlug in seinem ansprechenden Vortrag den Bogen vom Akademiemitglied Max Planck und dem ihm selbst verliehenen Nobelpreis für Physik hin zur Neudefinition der Grundeinheiten in der Physik, welche am 20. Mai, dem Weltmetrologietag, in Kraft tritt. Danach wird die Messung einer Masse nicht mehr auf den Vergleich mit einem in Paris deponierten Urkilogramm zurückgeführt, sondern von Naturkonstanten abgeleitet. Deren Wert ist in internationaler Absprache ein für allemal festgelegt worden. Die neue Philosophie des Messens gilt für alle sieben Grundgrößen in der Physik. Jeden aus Messungen gewonnenen Erkenntnisgewinn werden die Physiker künftig auf den Vergleich mit den gültig definierten Naturkonstanten zurückführen.

Prof. Dr. Wolfgang Ketterle ging ins Detail der Meßtechnik und zeigte anhand der Bose-Einstein-Kondensation in verdünnten Gasen, für dessen Erzeugung auch er den Nobelpreis verliehen bekommen hatte, wie sich Atomanordnungen im Quantenzustand bei Temperaturen am Nullpunkt der Skala fotografieren und ausmessen lassen. Die Aufnahmen zeigten den Schattenwurf auseinanderstiebender Atomwolken im Laserlicht, vergleichbar einem Kaffeefleck in einem Tischtuch.

Von den sehr kleinen Dimensionen ging Prof. Dr. Matthias Steinmetz aufs Ganze. Der Titel seines Vortrags lautete: "Die Vermessung des Universums". Hier schilderte das Akademiemitglied vom Leibniz-Institut für Astrophysik Potsdam, welche Schwierigkeiten sich bei der Vermessung sehr ferner Himmelskörper stellen und wie die Astronomie das Problem gelöst hat, an ihre Beobachtungen irdische Maßstäbe anzulegen.

Das Thema "Der Mensch ist das Maß aller Dinge" erhellten gemeinsam die Gräcistin und Preisträgerin des Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preises, Prof. Dr. Gyburg Uhlmann von der Freien Universität Berlin, sowie der Philosoph Prof. Dr. Volker Gerhardt, Seniorprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin. In ihren Vorträgen spielte das Messen bestenfalls eine randläufige Rolle, im Mittelpunkt stand das Maß respektive der Mensch als das Maß aller Dinge. Auf die sich aus der Vortragsreihe und dem interdisziplinären Ansatz des Salons Sophie Charlotte ergebende Frage, wie die Philosophie die Methode der physikalischen Erkenntnis in die Gesellschaft tragen könnte, ging Gerhardt im Interview mit dem Schattenblick (s. u.) anhand der Begriffe Gleichung, Vergleich und Unterscheidung ein.


Der Mensch ist das Maß aller Dinge

Referentin und Referent sitzen auf der Bühne des Leibniz-Saals - Foto: © 2019 by Schattenblick

Bühne frei für Uhlmann und Gerhardt
Foto: © 2019 by Schattenblick

Prof. Uhlmann knüpfte an den griechischen Philosophen Protagoras (5. Jhd. v. Chr.) an und zitierte die ihm zugeschriebene umstrittene Sentenz:

Der Mensch ist das Maß aller Dinge, derjenigen, der seienden, daß (oder: wie) sie sind, der nicht-seienden, daß (oder: wie) sie nicht sind.

In dieser Form erschloß sich das als solches nur im Zitat erhaltene, seit der Antike umstrittene Textfragment auch dem gebildeten Publikum im Saal wohl nicht. Erst die Rezeption von Protagoras durch Platon (5./4. Jhd. v. Chr.) im Dialog "Theätet" zur Frage, was ist Wissen, ermöglicht eine Interpretation und Adaption jenes als "Homo Mensura" bezeichneten Satzes in der Moderne. In dem Dialog spricht Sokrates mit zwei Mathematikern und deutet den Satz von Protagoras mit den Worten:

Wie ein jedes Ding mir erscheint, so beschaffen ist es auch für mich. Und wie es dir erscheint, so beschaffen ist es auch für dich.

In Platons weiterem Dialog "Protagoras" findet sich die Auslegung, daß das Maß die Grundlage für wissenschaftliches Erkennen überhaupt ist. Die Begriffe Maß und Kriterium stehen bei Platon gleichwertig nebeneinander, wobei das Maß primär etwas Qualitatives ist, das nach einem begrifflichen Kriterium fragt und damit den wissenschaftlichen Charakter von Erkenntnis überhaupt begründet, so Uhlmann. Demnach möchte Platon das Maßnehmen als etwas verstehen, was sich auf der begrifflichen Ebene in einem qualitativen Verständnis der Dinge bewegen muß, wenn man wissenschaftliche Erkenntnis begründen möchte. Dazu seien Sokrates' Auffassung zufolge die auf Rhetorik konzentrierten Sophisten nicht in der Lage. Dem antiken Philosophen genügte es zudem nicht, Wahrnehmung und Erkenntnis miteinander zu identifizieren, auch wenn, so Uhlmann, die Veränderbarkeit und damit auch die unterschiedliche Wahrnehmbarkeit bis zu einem bestimmten Punkt ihre Berechtigung hat. Nur könnte der Satz des Protagoras dann auch lauten:

Das Schwein ist das Maß aller Dinge, der seienden, daß sie sind, und der nicht-seienden, daß sie nicht sind, denn auch Schweine haben die Wahrnehmungsfähigkeit.

Mit dem begrifflichen Denken jedoch könnten wir Identisches festhalten und intersubjektiv kommunizieren, erklärte die Vortragende. Platons differenzierte Gedanken seien im Hellenismus weiterentwickelt und in den Naturwissenschaften wie der Astronomie zu einer quantitativen, logistischen Form des Messens vervollkommnet worden. Die Frage danach, was denn eigentlich das Maß sei, das wir nehmen wollten, begleite uns bis heute.


Wir müssen keine Skeptiker mehr sein

Porträt des Interviewten - Foto: © 2019 by Schattenblick

Prof. Dr. Volker Gerhardt
Foto: © 2019 by Schattenblick

Prof. Gerhardt sprach zu Beginn seines Vortrags von dem Eindruck, daß die von der Geometrie, von der Mathematik und überhaupt von einer logischen Erkenntnis herkommenden Argumente von Sokrates so scharf sind, daß von Protagoras nichts übrigbleibt als eine bestimmte Form der Rhetorik. Mit der Absicht aufzuzeigen, wie heute die Skepsis überwunden werden kann, gab der Vortragende einen weiteren, Protagoras zugeschriebenen Satz wieder:

Was die Götter angeht, so ist es mir unmöglich zu wissen, ob sie existieren oder nicht, noch, was ihre Gestalt sei. Die Kräfte, die mich hindern, es zu wissen, sind zahlreich. Auch die Frage ist verworren, und das menschliche Leben ist kurz.

Damit erweist sich Protagoras als der erste Agnostiker in dem Sinne wie Agnostiker seit dem 18. Jahrhundert verstanden wurden. Des weiteren sprach sich Gerhardt für einen heute möglichen, anderen Umgang mit dem Skeptizismus und der Frage aus, inwieweit wir überhaupt wissen können, ob unsere Erkenntnis die Welt betrifft. Ausgehend von der Sinnlichkeit, auf die die Menschen angewiesen sind, also Sehen, Hören, Schmecken usw., verwies Gerhardt auf eine starke Strömung in der heutigen Philosophie, wonach insbesondere in "Raum" und "Zeit" allgemeine, für alle Menschen gleiche Bedingungen der Anschauungen gegeben sind. Wenn wir begriffliche Elemente brauchen, sitzen diese im Verstand des Menschen. Es wäre möglicherweise die endgültige Widerlegung des Homo-Mensura-Satzes, wenn wir wissen könnten, daß dieser Verstand nicht nur bei allen Menschen verbreitet ist, sondern daß er in irgendeiner Weise selbst schon wiederum aus der Natur, aus der Welt, die wir erkennen, entwickelt worden wäre. Wir müssen in dem, womit wir messen, verstehen und begreifen und Mathematik betreiben, in irgendeiner Weise eine Verbindung herstellen zu der Natur, zu der wir insgesamt gehören, betonte Gerhardt. Was der Mensch hier entwickele, sei niemals nur einfach auf das begründet, was ihm eigentümlich sei, sondern es gehe aus dem hervor, woraus er erstanden sei, aus materiellen Bedingungen, aus dem, was in der Evolution des Lebens sich allmählich auch als seine Erkenntnis entwickelt habe.

Kulturgeschichte des Menschen sei eigentlich nichts anderes als eine bestimmte Form der Naturgeschichte. Was wir im Erkennen verstehen, messen und maßnehmen, ist selbst schon wieder ein Ergebnis einer Entwicklung, an der der Mensch natürlich beteiligt gewesen war und immer noch beteiligt ist, aber die nicht aus seinen eigenen Entschlüssen und Einsichten kommt, sondern die er übernimmt, so wie wir alle sprechen lernen, führte Gerhardt aus. Keiner hat die Sprache, die er spricht, selbst erfunden. Wir könnten uns auch gar nicht verständigen, sondern wir sind gebunden an etwas, was uns ursprünglich verbindet.

Wie uns die Sprache in einem einheitlichen Verstehen verbindet, sind wir in den Formen unserer kulturellen Entwicklung selbst schon mit anderen Wesen verbunden, die nicht menschlich sind, die vielleicht dem Menschen vorhergehen oder aber die ihm sehr nahe stehen und mit denen er in einer verständigen Weise umgeht. Wir gebrauchen Begriffe, um uns in ihnen mit Unseresgleichen zu verständigen. Auf diese Weise sind wir ursprünglich miteinander verbunden, so daß sich denken läßt, daß wir auch mit der Natur und mit der Welt verbunden sind und dann keine Skeptiker mehr sein müssen.

Zum Abschluß erinnerte Gerhardt an den Mythos des Protagoras über den Titanen Prometeus, der von dem olympischen Gott Hephaistos das Feuer nahm und den Menschen brachte, deren Nacktheit und Wehrlosigkeit er sich erbarmte. Dieses Feuer, wovon wir in unserer Kultur und Technik leben, gefährdete den Olymp. Deshalb bestrafte Zeus den Prometeus und machte den Menschen das Geschenk des Rechts und der Scham. Gerhardt schloß seinen Vortrag mit dem ganz großen Gedanken, wenn er denn von Protagoras stamme, daß wir nur dann die bleiben können, als die wir uns mit Hilfe der Technik aus eigener Kraft entwickelt haben, wenn wir die Scham und das Recht nicht vergessen. In dem Recht jedenfalls liege auch ein Maß, an das wir uns halten könnten.

In der anschließende Diskussion kam aus dem Auditorium der Hinweis auf den Römerbrief des Paulus, wonach der Mensch aus den Werken Gottes, die vor aller Augen lägen, die Existenz Gottes erkennen könnte. Die Rede von Gott gehöre unbedingt zur Naturwissenschaft der Natur dazu, und das sei das Gegenteil dessen, was der Skeptizismus sage.

Daraufhin sprach Gerhardt von der Unterscheidung zwischen Glauben und Wissen als große Errungenschaft des Christentums, welche wirklich eine Weisheit ersten Ranges sei.


Interview mit Prof. Dr. Gerhardt

Volker Gerhardt studierte Philosophie, Soziologie, Psychologie und Rechtswissenschaft. Als Wissenschaftler untersucht er Fragen der Ethik, der Politischen Philosophie, der Ästhetik, der Metaphysik und der Theologie. Unter anderem in seinem 2016 bei Reclam erschienenen Buch "Glaube und Wissen - Ein notwendiger Zusammenhang" hat er sich mit der These beschäftigt, daß der Glaube wie das Wissen auch eine intellektuelle Beziehung des Menschen zur Welt ist. Glaube kommt demnach nicht ohne Wissen aus und Wissen nicht ohne Glauben.

Uhlmann und Gerhardt waren nicht versucht die Assoziation von Maß und Messen bzw. Erkenntnisvermögen des Menschen und apparativ vermittelter Messung in einen Begründungszusammenhang zu stellen. Der Frage, ob sich Gemeinsames finden ließe und wo es anzusiedeln wäre, hat sich der Schattenblick im Gespräch mit Prof. Gerhardt annähern wollen. Der Philosoph war im Anschluß an seinen Vortrag bereit, dazu einige sicherlich sophistische Fragen aus dem Zwischenkontext von Physik und Philosophie zu beantworten.

Schattenblick (SB): Bei der Verbindung zwischen Ihrem philosophischen Vortrag und den vorhergehenden Vorträgen zur Physik stellen sich uns noch Fragen. Wenn man beispielsweise einen mathematischen Beweis durchführt, dann endet dieser mit einer Gleichung - da steht dann null gleich null. Dann ist der Beweis erbracht. Überträgt man jedoch das Prinzip der Gleichung auf die Physik, dann wäre eine solche Nullgleichung aussagelos. Liegt das daran, daß die physikalische Formel immer die Einheiten mittransportiert, daß dabei keine Nullaussage herauskommt?

Prof. Dr. Volker Gerhardt (VG): Die Null steht ja nur symbolisch für etwas. Da kann auch eine Zahl stehen. Das kann auch ein Gehalt sein. Und wenn wir das unterstellen, dann muß eben - wenn es wirklich einer Gleichung entsprechen soll - auf beiden Seiten das gleiche stehen. Deswegen können Sie meiner Meinung nach dieses Beispiel mit der Null im Vergleich mit der Physik nicht bringen, weil sich die Physik mit etwas beschäftigt. Das ist ja nicht die Physik des Nichts, sondern die Physik der Natur oder des Etwas. Insofern hat sie Gehalte vor und hinter dem Gleichheitszeichen.

SB: Wäre die Physik in diesem Sinne dann nicht-mathematisch?

VG: Das Gleichheitszeichen ist mathematisch, also ist die Physik elementar mathematisch. Das steckt in dieser Gleichung. Wir können normalerweise im Leben nicht sagen: Dieser Bissen ist ein ganz anderer als der, den ich gerade zu mir genommen habe. Ich sage zu beiden "Bissen" und es befriedigt auch beides meinen Hunger, aber im strikten Sinn kann man das nicht in eine Gleichung bringen.

SB: Wir können in der Physik sehr viel messen, aber alle Einheiten gehen auf die Grundeinheiten zurück - Meter, Kilogramm, Sekunde ...

VG: Ja, das haben wir schön gehört im ersten Vortrag.

SB: Bedeutet das, daß alle Messungen auf diese Grundgrößen zurückgehen, oder kann man etwas anderes messen, was nicht auf diese Weise definiert ist?

VG: Ich finde, wir messen permanent. Wir messen, wie schnell wir diesmal im Straßenverkehr durchgekommen sind, wie häufig die Ampeln rot waren, und so weiter. Das Messen liegt also nicht fest. Das hängt jetzt von den Standards der Wissenschaft ab, auch von der Konkretion. Wenn es darum geht, daß man die elementaren Größen in Form von sogenannten Naturkonstanten annimmt, dann hat man natürlich sein Thema vorgegeben. Aber ansonsten kann sich die Physik, wie wir gerade aus der Geschichte kennen, mit sehr vielem beschäftigen.

SB: Wenn wir das jetzt auf die Physik beschränken, können Sie sagen, ob die Physiker Masse, Raum und Zeit direkt messen können, oder müssen sie immer Umwege gehen?

VG: Das ist eine sehr schwierige Frage. Darauf könnte ich jetzt antworten, es sei alles indirekt über unsere Empfindungen und unsere Wahrnehmungen vermittelt. Wenn wir nicht empfinden, was Masse für uns physisch bedeutet, beispielsweise daß sie zu groß sein kann, daß sie uns überrollen kann, daß sie uns aber auch gar nicht auffällt, dann ist das immer etwas, was wir nicht messen. Aber sobald wir an den Vorgang des Messens gehen und definieren, daß dies jetzt Masse ist, dann messen wir das so, wie wir es unter menschlichen Bedingungen verstehen können, die Masse, die Geschwindigkeit oder was auch immer - oder auch die Zeit - direkt. Aber es bleibt diese Differenz. Bei der Zeit können wir das sehr gut sehen. Sie kann unendlich lang erscheinen, und sie ist doch ganz schnell vergangen oder umgekehrt. Das hängt davon ab, was Sie mit direkt und indirekt meinen.

SB: Glauben Sie nicht, daß die Physik eine Alternative zu dieser Erkenntnisproblematik - das Maß des Menschen -, die Sie und Frau Uhlmann vorhin angesprochen haben, bietet?

VG: Nein, ich wüßte nicht warum.

SB: Es wurde heute angesprochen, daß die Naturkonstanten überall im Universum und sogar für Aliens, also für Nicht-Menschen, gelten sollen.

VG: Das war ja nur eine sehr vorsichtige Vermutung von Herrn von Klitzing gewesen, als er das sagte. Wir müssen jetzt davon ausgehen, daß die Naturkonstanten bisher nur für den Menschen bedeutend sind. Insofern war er dem Protagoras sehr nahe und hat dann aber gesagt, wir hoffen natürlich, daß sie auch anderen etwas bedeuten. Früher hätte man gesagt, daß sie auch Gott etwas bedeuten. Man kann auch sagen, daß sie meiner Katze oder meinem Hund etwas bedeuten. Interessanterweise hat er die Aliens genannt. Das fand ich sehr aufschlußreich. Aber wir sind keine Aliens, obwohl wir uns manchmal fremd vorkommen. Insofern geht das uns etwas an.

SB: In der Meßtechnik gibt es den Vergleich mit einem Eichmaß. Kann man Erkenntnis aus dem Vergleich gewinnen? Aus dem bloßen Vergleich mit etwas Vorgegebenem oder Bekanntem?

VG: Warum denn nicht? Ich könnte sogar sagen, alles ist Vergleich von diesem mit jenem. Deswegen käme es mir völlig absurd vor anzunehmen, daß der Vergleich möglicherweise als Erkenntnisquelle ausscheidet.

SB: Ist es dann kein Problem, etwas Neues aus Bekanntem ableiten zu wollen, indem man es einfach gegeneinanderstellt und vergleicht?

VG: Wenn Sie erkennen wollen, daß etwas neu ist, dann müssen Sie das Alte irgendwie im Hinterkopf haben.

SB: Zumindest in der Negation ... Wenn die Naturkonstanten für Nicht-Menschen gelten sollen, haben dann auch Tiere Maßstäbe? Wenn man an die phantastischen Architekturen der Termiten oder auch die Wabenform der Bienenstöcke denkt - was sagt die Philosophie dazu? Haben Tiere Maßstäbe so wie Menschen, oder wie kriegen sie das hin?

VG: Das weiß ich nicht, aber sie kriegen es hin. Also haben sie auch was.

SB: Ist ihnen "das Göttliche" eingegeben oder was liegt dem zugrunde?

VG: Das Göttliche würde ich jetzt mal herauslassen. Aber wir müssen davon ausgehen, daß die Tiere über sehr viele Fähigkeiten verfügen, von denen wir bisher keine Ahnung haben und die wir uns nur selber zugeschrieben hatten. Aber die Tiere müssen nicht darüber reden, jedenfalls nicht in der Sprache, die wir verstehen. Das ist der Unterschied. Sie sind nicht in der gleichen Weise auf die Kommunikation angewiesen, die wir brauchen, um überhaupt von Wissen zu sprechen.

SB: Wenn man an die Darstellung der römischen Göttin Justitia denkt, die eine Balkenwaage in der Hand hält - ist das Messen und Wägen dann ein, um es unverblümt zu sagen, Herrschaftsinstrument? Und wäre dann der Besitz der Maßstäbe Ausdruck der Verfügungsgewalt eines Königs oder anderen Herrschers?

VG: Was glauben Sie, was ich darauf antworte? Das kann natürlich so eingesetzt werden. Aber wenn wir das ablehnen, Herrschaft kritisieren, dann müssen wir doch ebenfalls ein Maß dafür haben. Warum bist du groß? Warum bist du stark? Warum bist du grausam? Also, das würde ich für eine fragwürdige Ideologisierung halten.

SB: Herr Gerhardt, vielen Dank für das Gespräch.


Statue der Justitia mit Augenbinde, Richtschwert und schrägstehender Balkenwaage - Foto: gemeinfrei, Wikimedia Commons user TheBernFiles

Justitia auf dem Gerechtigkeitsbrunnen in Bern, zu ihren Füßen Papst, Kaiser, Sultan und Schultheiß
Foto: gemeinfrei, Wikimedia Commons user TheBernFiles

Anmerkung:

Sophie Charlotte Herzogin von Braunschweig und Lüneburg, die spätere erste Königin Preußens, motivierte zusammen mit dem befreundeten Universalgelehrten und politischen Berater Gottfried Wilhelm Leibniz ihren Gatten, den brandenburgischen Kurfürsten Friedrich III., im Sommer 1700 die Kurfürstlich-Brandenburgische Societät der Wissenschaften zu gründen. Erster Präsident der Akademie, an der Natur- und Geisteswissenschaften gleichermaßen gepflegt wurden, war Leibniz selbst. Der Hohenzoller Friedrich III. krönte sich Anfang 1701 zum ersten König Preußens und nannte sich fortan Friedrich I., und die Societät der Wissenschaften wurde in Königlich-Preußische Akademie der Wissenschaften umgewidmet. Nach einem Interregnum als Akademie der Wissenschaften der DDR ging daraus 1991 die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW) hervor. Diese organisiert seit 2006 alljährlich den Salon Sophie Charlotte. Die Königsinsignien von Friedrich I. werden heute im Berliner Stadtschloß Charlottenburg aufbewahrt, dessen Bau als Sommerresidenz Schloß Lützenburg in Lietzow südlich der Spree Sophie Charlotte 1695 in Auftrag gegeben hatte. Auf Gut Lietzow hatte Sophie Charlotte freigeistige Salons unterhalten. Der Sohn von Friedrich I. und Sophie Charlotte ging als Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. in die Geschichte Preußens ein.


Bisher im Schattenblick zu der Veranstaltung "Maß und Messen" in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften erschienen:

BERICHT/045: Maßgeblich - Wechsel und Wandel ... (SB)
BERICHT/046: Maßgeblich - Entsprechungen, Wellen, Tiefengrade ...(SB)
INTERVIEW/038: Maßgeblich - Handelsgenauigkeit ... Prof. Dr. Klaus von Klitzing im Gespräch (SB)
INTERVIEW/039: Maßgeblich - Überlagerungsphänomene ... Prof. Dr. Wolfgang Ketterle im Gespräch (SB)
INTERVIEW/040: Maßgeblich - Gültigkeit und Akzeptanz ... Prof. Dr. Volker Gerhardt im Gespräch (SB)


28. Januar 2019


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