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INTERVIEW/009: "Die Untoten" - Dorothee Wenner, Journalistin und Filmemacherin (SB)


Interview am 14. Mai 2011 in Hamburg

Dorothee Wenner - Foto: © 2011 by Schattenblick

Dorothee Wenner
Foto: © 2011 by Schattenblick
Auf dem Kongreß "Die Untoten" stellte Dorothee Wenner gemeinsam mit dem Künstler, Journalisten und Filmkritiker Husseini Shaibu in zwei Veranstaltungen und einem Workshop wesentliche Aspekte des zeitgenössischen nigerianischen Films vor. In Europa kaum wahrgenommen, ist "Nollywood" außerordentlich produktiv und seine Erzeugnisse erfreuen sich in zahlreichen Ländern Afrikas großer Popularität. Die in Berlin lebende Dorothee Wenner studierte Germanistik und Geschichte in Hamburg und ist als freischaffende Journalistin, Autorin und Filmemacherin tätig. Seit 1990 ist sie Mitglied im Auswahlkomitee des Internationalen Forums des Jungen Films/Berlinale und beobachtet als Berlinale-"Botschafterin" das indische und afrikanische Kino. Sie ist Jurymitglied der African Movie Academy (AMAA) in Lagos. Dorothee Wenner war so freundlich, in den letzten Minuten vor ihrer Rückreise nach Berlin zu einigen Fragen des Schattenblicks Stellung zu nehmen.

Schattenblick: Wir haben im Workshop Szenen aus nigerianischen Filmen gesehen, die sehr lebendig und berührend waren. Was ist aus Ihrer Sicht das Besondere am nigerianischen Film?

Dorothee Wenner: Das ist schwer in eine einzige Kategorie zu fassen. Der nigerianische Film lebt meines Erachtens davon, daß er jedesmal etwas Neues über ein Land eröffnet, das in seiner Art ganz besonders ist. Auch innerhalb des afrikanischen Kontinents hat Nigeria eine Sonderstellung, und diese Filme eröffnen mir - wenn ich jetzt einmal nur für mich spreche - jedesmal einen neuen Blick in diese Gesellschaft. Das geschieht manchmal sogar unabhängig davon, ob mir der jeweilige Film besonders gut gefällt oder nicht. Manchmal sitze ich offengestanden auch ein bißchen durch, weil die Filme teilweise etwas langatmig erzählt sind oder mich nicht sonderlich berühren, aber dann kommt trotzdem irgendwann eine Szene oder ein Moment, in dem mir die Augen geöffnet werden. Das ist eine ganz persönliche Antwort aus meiner Sicht.

Ich schaue mir relativ viele dieser Filme an und sehe in der Vielseitigkeit der Möglichkeiten, auf Ihre Frage zu antworten, im Grunde das, was das gesamte Phänomen "Nollywood" so interessant macht. Genausogut wie man über Geister spricht, kann man über die Situation der Frau sprechen, über Modernität, über Wohnungseinrichtungen, also sowohl über große, sehr komplexe Themen, als auch beispielsweise über Mode. Wenn man sich anschaut, was die Schauspielerinnen und Schauspieler in einem Film wie "Living in Bondage" tragen - ein Film, der fast 20 Jahre alt ist -, findet man deutliche Unterschiede verglichen mit der Kleidung, die heute auf den Markt kommt. Man bemerkt also, wie historisch das schon ist, was man aus heutiger Sicht in Filmen aus dieser Zeit vorfindet. Das ist bei uns durchaus ähnlich, denn wenn man sich hier einen Film aus den achtziger oder frühen neunziger Jahren ansieht, wird man sich einer historischen Distanz bewußt, durch die sich interessante neue Einblicke in unsere Gesellschaft ergeben.

In Nigeria ist es ähnlich und besonders reichhaltig, weil es im Unterschied zu zahlreichen anderen afrikanischen Ländern so viele Filme gibt. Aus Mali kommt nur alle paar Jahre mal ein Film - es gibt diese Bilderlosigkeit in Afrika - die auch für uns in den westlichen Gesellschaften wie der deutschen ein großes Problem darstellt. Für die Afrikaner ist dies besonders gravierend, weil wir im Zeitalter der Globalisierung leben und ein Land oder eine Kultur, die gezwungenermaßen in einer solchen Bilderlosigkeit verharrt, in vielen Bereichen einfach nicht existiert. Beispielsweise wird mit Blick auf Länder wie Gambia oder selbst die Elfenbeinküste, wo ungeheuer viel passiert und sich regelrechte Dramen abspielen, das Geschehen hierzulande weitgehend ignoriert. Wir fragen "wo ist denn das überhaupt?" oder sagen "damit haben wir doch nichts zu tun", womit Afrika ausgeblendet wird, was eben nicht zuletzt damit zu tun hat, daß es so wenig Bilder gibt.

Neulich hat jemand hinsichtlich dieses Phänomens auf einer Konferenz Zahlen wiedergegeben, die nicht ganz akkurat sein mögen, aber doch annäherungsweise richtig sind. Demnach gibt es in Washington ungefähr 250 fest beheimatete deutsche Journalisten, die regelmäßig über alles berichten, was von dort kommt. Auf dem gesamten afrikanischen Kontinent sind es hingegen nur fünfzehn. Wenn man allein diese Zahl hört, wundert man sich nicht darüber, daß so wenig über afrikanische Länder im Fernsehen berichtet wird, in der Zeitung steht oder fiktional umgesetzt wird. Dadurch läßt das Interesse nach, und so entsteht ein Teufelskreis: Je weniger ich weiß, um so weniger interessiere ich mich dafür. Dann sagen wiederum die Redakteure und anderen Verantwortlichen, die entscheiden, ob ein afrikanisches Thema gesendet oder in die Zeitung gehievt wird, es interessiert sich ja doch niemand dafür. Das ist so, als würde über diese Bilderlosigkeit in Anführungszeichen das Land einfach abgedrängt, weggedrängt werden.

SB: Die Vereinigten Staaten haben ihr Afrikakommando eingerichtet, und die Europäer führen ebenfalls Kriege in Afrika. Könnte man vielleicht auf einer kulturellen oder filmischen Ebene ein Gegengewicht schaffen, damit Afrika nicht nur ein ausgeplünderter Kontinent bleibt?

DW: Ja natürlich. Das ist ja eines der Hauptmotive, warum die Nigerianer ihre eigenen Filme gemacht haben, weil sie es einfach satt hatten, so auf ein Land festgelegt zu werden, das von Europa ausgegrenzt und drangsaliert wird. Und zwar nicht erst seit zwei oder drei Jahren, das hat ja eine ewig lange Geschichte, in der Menschen mit schwarzer Hautfarbe, die aus Afrika kommen, wie Untermenschen behandelt und ganz konkret so beschrieben wurden. Das ist eine Geschichte, die zu den dunkelsten Kapiteln Europas gehört. Die Zahl derer, die dafür ihr Leben lassen mußten, ist ja weitaus größer als jene, die in der gängigen Geschichtswahrnehmung präsent ist. Die Zahl der Menschen, die deswegen umgebracht wurden, läßt sich kaum ermitteln und war mit Sicherheit wesentlich höher als die Zahl der Opfer in den Jahren des Nationalsozialismus. Ich möchte in diesem Zusammenhang auf gar keinen Fall den Eindruck erwecken, daß es mir um den Vergleich und eine damit verbundene Relativierung geht. Für wesentlich halte ich mit Blick auf Afrika jedoch das Ausmaß der Verdrängung. Es läßt sich alles komplett ausblenden, weil es keine Zeugnisse gibt und weil man das Recht, diese Geschichte zu erzählen, das sich die Nigerianer jetzt durch "Nollywood" wiedererobert haben, so lange ignorieren konnte.

SB: Sie hatten auch über eine einflußreiche evangelikale Bewegung in Nigeria berichtet. Findet da ein Kampf um die Medienhohheit oder die Kulturhoheit statt?

DW: Natürlich. Wobei ich weniger von Hoheit, als vielmehr von einem Kampf, sich am Markt zu behaupten, sprechen würde. Es ist ja nicht so, daß jemand einen Film verkauft und deswegen ein anderer seinen nicht verkaufen kann. Im Filmbereich ist es interessant zu sehen, daß sich ein Film außerordentlich gut verkauft, worauf sich der andere um so besser vermarkten läßt. So groß ist der Unterschied zu anderen Produkten auch gar nicht. Beispielsweise kaufen sich modebewußte Leute ja auch nicht nur ein T-Shirt und tragen es solange, bis es kaputt ist. Wenn sie eines gekauft haben und auf einmal merken, welchen Effekt es hat, wenn man mit den Gesetzen der Mode geht, tendieren sie eher dazu, sich dann auch noch zwei oder drei oder fünf weitere solche T-Shirts zu kaufen. Ähnlich muß man das hinsichtlich des Films sehen. In der Filmbranche geht es nicht darum, daß einer allein etwas zu sagen hat oder die Richtung für alle vorgibt. Vielmehr herrscht zwar eine scharfe Konkurrenz um Verkaufszahlen und Marktsegmente, die jedoch nicht zwangsläufig dazu führt, daß der eine den andern verdrängt. Eher schon wirkt sich ein erfolgreicher Film positiv auf die Verkaufszahlen des nächsten erfolgreichen Films aus.

SB: Sie versuchen ja, den nigerianischen Film auch aus deutscher Sicht zu fördern. Auf welche Probleme stoßen Sie dabei?

DW: Ich würde es nicht so formulieren, daß ich den nigerianischen Film fördere. Ich interessiere mich sehr für ihn und freue mich, daß ich viele Partner und Freundinnen und Freunde in Nigeria gefunden habe, die mein Interesse wertschätzen. Das halte ich für etwas ganz Besonderes. Umgekehrt halten wir es ja keineswegs für bemerkenswert, wenn sich Afrikaner für unsere Filme interessieren. Die Ausgangssituation ist also eine ganz andere und sehr vielsagend. Kompliziert in Nigeria finde ich, daß die dortige Filmindustrie schon sehr viel weiter sein könnte, als sie es gegenwärtig ist, und derzeit Probleme hat, sich fortzuentwickeln. Das ist weniger meine persönliche Einschätzung als vielmehr eine Auffassung, die die meisten Leute in Nigeria teilen. Es fehlt an effektiven Strukturen und an einer angemessenen staatlichen Förderung, zudem gibt es wenig Einheit unter den Filmemachern. Das sehe ich als großes Problem, mit dem man in Nigeria konfrontiert wird, wo viel Neid zwischen den Filmemachern herrscht. Es geht dabei nicht unbedingt um Vorherrschaft, aber um Popularität und die Frage, wer der Berühmteste im ganzen Land sei. Diese Ausgangslage führt dazu, daß es oftmals sehr schwierig ist, in Nigeria etwas auf die Beine zu stellen. Man sucht nach einem Ansprechpartner und wenn man ihn gefunden zu haben glaubt, fühlt sich sofort die andere Seite vernachlässigt, weil jeder behauptet, er wäre die richtige Anlaufstelle für dies und jenes. Versucht man weiterzudenken, welchen Weg Nigeria nehmen wird, funktioniert das sicher nicht national abgeschlossen, sondern braucht eine gewisse Internationalität.

Man stößt dabei auf ganz profane Probleme. Beispielsweise ist es wahnsinnig schwer, überhaupt ein Visum für Nigeria zu bekommen, sei es als Tourist und erst recht als Filmemacher. Wenn man das alles juristisch korrekt machen will und versucht, eine Drehgenehmigung in Nigeria zu bekommen, ist das fast schwieriger als in jedem anderen Land. Es ist beinahe unmöglich, sich so zu verhalten, daß man ins Land gelassen wird. Der eine ist nicht zuständig, der Zuständige gerade nicht da und überdies muß man noch alle möglichen zusätzlichen Vorleistungen erfüllen. Im Grunde kann es sich keine Filmproduktionsfirma leisten, die nötigen Grundvoraussetzungen zu schaffen, um mit Equipment nach Nigeria einzureisen und einigermaßen sicher sein zu können, daß es weder geklaut wird, noch am Ende bei der Ausreise am Flughafen irgendwie verschwindet. Dabei handelt es sich keineswegs um Probleme, die man nur als westlicher Filmemacher hat. Es gibt auch im Ausland lebende nigerianische Filmemacher, die es nicht schaffen, nach Nigeria zurückzukehren, um da Filme zu machen, selbst wenn sie schon über eine Förderung verfügen. Es liegt also nicht nur an der finanziellen Situation, sondern insbesondere an den sehr unübersichtlichen Strukturen.

SB: Frau Wenner, vielen Dank für das Gespräch.


Zu "Die Untoten" bisher erschienen:

BERICHT/003: "Die Untoten" - Pressegespräch zu Kongress & Inszenierung vom 12.-14.5.2011 auf Kampnagel (SB)
BERICHT/004: "Die Untoten" - Im Stahlbad der transhumanistischen Optimierungsdoktrin (SB)
BERICHT/005: "Die Untoten" - Wachkoma, ein Widerspruch in sich (SB)
BERICHT/006: "Die Untoten" - Roboter - reprojektiver Entwurf menschlichen Scheiterns (SB)
BERICHT/007: "Die Untoten" - Wachkoma - ein Film erzählt (SB)
BERICHT/008: "Die Untoten" - Altern eine Krankheit? (SB)
BERICHT/009: "Die Untoten" - Mark Ravenhill ... im Limbus medizinischer Unwägbarkeit (SB)
BERICHT/010: "Die Untoten" - Systemvollendet - Schlachtvieh Mensch (SB)
BERICHT/011: "Die Untoten" - Verrechtlichung der Sterbehilfe Einfallstor für genozidale Lösungen? (SB)
BERICHT/012: "Die Untoten" - Palliativmedizin zwischen Patientenautonomie und Sterbehilfe (SB)
BERICHT/013: "Die Untoten" - Hirntodlüge aus Pflegesicht (SB)
BERICHT/014: "Die Untoten" - Her- und Hinkünfte des deregulierten Todes (SB)
BERICHT/015: "Die Untoten" - Vorgriff auf den eigenen Tod in künstlerischer Inszenierung (SB)
BERICHT/016: "Die Untoten" - Sandy Stone ... aus einem bewegten Leben (SB)
BERICHT/017: "Die Untoten" - Das zweite Gesicht des Schönheitskultes (SB)
BERICHT/018: "Die Untoten" - Kapitalgespenster - Zur Ästhetik fehlender Theorie (SB)
BERICHT/019: "Die Untoten" - Auf der Suche nach dem Sitz des Bösen (SB)
BERICHT/020: "Die Untoten" - Verschleißwelten unvollständiger Autonomie (SB)
BERICHT/021: "Die Untoten" - Menschliches Gemüse - Organspender philosophisch totgesagt (SB)
BERICHT/022: "Die Untoten" - "Nollywood" - Nigerias populärkulturelle Filmproduktion (SB)
INTERVIEW/001: "Die Untoten" - Matthias Zerler kämpft für Wachkoma-Patienten (SB)
INTERVIEW/002: "Die Untoten" - Petra Gehring, Philosophin (SB)
INTERVIEW/003: "Die Untoten" - Thomas Macho, Kulturwissenschaftler (SB)
INTERVIEW/004: "Die Untoten" - Roberto Rotondo, Diplom-Psychologe und ehemaliger Krankenpfleger (SB)
INTERVIEW/005: "Die Untoten" - Sander L. Gilman zu Fragen der kosmetischen Chirurgie (SB)
INTERVIEW/006: "Die Untoten" - Georg Fülberth, Politikwissenschaftler (SB)
INTERVIEW/007: "Die Untoten" - Sandy Stone, Performancekünstlerin und Wissenschaftlerin (SB)
INTERVIEW/008: "Die Untoten" - Hans Werner Ingensiep, Philosoph und Biologe (SB)
INTERVIEW/009: "Die Untoten" - Dorothee Wenner, Journalistin und Filmemacherin

14. Juni 2011