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BERICHT/019: "Die Untoten" - Auf der Suche nach dem Sitz des Bösen (SB)


Soziale Widersprüche im Abglanz neuropathologischer Deutungsmacht

Filmset 'Ulrike's Brain' - Foto: © 2011 by Schattenblick

Filmset "Ulrike's Brain"
Foto: © 2011 by Schattenblick

Praktisch als permanentes Begleitprogramm, das mitunter lautstark und mit heftig gestikulierenden Darstellern aus dem in einer abgeteilten Halle aufgebauten Filmset in die umliegenden Räume des Veranstaltungszentrums Kampnagel ausbrach, fanden während des Kongresses "Die Untoten" Dreharbeitenproben des kanadischen Filmemachers Bruce LaBruce statt. Der praktischen Konzeption seines jüngsten Projekts "Ulrike's Brain" konnten die Besucher des Kongresses so zwanglos beiwohnen, das die Grenzen zwischen Filmhandlung und Publikum nicht immer genau auszumachen waren. Grundlage des Films ist eine historische Begebenheit, die die biomedizinische Thematik des Kongresses auf drastische Weise illustriert.

Die Entwendung des Gehirns von Ulrike Meinhof durch den Tübinger Neuropathologen und Gerichtsmediziner Jürgen Pfeiffer, der die in Stuttgart-Stammheim unter ungeklärten Umständen gestorbene Gefangene 1976 obduziert hatte, um das Organ schließlich 1997 dem Magdeburger Hirnforscher Bernhard Bogerts zu übergeben, wurde erst im Jahr 2002 publik. Die an dem präparierten Organ forschenden Mediziner wurden auf gerichtliche Anordnung zur Herausgabe des Gehirns gezwungen, so daß es schließlich 26 Jahre nach der Bestattung der körperlichen Hülle Meinhofs in Berlin in ihrem Grab zur letzten Ruhe gebettet werden konnte. Pfeiffer und Bogerts hatten in ihrem wissenschaftlichen Ehrgeiz eine rechtliche Grauzone der Gerichtsmedizin dazu benutzt, dem Phänomen RAF auf ihre Weise auf die Spur zu kommen. Ihr Fazit, eine Hirnschädigung der 1962 wegen eines gutartigen Tumors operierten Meinhof sei der ganze Grund für ihren Wandel von einer Dame der gehobenen Hamburger Gesellschaft und erfolgreichen Journalistin zur Revolutionärin, die alle Brücken hinter sich abbrach, blieb indessen so unwidersprochen, wie ihr Vorgehen als zumindest fragwürdig kritisiert wurde.

Herausgekommen war die Angelegenheit aufgrund der Idee Bogerts', Gehirnschnitte Meinhofs mit denen des Massenmörders Ernst August Wagner zu vergleichen, um aufgrund vermeintlicher organischer Gemeinsamkeiten von dessen Wahn auf eine Geisteskrankheit der führenden Theoretikerin der RAF zu schließen. Morphologische und funktionelle Befunde mit den Verhaltensweisen ihrer Untersuchungsobjekte in empirische Schlußfolgerungen münden zu lassen scheint der Weisheit tiefster Schluß einer Wissenschaft zu sein, die nicht davor zurückschreckt, zentrale gesellschaftliche Konflikte einer im Ziel ihrer Untersuchung bereits vorweggenommenen Kausalität zu unterwerfen. Die Lesart, daß Meinhofs Radikalisierung Ergebnis einer Geisteskrankheit war, brach sich 2002 denn auch auf eine Weise Bahn, die ihren in zahlreichen eigenen Texten dokumentierten Werdegang praktisch ungeschehen machte. Auch war der in den populären Medien ohnehin nie geführte antipsychiatrische Diskurs, der die Normierung des menschlichen Geistes nach Maßgabe eines gesellschaftlich bestimmten Gesundheitsbegriffes als Herrschaftsinstrument ersten Ranges analysiert, weitgehend der Dämonisierung aller emanzipatorischen Bestrebungen anheim gefallen, die sich nicht unter dem Etikett einer angeblichen Verharmlosung terroristischer Gewalt kriminalisieren lassen wollten.

Szenenbild mit Organcontainer - Foto: © 2011 by Schattenblick

Historisches Exponat in morbider Dramaturgie
Foto: © 2011 by Schattenblick

Zwar wurde die von Bogerts aufgestellte Behauptung, eine mit dem Massenmörder Wagner vergleichbare Schädigung der Hirnstruktur Meinhofs, die er auf einen Operationsdefekt direkt neben dem emotional besonders relevanten limbischem System zurückführte, habe zur "Terrorkarriere" führen müssen, nicht dadurch überzeugender, daß die Frage, was mit all jenen Menschen war, die eine entsprechende Schädigung aufwiesen und nicht als Massenmörder oder Revolutionäre endeten, unbeantwortet blieb. Auch taugen die von Meinhof zwischen Juni 1972 und Februar 1973 als Gefangene im Toten Trakt der JVA Köln-Ossendorf verfaßten Texte nicht als Beleg dafür, daß ihre dort beschriebenen Kopfschmerzen allein neuropathologischen Ursprungs waren und nicht etwa durch die menschenfeindlichen Bedingungen der Isolationshaft erzeugt wurden. Das damals eingesetzte Mittel der sensorischen Deprivation, bei dem mit Hilfe von Isolation und Reizentzug systematisch versucht wird, den Widerstandswillen der Gefangenen zu brechen, verortete Ulrike Meinhof auf ihre Weise in einem Kampf von weltweiter Bedeutung:

"Jetzt, wo mal bestimmt worden ist, was sensorische Deprivation überhaupt ist - nämlich der Entzug von Gesellschaftlichem, von dem Stoff, welcher erst (in welcher historischen Form auch immer) die gens 'Mensch' entstehen und entwickeln läßt - ohne daß etwas Neues an seine Stelle tritt - wird klar, daß bei sensorischer Deprivation von derselben Sache die Rede ist, was mit den Völkern der Dritten Welt bei ihrer Kolonisierung gelaufen ist. (...) Wenn Kolonisierung eine Eroberung war, bei der die vorhandenen gesellschaftlichen (ökonomischen, politischen, kulturellen) und Kommunikationsstrukturen vernichtet, d.h. den Eingeborenen entzogen wurden, sie stattdessen einem Herrschaftssystem unterworfen worden sind, -Kolonialregime/Imperialismus, an dem sie nicht teilnehmen, in dem sie nur als Ding, als Sache vorkommen, - dann ist das kolonisierte Individuum ein depriviertes Individuum, und der Deprivationsprozeß in der Isolation dasselbe, was Milliarden bei ihrer Kolonisierung erlitten, durchgemacht haben - woran unendlich viele ja auch zugrunde gegangen sind."

Meinhof begriff die von ihr erlittene Isolationshaft nicht nur im Kontext des von Frantz Fanon propagierten Antikolonialismus, sie verwies auch auf die Verwandtschaft administrativer Antiterrormethoden und industrieller Produktionsweise:

"Sensorische Deprivation als Waffe gegen die Guerilla ist ohne Industrialisierung, die herrschende extreme Arbeitsteilung - Fließband, Akkord, MTM-Psychologisierung der Arbeitskraft, die Verwissenschaftlichung des Produktionsprozesses nicht zu denken. Die Zerlegung/Zerstückelung des Menschen durch sensorische Deprivation setzt die Zerlegung/Zerstückelung der Arbeitsprozesse voraus, die Zerlegung-Zerstückelung des Menschen in seiner Anwendung als Arbeitskraft."

Hier schließt sich der Kreis zu einer zerlegenden und zerstückelnden Medizin, der der Mensch als Ganzes niemals mehr als die Summe seiner Teile sein soll. Die obsessive Suche der Hirnforschung nach den Antrieben und Beweggründen menschlichen Tuns im neurophysiologischen Substrat hat schon vom ersten Anschein her etwas zutiefst Reaktionäres. Anstatt das menschliche Subjekt in der prinzipiellen Freiheit seiner Entscheidungen und Handlungen zu fördern, indem die Praktiken und Konzepte seiner Erkenntnis mit ihrer materiellen Bedingtheit dialektisch weiterentwickelt werden, werden mutmaßliche Korrelationen zwischen neurologischer Ausstattung und individuellem Verhalten auf den Nenner einer vulgärmaterialistischen Kausalität gebracht, die die Willensfreiheit des Menschen aufgrund angeblich biologisch bestimmter Prozesse prinzipiell in Frage stellt. Fernab davon, den Entwurfscharakter menschlicher Entwicklung als Antizipation noch nicht überwundener Fesseln und Bedingungen zu begreifen, wird das kartesianische Universum in seiner mechanistischen Zirkelschlüssigkeit vermessen, als gebe es nichts Erstrebenswerteres als ein auf die Matrix eines Biochips reduziertes Menschenbild. So floriert das Geschäft einer Welterklärung, deren soziobiologischer Auswurf den philosophischen Rückschritt menschlicher Erkenntnisfähigkeit im Ausbau staatlicher und ökonomischer Repression adäquat abbildet.

Auf die in den Hochsicherheitstrakten der US-amerikanischen Knastindustrie lebenslänglich, das heißt ohne Aussicht darauf, jemals wieder den Himmel außerhalb dicker Betonwände und vergitterter Gucklöcher zu erblicken, in Einzelhaft lebendig begrabenen Häftlinge trifft der Begriff des Untoten denn auch in seiner ganz und gar ohnmächtigen Konsequenz zu. Die wohlbekannte Tatsache, daß diese Gefangenen wie auch die jahrzehntelang ebenfalls in Einzelhaft auf ihre Hinrichtung wartenden Todeskandidaten in großer Zahl schwerwiegende Psychosen entwickeln, kann nicht verwundern. Zu behaupten, dies wäre ebenso wie ihre kriminellen Karrieren neuropathologischen Ursprungs, hieße nichts anderes, als den ihnen administrativ auferlegten Freiheitsentzug von dessen Zerstörungsgewalt freizusprechen und zur alternativlosen Maßnahme gesellschaftlicher Befriedung zu erklären. Die Bedingungen des herrschenden Verwertungssystems als gezielte soziale Erniedrigung zu kritisieren, die dementsprechend widersprüchliche Ergebnisse zeitigen, scheint nicht nur für Politik und Wissenschaft, sondern auch für Kunst und Kultur ein Wagnis darzustellen, dem sich auszusetzen man immer weniger bereit ist.

Was Bruce LaBruce mit seinem Filmprojekt "Ulrike's Brain" zur Geschichte dieser Auseinandersetzung beizutragen hat, erschließt sich vielleicht am ehesten in seinem Interesse an der Frage, auf welche Weise mythische Figuren wie Ulrike Meinhof oder auch Andreas Baader, Jan-Carl Raspe und Gudrun Ensslin, deren Gehirne 1977 obduziert wurden, um daraufhin spurlos zu verschwinden, durch ihre Ideen und Taten im Bewußtsein Nachkommender, aber auch physisch durch die Existenz ihrer konservierten Gehirne, weiterlebten. Ein alter Horrorfilm über das Gehirn Hitlers, in dem die Reanimation des Organs versucht wurde, um dem Dritten Reich doch noch zum Sieg zu verhelfen, habe ihn zu der Spekulation angeregt, ob es vielleicht eine Revolution von links gäbe, wenn man nämliches mit dem Gehirn Meinhofs mache. Weil LaBruce diese Mutmaßung ausdrücklich als Fiktion ausweist, ist sie im Reich der Untoten ebensogut aufgehoben wie die postmortale Variante der Totalitarismustheorie, der sie entspringt.

Zu "Die Untoten" bisher erschienen:

BERICHT/003: "Die Untoten" - Pressegespräch zu Kongress & Inszenierung vom 12.-14.5.2011 auf Kampnagel (SB)
BERICHT/004: "Die Untoten" - Im Stahlbad der transhumanistischen Optimierungsdoktrin (SB)
BERICHT/005: "Die Untoten" - Wachkoma, ein Widerspruch in sich (SB)
BERICHT/006: "Die Untoten" - Roboter - reprojektiver Entwurf menschlichen Scheiterns (SB)
BERICHT/007: "Die Untoten" - Wachkoma - ein Film erzählt (SB)
BERICHT/008: "Die Untoten" - Altern eine Krankheit? (SB)
BERICHT/009: "Die Untoten" - Mark Ravenhill ... im Limbus medizinischer Unwägbarkeit (SB)
BERICHT/010: "Die Untoten" - Systemvollendet - Schlachtvieh Mensch (SB)
BERICHT/011: "Die Untoten" - Verrechtlichung der Sterbehilfe Einfallstor für genozidale Lösungen? (SB)
BERICHT/012: "Die Untoten" - Palliativmedizin zwischen Patientenautonomie und Sterbehilfe (SB)
BERICHT/013: "Die Untoten" - Hirntodlüge aus Pflegesicht (SB)
BERICHT/014: "Die Untoten" - Her- und Hinkünfte des deregulierten Todes (SB)
BERICHT/015: "Die Untoten" - Vorgriff auf den eigenen Tod in künstlerischer Inszenierung (SB) BERICHT/016: "Die Untoten" - Sandy Stone ... aus einem bewegten Leben (SB)
BERICHT/017: "Die Untoten" - Das zweite Gesicht des Schönheitskultes (SB)
BERICHT/018: "Die Untoten" - Kapitalgespenster - Zur Ästhetik fehlender Theorie (SB)
INTERVIEW/001: "Die Untoten" - Matthias Zerler kämpft für Wachkoma-Patienten (SB)
INTERVIEW/002: "Die Untoten" - Petra Gehring, Philosophin (SB)
INTERVIEW/003: "Die Untoten" - Thomas Macho, Kulturwissenschaftler (SB)
INTERVIEW/004: "Die Untoten" - Roberto Rotondo, Diplom-Psychologe und ehemaliger Krankenpfleger (SB) INTERVIEW/005: "Die Untoten" - Sander L. Gilman zu Fragen der kosmetischen Chirurgie (SB)

Gehirn zur Obduktion bereit - Foto: © 2011 by Schattenblick

"Nacktes Leben" in seiner schutzlosesten Form
Foto: © 2011 by Schattenblick

7. Mai 2011