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SF-JOURNAL/032: Autoren... William Gibson, Neuromancer (SB)


William Gibson, (geb. 1948)


Mitte der 80er Jahre erweckte besonders der Autor in der SF-Szene Aufsehen, der mit seinem Roman "Neuromancer" einer neuen Richtung im Genre den Namen gab, den "Cyberpunks". Gemeint ist William Gibson, dem man nachsagt, daß er genau den Nerv der Zeit zu treffen weiß und mit äußerstem Feingefühl beschreibt, welche Empfindungen man dabei hat, wenn man sich durch die Datenwelt hackt.

Gibson ist bescheiden, ohne Stargehabe, ruhig - eine Mischung aus Dichterjüngling und Rock-Gitarrist.
(aus einem Interview mit William Gibson von René Mahlow)


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Persönliche Daten

William Ford Gibson wird 1948 in Conway, South Carolina, geboren. Bis zu seinem achten Lebensjahr zieht er mit seinen Eltern sehr viel um, weil die Arbeit seines Vaters bei einem großen Bauinstallateur im Süden dies erfordert. Als seine Eltern sich schließlich ein Jahr lang in Norfolk, Virginia, niedergelassen und ein Haus gekauft haben, stirbt der Vater bei einem Unfall. Die Mutter verkauft alles und zieht in das Städtchen in Southwestern Virginia, in dem sie aufgewachsen ist und aus dem die Familien beider Elternteile stammen. Zwischen seinem achten und fünfzehnten Lebensjahr lebt William Gibson dort fast ohne soziale Kontakte mit Gleichaltrigen. In dieser Zeit liest er unzählige SF-Bücher, die für ihn eine Art subversive Funktion haben, untergründige Informationslieferanten sind.

Dann besteht seine Mutter darauf, daß er aus gesundheitlichen Gründen und um Freundschaften zu schließen, eine Privatschule in Tucson, Arizona besucht, die er mit 18 Jahren verläßt. Die Eindrücke aus diesen drei Jahren sowohl von der Landschaft (zum Beispiel die Wüstenabschnitte im Roman "Biochips") als auch von seinen Bekannten beeinflussen die Beschreibungen in den späteren Romanen.

Als William 18 Jahre alt ist, stirbt seine Mutter in Virginia. Da Gibson seinen Einberufungsbefehl in die Army vermeiden will (Freunde aus seiner Schule sind schon in Vietnam gefallen), geht er nach Toronto in Kanada und lebt dort inmitten von Junkies.

Ohne ein festes berufliches Ziel vor Augen zu haben und um nichts anderes tun zu müssen, beginnt William Gibson ein Studium der englischen Sprache und Literatur an der Universität von British Columbia in Vancouver, wo er 1976 seinen Barchelor of Arts macht. Während des Studiums reist er viel mit seiner Freundin und späteren Ehefrau Deborah, zum Beispiel 1971 nach Europa. Er verbringt einige Zeit auf Ibiza, Sant Eulalia, und in Griechenland auf Eidra. Er reist auch ein Wochenende mit Deborah nach Istanbul, woran er sich später erinnert, als er einen Schauplatz für "Neuromancer" sucht. Daran, Science Fiction zu schreiben, denkt er nur ab und zu, ...

[...] immer wieder seit meinen Teens. Aber Anfang 20 hielt ich das, so erinnere ich mich, für einen regressiven Impuls und glaubte, ich würde in irgendeine jugendliche Fixierung zurückfallen. Es kam mir jedenfalls nicht mehr ganz cool vor. Ich war schon 30, als ich es mit dem Schreiben versuchte, und hatte dabei, wie ich mich erinnere, so ein hoffnungsloses Gefühl des Rückfalls. War mir peinlich [...]
(aus dem Interview mit William Gibson von René Mahlow am 7. Juli 1988 in seinem Haus in Vancouver, in W. Jeschke, Hrsg.: Das Science Fiction Jahr 1989, Heyne Verlag 1989, München, S. 143-201)

1974/75 schreibt Gibson im Rahmen einer Seminararbeit eine Geschichte und verkauft sie 1977 für 23 Dollar an UnEarth Publications ("Fragments of a Hologram Rose"). Seiner Meinung nach ist zu dieser Zeit "nicht mehr viel los mit Science Fiction [...], die wirkliche Welt war viel wilder als Science Fiction [...], das Zeug ist nicht radikal." Weiterhin liest er aber Ballard und Delaney, Thomas Pynchon und William Burroughs. Er wartet noch drei Jahre bis zum nächsten Versuch. 1981 schafft Gibson dann den Durchbruch. Er veröffentlicht gleich vier Erzählungen im Magazin OMNI ("Das Gernsback-Kontinuum", "Hinterwäldler", "Zubehör", "Der mnemonische Johnny"). Einige Geschichten entstehen zusammen mit Bruce Sterling und Michael Swanwick. Es folgt die Sprawl-Serie, auch "Chrom brennt" gehört dazu.

1984 wird sein Roman "Neuromancer" veröffentlicht (der erste Band einer Trilogie), der ungeheures Aufsehen erregt und von großer Bedeutung für eine neue Richtung in der Science Fiction der 80er Jahre wird, dem "Cyberpunk". Er gewinnt alle amerikanischen SF-Preise des Jahres 1985. Gibson ist überrascht von dem ungeheuren Erfolg, der nach jahrelanger Arbeitslosigkeit die familiären Verhältnisse entlastet. Bis dahin hat seine Frau die Haushaltskosten der Familie mit zwei Kindern bestritten, die unter den ärmlichsten Bedingungen in Vancouver lebte.

Die Familie zieht in ein eigenes Haus in Vancouver, wo die beiden Fortsetzungen zu "Neuromancer" entstehen: 1986 "Count Zero" und 1988 "Mona Lisa Overdrive".

Weitere Romane von Gibson folgen 1990, "The Difference Engine", zusammen mit Bruce Sterling, und 1993 "Virtual Light", der die Oakland Bay Bridge einige Jahre in der Zukunft beschreibt, in der es keine Autos mehr gibt und die Brücke einen Lebensraum für Umherziehende bietet.

Gibson erhielt später auch Aufträge für Filmdrehbücher, zum Beispiel schrieb er das Drehbuch zu "Alien III".


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Werke

William Gibson gilt als ausgezeichneter Stilist. Er schreibt provokativ, einen aktionsgeladenen Stil in derber "Gossensprache" wie alle "Cyberpunks", zu denen junge Autoren wie Bruce Sterling, Walter Jon Williams, John Shirley, Pat Cadigan, Lewis Shiner und Rudy Rucker zählen. Die Romane spielen in einer Zukunft, die von Elektronik absolut beherrscht wird, so gibt es auch elektronische Implantate im Körper, die ein direktes Interface mit dem Computer erlauben.

Sein Cyberspace [...] schafft letzten Endes nur eine gewisse Empfindlichkeit für Oberflächen, und Gibson, der sich inzwischen längst anderen Themen zugewandt hat, weiß das. Sein Erfolgsrezept, das die Lektüre seiner Texte ebenso spannend wie ergiebig macht, ist klar: Es ist die Mischung aus Technikliebe und nostalgischer Romantik in einer Zeit, wo der Computer neben neuen Bequemlichkeiten auch neue Abhängigkeiten schafft, die treffend das Lebensgefühl jener ausdrückt, deren Denkart irgendwo zwischen den Schaltkreisen ihres Big Blue versiegt.
(aus einer Buchbesprechung zu William Gibson: "Cyberspace" von Michael Nagula, in W. Jeschke, Hrsg.: Das Science Fiction Jahr 1989, Heyne Verlag 1989, München, S.551)

Gibson macht keinen Hehl daraus, daß Computer für ihn keinen großen Stellenwert in seinem Leben haben: "Die Computer sind für mich Requisiten und haben die gleiche Funktion wie Raumschiffe oder wie Pferde in einem Western. [...] Ich wußte praktisch nicht mal, daß ein Computer ein Diskettenlaufwerk hat, als ich dieses Buch schrieb." So genügen seine diesbezüglichen Beschreibungen auch nicht immer wissenschaftlichen Ansprüchen.

Die wichtigste Funktion seiner Science Fiction, sagt Gibson, sei es, "die Gegenwart verständlicher zu machen - und nicht versuchen zu wollen, die Zukunft vorauszusagen. Das wäre hoffnungslos [...]". Seine Romane sollen nicht den Charakter der Prognose haben, sondern Diagnose sein.

[Ich] halte die Welt von Neuromancer keinesfalls für eine reine Dystopie. Ich bin kein Vordenker, also werde ich höchstwahrscheinlich nie versuchen, eine Utopie oder einen fiktiven Text zu schreiben, der im utopischen Bereich des Spektrums angesiedelt ist.
(aus dem Interview, a.a.O.)

Case, der Held von "Neuromancer", entstammt dem Banden- und Straßenmilieu und agiert hart an der Grenze zur Unterwelt. Seine gelegentliche Geliebte ist eine gnadenlose Killerin. Die Halbwelt der Straße steht durch einige Kontaktpersonen in enger Verbindung mit der sauberen, mittelständischen Welt.


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Leseprobe

Charaktere wie Case aus "Neuromancer" sind so bezeichnend für die Science Fiction der 80er und 90er Jahre, daß hier die Textstelle aus "Neuromancer" ausgewählt ist, die den "Cyberpunk" Case einführt. Gleichzeitig gibt sie einen Eindruck von der Szene, die William Gibson für seinen Roman gewählt hat und von seiner entsprechenden Szenesprache:

Case war vierundzwanzig. Mit zweiundzwanzig war er ein Cowboy, ein Aktiver, gewesen, einer der besten im Sprawl. Er war von den besten ausgebildet worden, von McCoy Pauley und Bobby Quine, Legenden im Geschäft. Mit ständigem Adrenalinüberschuß, Nebenprodukt seiner Jugend und seines Könnens, hing er an einem handelsüblichen Kyberspace-Deck, das sein entkörpertes Bewußtsein in die reflektorische Halluzination der Matrix projizierte. Als Dieb arbeitete er für andere, reichere Diebe, Auftraggeber, die die exotische Software lieferten, die erforderlich war, um glänzende Firmenfassaden zu durchdringen und Fenster in reiche Datenfelder aufzutun.

Er machte den klassischen Fehler, obwohl er sich geschworen hatte, diesen nie zu begehen. Er klaute von seinen Auftraggebern. Er behielt etwas für sich und versuchte, es durch einen Hehler in Amsterdam abzusetzen. Er war sich noch immer nicht ganz sicher, wie sie ihm auf die Schliche gekommen waren, was freilich keine Rolle mehr spielte. Er hatte mit dem Tod gerechnet, aber sie lächelten nur. Natürlich sei er willkommen, meinten sie, willkommen im Reich des Geldes. Und er brauche das Geld. Denn - noch immer lächelnd - sie würden dafür sorgen, daß er nie wieder arbeiten könne.

Sie schädigten sein Nervensystem mit einem russischen Mykotoxin aus Kriegszeiten.
(aus William Gibson: Neuromancer, 1984 by William Gibson, 1987 dt. Übers. von Reinhard Heinz im Heyne Verlag, München, Seite 14)


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Autoren
- Persönliche Daten
- neue Akzente für die Science Fiction-Literatur
- Zur Schreibtechnik
- Stellungnahmen zur Science Fiction
in Interviews und Romanen
- Werke mit Auszeichnungen und Verfilmungen
- Leseproben

Erstveröffentlichung 1997

8. Januar 2007