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PROFIL/091: Dantes Inferno und die Hölle auf Erden (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2015

Dantes Inferno und die Hölle auf Erden
Vor 750 Jahren wurde der größte Dichter des Mittelalters geboren

Von Hanjo Kesting


"Geschaffen haben mich die Allmacht Gottes,
Die höchste Weisheit und die erste Liebe.
Lasst jede Hoffnung, wenn ihr eingetreten."


Die Verse stehen in Dantes Göttlicher Komödie über dem Eingang zur Hölle, gipfelnd in dem furchtbaren "Lasciate ogni speranza, voi ch'entrate!" ("Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!"). Dass die Hölle aus der Weisheit und Liebe Gottes hervorgegangen sein soll, ist eine Vorstellung, die wir nicht nur als verstörend empfinden, sie befremdet auch. Zwar haben die Menschen ganzer Jahrhunderte vor den Schrecken der Hölle gebangt und gezittert, aber uns Heutigen ist die Hölle ferngerückt, wir haben sie weitgehend aus dem Bewusstsein und unserem Seelenleben verdrängt.

"Ist die Hölle noch zu retten?" lautete vor einiger Zeit die Schlagzeile einer Wochenzeitung. Auf diese - kaum sorgenvoll gemeinte - Frage folgte sogleich eine andere, ungleich ernstere Frage: "Doch wo bleibt der Himmel, wenn wir die Hölle entsorgt haben?" Der Autor zitierte aus der Göttlichen Komödie den Vers, der dort über dem Höllentor geschrieben steht, um dann fortzufahren: "Dass ausgerechnet Gottes Liebe die Hölle geschaffen hat, muss glauben, wer seine Überzeugung von der Existenz eines göttlich approbierten Folterkellers mit dem christlichen Bild von diesem Gott vereinbaren will ..."

Die Frage nach Gottes Grausamkeit soll hier nicht weiter erörtert werden, nur die Behauptung, die Idee der Hölle sei unchristlich, entsprang dem Wunschdenken des Autors. Dante war zweifellos Christ und glaubte an die Hölle, so wie jahrhundertelang die ganze Christenheit an sie glaubte - in diesem Punkt stimmten Katholiken und Protestanten überein. Das gilt nicht mehr für die Gegenwart. Wie sollen wir Dantes Hölle ernst nehmen, wenn wir keine theologische Beziehung mehr dazu haben? Wir können sie nur als Dichtung ernst nehmen, entgegen der heutigen Tendenz, Dichtung auf historische, politische oder theologische Aussagen zu reduzieren. Was Dante betrifft, war er nicht nur Christ, sondern auch der größte Dichter des Mittelalters. Er wollte, wie jeder große Dichter, seine religiösen und philosophischen Überzeugungen nicht bloß in ein poetisches Gewand kleiden, sondern eine eigene Vorstellung der Welt dichterisch ausformen.

Dantes schwieriger Nachruhm

Dante Alighieri, wie er mit vollem Namen heißt, wird seit mehr als sechs Jahrhunderten als einer der größten Dichter bewundert und verehrt. T.S. Eliot sprach von der Trias Dante-Shakespeare-Goethe wie von einer literarischen Trinität - der Begriff "Trinität" mag gerade bei Dante naheliegen. Er selbst hat sich, des eigenen Ranges bewusst, in ein anderes Gruppenbild gestellt, unter die großen Dichter der Antike: neben Homer, Horaz, Vergil. Nicht sicher kann man sein, ob dem Ruhm Dantes heute noch eine vergleichbare Leserealität entspricht, nicht nur beim breiteren Publikum, sondern auch in den Bildungsschichten. Das gilt allerdings nicht für Italien. Dort präsentierte Roberto Benigni große Dante-Rezitationen im Fernsehen und auf riesigen Plätzen vor enormen Auditorien. Über eine Million Menschen haben sie live erlebt, rund zehn Millionen im Fernsehen. In Deutschland dagegen ist die Göttliche Komödie unter den Gipfelwerken der Literatur, wie Hamlet, Don Quijote, Faust, unserer Zeit wahrscheinlich am meisten entrückt. Sie ist ein nicht leicht zugängliches Werk, überdies äußerst schwer zu übersetzen. Umso erstaunlicher, wie oft der Versuch dazu gemacht worden ist.

Dantes Inferno ist aus neun Kreisen gebildet, und diese Kreise sind mehrfach unterteilt, mal in drei, mal in zehn Gräben oder Ringe, je nach Schwere und Eigenart der Sündenschuld. Vergehen und Strafe entsprechen einander nach einer Gesetzmäßigkeit, die bei Dante "contrapasso" genannt wird, wörtlich "Gegenschritt". Je größer die Schuld, desto tiefer der Platz im Höllenschlund. Man kann sich das Inferno wie einen umgekehrten Kegel vorstellen, der bis zur Erdmitte reicht, in Form eines kreisförmigen Amphitheaters.

Hinter dem Höllentor beginnt der sogenannte "Limbus", eine Art Vorhölle, in der jene Seelen ein freudloses Leben führen, die weder gut noch böse sind - man kann sie als die Lauen bezeichnen. Im ersten Höllenkreis befinden sich die ungetauften Kinder und die "gerechten Heiden", wie man sie nennen könnte, darunter die berühmten Dichter der Antike von Homer bis Vergil. Sie sind dort aus dem einzigen Grund, dass sie ungetauft sind. Das kommt uns hart und dogmatisch vor. Der zweite Kreis gehört den Wollüstigen, die der Versuchung der Fleischeslust erlegen sind; im dritten Kreis büßen, bewacht vom Höllenhund Zerberus, die Schlemmer unter eisigem Regen. Schon am Anfang der Hölle, ja bereits in der Vorhölle, werden die Strafen als so furchtbar und trostlos geschildert, dass man sich fragt, wie Dante es fertigbringen mag, sie im weiteren Verlauf zu steigern, noch furchtbarer und trostloser zu machen. Im vierten Kreis werden die Geizigen und die Verschwender gestraft, im fünften Kreis die Zornigen und die Trägen. Es handelt sich, wie leicht zu erkennen, um gegensätzliche oder besser um komplementäre Sünden, die eine ähnliche Strafe finden. Dante schildert die Sünder und ihre Qualen durch zahlreiche Beispiele, die er meist der Geschichte und Mythologie entnimmt. Der Leser vermag nicht immer leicht zu folgen, da er nicht dieselben Kenntnisse wie Dante hat. Es gibt eine obere und eine untere Hölle, in der oberen werden die Sünden der Unmäßigkeit und Lässlichkeit abgebüßt, in der unteren die Sünden der Bosheit und Herzensverderbtheit. Die obere Hölle besitzt fünf Kreise, die untere drei, der sechste Kreis bildet die Grenzscheide, dort liegt die Höllenstadt Dis, der Bußort der Ketzer.

Dantes Mitleid

Es hat nicht an Versuchen gefehlt, Dantes "Inferno" grafisch darzustellen, wobei stets der Gedanke konzentrischer Kreise wiederkehrt, doch ist auch die sinnlich-bildliche Imaginationskraft Dantes gerühmt worden: Kraft ihrer, schrieb Ezra Pound, sei Dante ein großer Dichter. Seine Fähigkeit der Bilderfindung ist in der Tat Visionär, sie erinnert in der Darstellung der Höllenqualen an Hieronymus Bosch und nimmt zuweilen die Kühnheiten der Surrealisten vorweg. Diese Vergleiche drängen sich auf, je tiefer man in die Hölle hinabsteigt.

Das lässt sich besonders gut an einer Episode aus dem fünften Gesang des "Inferno" zeigen, der Geschichte von Paolo Malatesta und Francesca da Rimini, die auch in späterer Zeit immer wieder ausgestaltet worden ist. Paolo und Francesca sind ein Liebespaar, das auch in den Flammen der Hölle von seiner Liebe nicht lassen kann. Dante stürzt nach dem Anhören ihrer Geschichte vor Mitleid zu Boden, und der Vers verdoppelt diesen Eindruck: "Und, wie ein Toter hinfällt, fiel ich nieder." Bemerkenswert auch, dass Francesca und ihr stummer Gefährte keinerlei Zeichen von Reue über ihr Tun bekunden, wohl aber Dankbarkeit für den Jenseitswanderer, der an ihrem Geschick Anteil nimmt und die Frage nach der Gerechtigkeit der Strafe gar nicht stellt.

Das heißt zugleich: die Göttliche Komödie ist ein poetisches Produkt, das eine neue Lebensweise der Einzelnen und der Gesellschaft vorstellen soll, durch negative Spiegelung aus der Hölle. Sie ist in diesem Sinn ein historisches Werk, in das viel Zeitgeschichte eingegangen ist, viel von der Geschichte der Stadt Florenz und ihren Konflikten. Dantes Heimatstadt war die große Wirtschaftsmacht etwa seit dem Jahr 1200, mit weitem Abstand vor Paris, Venedig und Rom. Florenz hatte seit 1256 die erste solide Goldwährung der mittelalterlichen Welt, die für 250 Jahre ihre Vorrangstellung behauptete. In Florenz wurde das moderne Bankwesen entwickelt, und die Familie der Medici spielte dabei die führende Rolle. Später heirateten die Medici in die französische Königsfamilie ein - eine Kaufmannsfamilie aus Florenz verband sich mit den höchsten Höhen der europäischen Aristokratie. Daran erkennt man die Bedeutung der Stadt und des Geldwesens, daraus entwickelten sich aber auch enorme soziale Spannungen, zunächst zwischen dem Adel und der Kaufmannschaft, später zwischen den Kaufleuten und den kleinen Handwerkern. Die früheren Parteinahmen der Ghibellinen und Guelfen, für Kaiser oder Papst, waren zu dieser Zeit bereits verblasst, die Parteien waren in Unterparteien zerfallen, in die "Weißen" und die "Schwarzen" - Namen, die sich in Florenz bis heute erhalten haben.

Der Dichter im Exil

Dante kam 1265 - vor 750 Jahren - in Florenz als Kind einer vornehmen Patrizierfamilie zur Welt; er soll neun Jahre alt gewesen sein, als er der fabelhaften Beatrice, der Muse seiner Dichtung, begegnete, wenngleich es in der Dante-Forschung bis heute umstritten ist, ob sie als historische Person oder nur als literarische Fiktion anzusehen ist. Mit 30 Jahren begab er sich in die politische Arena und hatte eine Reihe von Ämtern inne, er hielt zu den Guelfen, doch als diese sich ihrerseits spalteten, geriet er zur unterlegenen Partei und wurde unter Androhung der Todesstrafe aus Florenz verbannt. Die letzten 20 Jahre seines Lebens verbrachte er fern der Heimatstadt, das heißt im Exil. Die "Komödie" (als solche wird sie von Dante bezeichnet, das Beiwort "göttlich", "divina", ist die Hinzufügung einer späteren Zeit) entstand in seinen beiden letzten Lebensjahrzehnten, zwischen 1305 und seinem Todesjahr 1321. Man kann darin eine Summe der christlich-mittelalterlichen Welt sehen, gleichermaßen geprägt von Antike, Christentum und scholastischer Theologie. Gleichzeitig steht die "Komödie" am Anfang der italienischen Literatur, als ihr Maßstab und Muster. In einer Zeit, in der das Lateinische noch seinen Vorrang behauptete, brach Dante der Volkssprache die Bahn und führte sie sogleich zur Vollendung. Damit förderte er den Gedanken der kulturellen Einheit Italiens und schuf ein Nationalbewusstsein, mit großen politischen Folgen.

Schwer zu sagen, was ihn zu dieser historischen Rolle befähigte. Er studierte in Bologna, das damals ein internationales Zentrum war, kaum weniger wichtig als Paris. Viel spricht dafür, dass er auch in Paris studiert hat. Er war vertraut mit Aristoteles, der griechisch-arabischen Wissenschaft und mit der neuen Literatur aus Frankreich, vor allem aus der Provence: Liebesromane, Artusromane, Troubadours. Er öffnete sich all dem, darin war er zwar nicht der Einzige, aber die Größe, mit der er alles auffasste, weist ihm seine besondere Rolle zu.

Ein höllisches KZ?

Die Parteikämpfe in Florenz hatte Dante als Hölle auf Erden erlebt, in der man sich gegenseitig zerfleischte. Diese Spannungen sind in die Göttliche Komödie eingegangen, ja sie bilden ihre Grundlage, vor allem im ersten Teil, dem Inferno. Einige hundert Personen kommen darin vor, so viele, dass man sie auch nach der zweiten oder dritten Lektüre nicht alle deutlich vor Augen hat. Der achte Höllenkreis wird am ausführlichsten beschrieben, hier häufen sich die Schrecknisse, und nicht nur der Jenseitspilger Dante, sondern auch der Leser braucht starke Nerven angesichts der Qualen, die dichterische Fantasie hier ersonnen hat. Die göttliche Gerechtigkeit ist hier von Grausamkeit und Gnadenlosigkeit nur schwer zu unterscheiden. Nietzsche schmähte Dante als "Hyäne, die in Gräbern dichtet." Der schwedische Schriftsteller Olof Lagercrantz hat das "Inferno" ein "höllisches Konzentrationslager" genannt, Arno Schmidt fühlte sich angeregt zu einem spöttischen Brief an den "verehrten Meister" Dante: "Ich habe mit größtem Interesse Ihr großangelegtes 'Inferno, Handbuch für KZ-Gestaltung' gelesen, und erlaube mir, Ihnen meinen tief gefühlten Dank dafür auszusprechen: der schmucke Band gehört auf das Bücherbrett jedes Redlichdenkenden. Der reizende Einfall, Ihre Anregung unter der Einkleidung einer Führung durch ein ideales KZ vorzutragen, die überall hervortretende einwandfreie Gewinnung, sowie die eindringliche Gestaltung des durchaus originellen Stoffes, sichern dem apart bebilderten Büchlein weiteste Verbreitung."

Das ist die finsterste und feindlichste Lesart des berühmten Buches, die allerdings zwei Dinge unterschlägt: einmal, dass sich der Pilger angesichts der ewigen Pein der Verdammten immer wieder anteilnehmend und mitleidend verhält, zum anderen, dass wir in einer Welt leben, die so beschaffen ist, dass sie das Verlangen nach höherer Gerechtigkeit und Bestrafung von Missetätern gleichsam von selbst erzeugt. Es geht in der Comedia durchweg um die großen Verbrecher, deren Qual geschildert wird, und zwar ohne Lust, ruhig und objektiv. Es sind alles politisch große Leute. Dante selbst sagt an einer Stelle, dass er sich nur an die Großen hält. Und Vergil liefert den Kommentar dazu: "Mit denen sollst du kein Mitleid haben!" Das sagt er nicht bei Paolo und Francesca, den unglücklich Liebenden.

Der letzte Vers des "Inferno" lautet: "E quindi uscimmo a riveder le stelle" ("Und steigend wir dann wiedersahn die Sterne"). Warum hat Dante "le stelle", "die Sterne", an das Ende des "Inferno" gesetzt? Soll es ein Zeichen der Hoffnung sein? Oder werden die Himmelskörper nur in ihrer nackten Materialität angesprochen? Das ist nicht eindeutig zu entscheiden.

Dante hat in seiner Zeit viel Schrecken, Grausamkeit und menschliche Verrohung erfahren; doch das irdische Inferno seiner Zeit war noch weit entfernt von den Schrecken des 20. Jahrhunderts und unserer Gegenwart mit ihren Weltkriegen, Atombomben, Vertreibungen und Ausrottungen bis hin zum planmäßigen Völkermord. Manchmal scheint es, als habe Dante diese Schrecken vorausgeahnt. Als er sein Inferno entwarf, erfand er keine sadistische Horrorvision, er beschrieb die Wirklichkeit seiner Zeit, die Wirklichkeit von Florenz. Kurt Flasch, der große Kenner der mittelalterlichen Geistesgeschichte, der vor einigen Jahren eine neue Übersetzung von Dantes Comedia vorgelegt hat, schrieb in einem Kommentar so knapp wie klar: "Dantes Jenseits zeigt die irdische Welt." Dieser Satz lässt sich auch anders fassen: Die irdische Welt ist uns Himmel und Hölle genug.


Hanjo Kesting ist Kulturredakteur dieser Zeitschrift. Zuletzt erschienen seine Bücher Augenblicke mit Jean Améry (Wallstein Verlag Göttingen) und Das Geheimnis der Sirenen. Bilder und andere Abenteuer (Wehrhahn Verlag Hannover).

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2015, S. 59 - 62
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Juli 2015

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