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PROFIL/088: Dylan Thomas - Mein Handwerk meine trotzige Kunst (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2014

Mein Handwerk meine trotzige Kunst
Dylan Thomas - ein Gedenkblatt

Von Hanjo Kesting



Dylan Thomas, geboren vor 100 Jahren im walisischen Swansea, war einer der wichtigsten Lyriker englischer Sprache im 20. Jahrhundert, aber nach dem Zeugnis seiner Frau Caitlin auch der erste Rockstar der Literatur: "Er konnte das Massenpublikum ansprechen und kam großartig an. Bei einer Lesung im New Yorker Poetry Center erlebte ich ihn zum ersten Mal vor einer großen Zuhörerschaft. Am Anfang machte er einen ziemlich schüchternen, linkischen Eindruck, aber bald kam er richtig in Schwung und ließ seine Stimme dröhnen. Manche Mädchen gerieten in Ekstase, wie heutzutage in einem Rockkonzert. Sie schmissen sich geradezu an ihn ran." Auch Richard Burton, der Dylan Thomas als junger Schauspieler 1946 in einem Rundfunkstudio begegnete, nannte ihn "den faszinierendsten Redner, den ich je erlebt habe".

Seine schwer übersetzbaren Gedichte sind in Deutschland weniger bekannt geworden als sein Hörspiel Under Milk Wood, das zu den berühmtesten Stücken der Radioliteratur gehört. Bei der Live-Uraufführung am 14. Mai 1953 in New York sprach der Autor selbst die "First Voice", die mit den berühmten Worten anhebt: "To begin at the beginning: It is spring, moonless night in the small town, starless and bibleblack, the cobblestreets silent and the hunched, courters'-and-rabbits' wood limping invisible down to the sloeblack, slow, black, crowblack, fishingboatbobbing sea ..."

Diese Aufführung kam unter ziemlich dramatischen Umständen zustande, denn das Stück war bis zum Tag der Premiere unvollendet. Thomas' literarische Agentin Liz Reitell, die auch die Geliebte seiner letzten Tage war, schloss ihn am Nachmittag vor der Aufführung in ein Zimmer ein und zwang ihn, das Stück zu Ende zu schreiben. Die letzten Zeilen des Manuskriptes wurden an die Schauspieler ausgeliefert, als sie bereits beim Make-up saßen. Ein paar Tage später konnte Thomas seiner Ehefrau Caitlin berichten: "Ich habe jenes höllische, ewig unfertige 'Stück' beendet und hab's in New York mit Schauspielern aufgeführt." In der legendären Radioproduktion der BBC, die acht Monate später entstand, musste Richard Burton die Rolle des Erzählers übernehmen - Dylan Thomas war zwei Monate zuvor, mit nur 39 Jahren, gestorben.

"Unter dem "Milchwald", von Erich Fried ins Deutsche übertragen und fast zeitgleich mit der BBC-Produktion im damaligen NWDR gesendet, machte Dylan Thomas auch in Deutschland schlagartig bekannt: Gründgens in Hamburg, Barlog in Berlin und Schweikart in München brachten den Text auf die Theaterbühne, er bildete später auch die Vorlage für zwei Opern und wurde 1972, wieder mit Richard Burton, sogar verfilmt.

In einem kurzen Text unter dem Titel "Mein Steckbrief" hat Dylan Thomas ein Selbstporträt gegeben: "Ein Meter achtundsechzig und einen halben Zentimeter groß. Dicke Lippen, Stupsnase, mausbraune Locken; ein Vorderzahn ausgebrochen, als er im Wirtshaus Zur Nixe in Mumbles ein Spiel Katz und Hund gespielt hatte. Spricht ziemlich geziert, dickköpfig, kann einem alles Mögliche einreden, schneidet ein bisschen auf. Knickerbockerhosen, tipptopp, aber kein Frühstück. Sie kennen ja den Typ; Gedichte von ihm waren gedruckt im 'Harold of Wales'. Hat in der Oberstadt gewohnt. So einer, der geschwollen daherredet, eine Art ländlicher Bohemien mit einer Künstlerkrawatte mit einem Mordsknoten. Ein viel redender, ehrgeiziger, kraftprotziger, prätentiöser junger Mann; und auch so eine Art Maulwurf: wühlerisch und wählerisch."

Als Lyriker war der Maulwurf ohne Zweifel ein Originalgenie, von größtem Einfluss auf die nachfolgenden Poeten-Generationen. Über seinen ersten Gedichtband "18 Poems" von 1934 hieß es in einer Rezension: "Dies ist nicht nur ein ungewöhnlich vielversprechendes Buch; es ist vor allen Dingen jene Art Bombe, die nur einmal alle drei Jahre explodiert." Sir Herbert Read, Professor für Dichtkunst in Harvard, urteilte: "Diese Gedichte können nicht rezensiert, sondern nur gefeiert werden." Trotzdem führte Thomas mit seiner Frau Caitlin ein unstetes, materiell eingeschränktes, geradezu ärmliches Leben. Zwar schrieb er seit 1941 im Auftrag der Regierung Skripte für Propagandafilme gegen Nazi-Deutschland, aber die Honorare und Vorschüsse wurden dazu verwendet, seinen früh entstandenen Mythos vom heiligen Trinker zu befestigen. Nach dem Krieg wuchs Thomas' Ruhm als Lyriker. Es drang auch in die USA und die BBC entdeckte sein ungewöhnliches Talent als Rezitator zeitgenössischer Lyrik und Sprecher szenischer Lesungen. Aber was heißt Sprecher? "Das grüne Studiolicht flackerte auf", erinnerte sich Richard Burton, "und Dylan, klein, o-beinig, fett und berühmt in den Kneipen, schrie, wie ich es noch nie gehört hatte. Wir waren alle in Schrecken versetzt. Auf unserem Rücken sträubte sich das unsichtbare, vor Jahrhunderten verloren gegangene atavistische Fell. Er nahm dabei noch nicht einmal die Zigarette aus dem Mund."

Das Werk von Dylan Thomas liegt gesammelt im Hanser Verlag vor, darunter auch die Prosabände Ganz früh eines Morgens und Ein Blick aufs Meer, die nach den Worten von Erich Fried "zu den eigenwilligsten, stärksten und schönsten englischen Prosadichtungen des Jahrhunderts" gehören. Das Hörspiel "Unter dem Milchwald" ist zum 100. Geburtstag im Hörverlag gleich in dreifacher Fassung erschienen: in der BBC-Produktion mit Richard Burton, der NWDR-Version mit Günther Lüders (beide 1954) und in einer Aufnahme des MDR, die 2003 entstand und in der Harry Rowohlt die Rolle des Erzählers übernahm.

Dylan Thomas starb 1953 in New York während einer Vortragsreise. Er war ein Dichter in der Nachfolge Villons, besessen, vital, nahe den Ursprüngen, aber leicht zu erschüttern im Handwerkerstolz des Poeten. Was ist Poesie? Er selbst schrieb: "Ich mag Widersprüche in meinen Bildern, indem ich zwei Dinge in einem Wort sage, vier in zwei Worten und eines in sechs."



In my craft or sullen art
Exercised in the still night
When only the moon rages
And the lovers lie abed
With all their griefs in their arms,
I labour by singing light
Not for ambition or bread
Or the strut and trade of charms
On the ivory stages
But for the common wages
Of their most secret heart.

Not for the proud man apart
From the raging moon I write
On these spindrift pages
Nor for the towering dead
With their nightingales and psalms
But for the lovers, their arms
Round the griefs of the ages,
Who pay no praise or wages
Nor heed my craft or art.



Mein Handwerk meine trotzige Kunst
Geübt in stiller Nacht
Wenn nur der Mond verrückt spielt
Und die Liebenden zu Bett liegen
Mit all ihrem Kummer in ihren Armen,
Da arbeite ich bei singendem Licht
Nicht für Ehrgeiz oder für Brot
Oder gespreizten Zauberhandel
Auf Bühnen aus Elfenbein,
Nur für gewöhnlichen Lohn
Ihrer allergeheimsten Herzen.

Nicht für den stolzen Mann abseits
Vom verrückten Mond schreibe ich
Auf diesen gischtigen Seiten
Noch für die erhabenen Toten
Mit ihren Nachtigallen und Psalmen
Doch für die Liebenden, deren Arme
Geschlungen rings um den Kummer der Zeiten,
Die weder Lob noch Lohn zahlen
Noch achten meine Fertigkeit meine Kunst.

(Übersetzung Hanjo Kesting)


Hanjo Kesting ist Kulturredakteur dieser Zeitschrift. Zuletzt erschien im Wehrhahn Verlag Hannover sein Buch Das Geheimnis der Sirenen. Bücher und andere Abenteuer.

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2014, S. 64 - 66
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von
Kurt Beck, Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka,
Thomas Meyer und Bascha Mika
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Internet: www.ng-fh.de
 
Die NG/FH erscheint zehnmal im Jahr (Hefte 1+2 und 7+8 als
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Oktober 2014


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