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GESCHICHTE/029: Literatur und 'kollektives Gedächtnis' in der DDR (Uni Gießen)


Spiegel der Forschung Nr. 1/2 - November 2006
Wissenschaftsmagazin der Justus-Liebig-Universität Gießen

Zwischen offiziellem Gedächtnis und Gegen-Erinnerung
Literatur und 'kollektives Gedächtnis' in der DDR

Von Carsten Gansel


Unter dem Titel "Gedächtnis und Literaturen in den 'geschlossenen Gesellschaften' des Real-Sozialismus zwischen 1945 und 1989" fand im Mai 2006 im Gästehaus der Universität Gießen eine Tagung statt, die ausgehend von der kulturwissenschaftlichen Unterscheidung in kommunikatives, kulturelles bzw. kollektives Gedächtnis der Frage nachging, auf welche Weise das Gedächtnis der Literatur in der SBZ/DDR sowie in den anderen Ländern des so genannten 'Real-Sozialismus' funktioniert hat. Die Tagung stand im Zentrum einer Veranstaltungsreihe zu diesem Thema, die eine Ausstellung unter dem Titel "Gewendet" mit Fotos von Harald Hauswald und Texten von Lutz Rathenow, eine Podiumsdiskussion und verschiedene Autorenlesungen umfasste. Prof. Dr. Carsten Gansel hatte diese Veranstaltungen im Anschluss an den P.E.N.-Weltkongress in Berlin gemeinsam mit dem P.E.N.-Zentrum Deutschland am Gießener Institut für Germanistik organisiert. Im Folgenden dokumentieren wir seinen Vortrag im Rahmen dieser Tagung. Ende Mai 2007 wird die zweite Tagung zum Thema "Literatur und Gedächtnis in den 'geschlossenen Gesellschaften' der Länder des 'Real-Sozialismus' stattfinden.


*


Mit dem Titel des Beitrags ist ein Versprechen abgegeben, das nur schwer einzulösen ist, weil der gedächtnistheoretischen Begriffslyrik Tribut gezollt wird und von 'offiziellem' und 'kollektivem Gedächtnis' ebenso die Rede ist wie von 'Gegen-Erinnerung'. Insofern wäre harte Arbeit an den Begrifflichkeiten gefordert, worauf ich aber angesichts des zur Verfügung stehenden Zeitrahmens hier verzichten muss. Lassen Sie mich statt dessen gewissermaßen in medias res einsetzen und mit einem literarischen Text beginnen, mit Uwe Johnsons "Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953", einem Text, der 1956 nach einer Odyssee durch DDR-Verlage keine Publikationschance erhielt und der Zensur zum Opfer fiel.

Johnson erzählt in der "Babendererde" von jungen Leuten, die in einer mecklenburgischen Kleinstadt im Mai des Jahres 1953 kurz vor dem Abitur stehen. Ingrid, Klaus und Jürgen geraten in den staatlicherseits provozierten Konflikt um die christliche Junge Gemeinde. Aus moralischen wie politischen Gründen halten sie das Vorgehen des Staates gegen einzelne Mitschüler schlichtweg für einen Verfassungsbruch. Weil sie dies öffentlich kundtun, werden Klaus und Ingrid in einem Tribunal von der Oberschule verwiesen und verlassen die DDR. Jürgen bleibt und hofft auf Veränderung. Aber nun zum Text, dessen Schauplatz ein altes Gymnasium ist:

"Zwischendurch sah Jürgen von weiten die Schulwandzeitung HÖR ZU, JUGENDFREUND. Mechanisch las er das im zweiten Stockwerk zwischen Pfeiler gespannte Spruchband, das mitteilte: DIE ARBEIT AN DEN OBERSCHULEN MECKLENBURGS IST EIN BEDEUTENDER BEITRAG IM KAMPF UM FRIEDEN UND EINHEIT FÜR DEUTSCHLAND: weiße Buchstaben auf blauem Tuch. [...] In der Ausgangstreppe staute sich der Strom. Ingrid wartete neben Jürgen, bis sie hinauskonnten ohne eng gequetscht zu werden, und so sagte ihnen Johann Wolfgang Goethe von der linken Wand: EDEL sei der Mensch, hilfreich und gut. - Arbeit ist die Quelle aller Kultur: sprach Karl Marx von rechts her; beide in trotziger brauner Fraktur. Unter den Inschriften schaukelte sich eine Art Schlinggewächs, das hatte eine schmückende Aufgabe." (Uwe Johnson, Ingrid Babendererde, 1985/87)

Nachdem der öffentliche Raum des Schulflures in dieser Weise ausgeleuchtet ist, wendet sich der Erzähler der detaillierten Beschreibung des Klassenzimmers zu. Die Ereignisse in Johnsons Text kulminieren in der Schulaula, denn hier findet das Tribunal gegen die Junge Gemeinde statt. Der Erzähler betrachtet mit akribischem Blick den Raum der traditionsreichen alten Aula, und nimmt die Zeichen der neuen Zeit wahr:

"Über der Täfelung hing in der Mitte der Wand das Bildnis des Führers der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. An der Stirnwand war unübersehbar eine große rote Fahne an die Wand genagelt, darauf hatte die 9B1 die Losung befestigt, aus einzelnen weißen Pappbuchstaben: REINIGT UNSERE REIHEN VON DEN FEINDEN UNSERER DEMOKRATISCHEN ORDNUNG. Der siebenunddreißigste Buchstabe hing schief."

Der Raum einer Geschichte, der Schauplatz, ist ein wichtiges - oftmals allerdings unterschätztes - Element von literarischen Texten, es handelt sich hier um einen "Ausschnitt von Welt". Insofern gehört der gestaltete Raum in Erzähltexten zu einem Bestandteil des Modells von Wirklichkeit. Räume in narrativen Texten sind aber keineswegs darauf beschränkt, den Figuren einen entsprechenden Handlungsort zu geben. Die jeweilige Raumkonstruktion kann darüber hinaus für den Text weitergehende Funktionen erfüllen und macht Unterschiede zwischen einzelnen Texten aus. So dient das Entwerfen eines bestimmten Raumes der Entfaltung einer besonderen Stimmung oder einer Atmosphäre. Ein Raum kann durch entsprechende Elemente atmosphärisch bestimmt werden, er kann Vertrautheit, Fremdheit, Angst, Abwehr, Kritik erzeugen. [...] Nicht zuletzt ist danach zu fragen, in welcher Epoche, Gesellschaft, Kultur der Ort gelagert ist.

Und damit sind wir bei meinem Beispiel: Ich behaupte, in keinem Text der westdeutschen Literatur nach 1945 würde sich eine vergleichbare Raumdarstellung finden wie bei Uwe Johnson. Und dies hat einen einfachen Grund, den Johnson in seinem Essay "Berliner Sachen" benennt: Bereits vor dem Mauerbau von 1961 wirkt die noch offene Grenze als literarische Kategorie, weil sie zwei Ordnungen trennt, "nach denen heute in der Welt gelebt werden kann". Insofern weist Johnsons Raumdarstellung über sich hinaus, sie entwirft im Rückblick eine Art 'kulturellen Gedächtnisraum', der wiederum Auskunft gibt über das kulturelle Gedächtnis der DDR.

Das sei nachfolgend in drei Schritten durchmessen: Im ersten Teil wird unter Bezug auf literarische Texte die Spezifik des 'kollektiven' bzw. 'kulturellen' Gedächtnisses der DDR skizziert. Im zweiten Teil geht es um das Verhältnis von Speicher- und Funktionsgedächtnis in der DDR. Schließlich sei im dritten Teil der Zusammenhang von Kanonisierung und 'kulturellem Gedächtnis' in der DDR diskutiert.


Zum 'kulturellen Gedächtnis' in der DDR

Es wird davon ausgegangen, dass das 'kollektive Gedächtnis' durch drei Dimensionen konstruiert wird. Zunächst durch eine materiale Dimension, die die Medien des kulturellen Gedächtnisses meint und Texte ebenso umfasst wie Denkmäler und bis zu Ritualen reicht. Sodann wird das 'kollektive Gedächtnis' konstituiert durch die soziale Dimension, wozu die Praktiken der öffentlichen Institutionen (Schule, Universität) ebenso gehören wie die von Personen, die das für eine Gemeinschaft relevante Wissen speichern. Schließlich ist die mentale Dimension von Erinnerungskultur zu beachten, die alle Schemata und Codes umfassen, die gemeinsames Erinnern ermöglichen (Ideen, Denkfiguren, Selbst- und Fremdbilder, vor allem Normen, Werte; vgl. Erll 2005). Es wäre nun möglich, ausgehend von literarischen Texten die Spezifik des 'kollektiven Gedächtnisses' in der DDR zu rekonstruieren. Dazu reicht bereits die reduzierte Raumdarstellung aus dem Johnson-Text. Erkennbar wird nämlich, in welchem Maße Rituale eine Rolle spielen (materiale und soziale Dimension), die Praktiken der Schule sind angedeutet (soziale Dimension), und ebenso ist indirekt etwas ausgesagt über die mentale Dimension. Erkennbar ist nämlich, welche Bedeutung bestimmte Personen haben, wie mit ihnen umgegangen wird (Stichwort: Stalin), welche Werte und Normen im 'kollektiven Gedächtnis' gesetzt werden (Schultribunal). Nicht zuletzt gibt der Text Auskunft darüber, wie der Erzähler dazu in Distanz steht. Freilich ist klar, dass nur eine konzise Textanalyse es möglich machte, exakt die drei Dimensionen zu erfassen, die das 'kollektive Gedächtnis' der DDR konturieren. Dazu ist hier nicht der Platz, und daher mache ich einen anderen Vorschlag, mit dem es möglich wird, bereits aus den zitierten Textelementen die Spezifik des 'kollektiven Gedächtnisses' in der DDR abzuleiten. Zu diesem Zweck gehe ich davon aus, dass das 'kulturelle Gedächtnis' geprägt wird durch drei Formen der Vermittlung: a) die narrative, b) die ikonische und c) die rituelle Form (vgl. Münkler 1997).

Zunächst fällt an Johnsons Darstellung auf, wie bedeutsam für das 'kulturelle Gedächtnis' in der DDR ikonische Zeichen sind und wie der öffentliche Raum unübersehbar mit Spruchbändern, Losungen, Schrifttafeln, Parolen, Hinweisschildern semiotisch aufgeladen ist. Johnsons Darstellung zeigt darüber hinaus, wie über narrative Formen (Geschichtsdarstellungen, politische Texte, Losungen) das ''kollektive Gedächtnis' geformt wird (Karl Marx, Goethe, Stalin, der Wolga-Don-Kanal). Dies ist auf der Darstellungsebene, also der Textoberfläche, fixiert.

Darüber hinaus wird in den zitierten Textausschnitten bereits erkennbar, dass es so etwas gibt wie eine Art Gegen-Gedächtnis, ein inoffizielles Gedächtnis, einen Gegen-Diskurs. Der Erzähler arbeitet nämlich mit subversiven Mitteln, die zeigen, wie brüchig das öffentlich vermittelte Bild ist. So liest Jürgen das Spruchband "mechanisch". Die unendlich oft gelesenen Parolen sind tot, gleichermaßen sinnentleert wie phrasenhaft. Zudem funktioniert die Sprache als drohende Attitüde, denn militant ist vom KAMPF, die Rede, womit das Ziel "FÜR FRIEDEN UND EINHEIT" bereits in Frage gestellt ist. Und in der Tat werden in der neuen Schule nicht Frieden und Einheit gestiftet, sondern Ausgrenzung und Verrat. Auch die Losung des Schultribunals offenbart im voraus, was geschehen wird (REINIGT UNSERE REIHEN VON DEN FEINDEN UNSERER DEMOKRATISCHEN ORDNUNG). Doch der Satz des Erzählers: "Der siebenunddreißigste Buchstabe hing schief", dekonstruiert die demokratische Ordnung und provoziert den Leser zum Nachzählen. Das Sprachklischee zerfällt in Einzelbuchstaben und erhält eine neue und über sich hinausweisende Bedeutung: das erste "E" in "Reihen", das "schief (hing)", kündet davon, wie brüchig eine Gemeinsamkeit ist, in der die freie Meinungsäußerung den staatlich verfügten Ausschluss aus der Gruppe nach sich zieht.

Bislang habe ich mit Hilfe von Johnsons Text die Bedeutung von a) narrativen und b) ikonischen Zeichen für das kulturelle Gedächtnis angedeutet, es fehlt noch die Rolle der rituellen Formen. Johnsons "Jahrestage" bieten reichlich Material dazu, ich möchte aber eine andere Autorin einbeziehen, damit auf eine andere Textsorte Bezug nehmen und in die DDR der 1960-er Jahre wechseln:

"Hoy, 3. Mai 1964

Am 1. Mai haben wir uns den Festumzug von Jons Fenster aus angesehen. [...] - denn die Tribüne befindet sich direkt gegenüber Jons Fenster, am Rande des scheußlichen Aufmarschplatzes. Von hoch oben, aus dem 7. Stock, sah der Umzug ganz heiter und feierlich und bunt aus: die Bergmannsuniformen, die FDJ-Hemden, Sport-Jerseys, Volkstrachten, die Schalmeien-Kapelle und Fanfarenzüge (die ich noch immer nicht hören mag) - [...] und ich staunte, wie viele Leute schon in unserer Stadt wohnen. Von unten, zu ebener Erde, sieht die Welt sich freilich anders an: Dieter, der auf der Tribüne gestanden hatte, kam nachher zu uns rauf, um einen Kaffee zu trinken, und erzählte, mit wie mürrischen Mienen die Leute vorbeigelatscht seien."

Der Ausschnitt stammt aus Brigitte Reimanns Tagebüchern, die von Interesse sind, wenn es um das 'kollektive Gedächtnis' in der DDR geht. Das Beispiel des 1.Mai zeigt, wie über Demonstrationen, Paraden, Aufmärsche das 'kollektive Gedächtnis' durch rituelle Formen geprägt wird. In beständiger Wiederholung und im genau geplanten Rhythmus werden ganz bestimmte Inhalte (Schemata, Codes, Werte, Normen) in die Erinnerung der Gemeinschaft eingespeist. Zusammenfassend kann fixiert werden, dass nur durch die Verbindung von narrativer, ikonischer und ritueller Form das 'kollektive Gedächtnis' umfassend geprägt werden konnte und sich die drei Formen wechselseitig ergänzten. Es ist ein Thema für sich, die Frage zu beantworten, auf welche Weise literarische Texte das staatlich verfügte 'kollektive Gedächtnis' stützten.

An dieser Stelle nun erscheint es notwendig, den Begriff des 'kollektiven Gedächtnisses' zu präzisieren, weil nur dann die DDR-Spezifik erkennbar wird: Der Begriff 'kollektives Gedächtnis' wird mit Recht als eine Art 'Oberbegriff' gebraucht.Ausgehend davon unterscheiden Aleida und Jan Assmann zwei Gedächtnis-Rahmen, nämlich das 'kommunikative Gedächtnis' und das 'kulturelle Gedächtnis'. Dieser Unterscheidung liegt die Überlegung zugrunde, dass es einen Unterschied ausmacht, ob das 'kollektive Gedächtnis' auf der Alltagskommunikation basiert oder auf der Grundlage von offiziellen symbolischen Gütern, Kodierungen, Objektivationen. Während also das 'kommunikative Gedächtnis' gespeist wird durch Gespräche mit Freunden, Erfahrungen in der Familie oder der Gruppe ist das 'kulturelle Gedächtnis' gebunden an "feste Objektivationen", es ist offiziell gestiftet, und es transportiert einen "festen Bestand" an Inhalten und Sinngebungen. Jan Assmann fasst unter dem Begriff 'kulturelles Gedächtnis' "den in jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und -Riten [...], in deren 'Pflege' sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewusstsein von Einheit und Eigenart stützt".

In Hinblick auf die DDR ist nun davon auszugehen, dass ein Widerspruch existiert zwischen dem 'kommunikativen' und dem 'kulturellen Gedächtnis'. Um dies anschaulich zu machen, nutze ich wiederum einen literarischen Text, in diesem Fall einen autobiographischen. In seiner "Zwischenbilanz" (1992) hinterfragt Günter de Bruyn den Grund, warum der "Macht adelnde Antifaschismus", diese Gründungserzählung der DDR, den "einzigen Bestandteil der verordneten Lehre" bildete, "der der eigenen Meinung entsprach":

"Da aber diese Meinung", so de Bruyn, "sich bei den meisten von uns erst durch den Krieg und nach Hitler gebildet hatte, fühlten wir uns mehr oder weniger mit Schuld beladen und glaubten den Emigranten und Widerstandskämpfern gegenüber zu Ehrfurcht verpflichtet zu sein: in diesem Punkt war man moralisch erpressbar. Die Kritik an Verblendung und Intoleranz war getrübt von schlechtem Gewissen. Denn die eifernde Schulleiterin hatte unter Hitler im Gefängnis gesessen, der dogmatische und gebildetste der Dozenten war ein Emigrant gewesen - man selbst aber hatte unter Hitler gedient."

Günter de Bruyns Erinnerung ist in mehrfacher Hinsicht von Interesse: Erstens finden wir hier einen Hinweis darauf, welches die konsensbildende Gründungserzählung der DDR war, es war dies - in Absetzung zur Bundesrepublik - der Antifaschismus. Zweitens zeigt sich, dass dieser Gründungsmythos gerade nicht im 'kommunikativen Gedächtnis', also in der Alltagskommunikation verankert war, denn die Masse der Deutschen in Ost und West konnte für sich keinen Widerstand gegen Hitler reklamieren. Aus diesem Grund musste schon bald nach 1945 die These von der Kollektivschuld der Deutschen im Osten fallen gelassen und durch eine Position von Georgi Dimitroff aus den 30-er Jahren ersetzt werden, wonach der Faschismus die "offene terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals" ist. Eine solche Argumentation entlastete die vielen Mitläufer. Da aber diese Erinnerung kommunikativ nicht vermittelbar war, mithin keine Grundlage in der Alltagskommunikation hatte, bedurfte sie der beständigen Vermittlung durch narrative, ikonische und rituelle Formen, um im 'kulturellen Gedächtnis' festgeschrieben zu werden.

Unter Bezug auf Pierre Nora wird man verallgemeinernd sagen können, dass in den Ländern des Real-Sozialismus Erinnerung ins Sakrale gerückt wurde. Das Lenin-Mausoleum in Moskau oder die lang anhaltende Stalinverehrung waren der Versuch, durch Musealisierung und Kult um eine Person diese im kulturellen Gedächtnis zu halten und vor der "Entzauberung", die kritische Analyse voraussetzte, zu bewahren. Von 1949 an wurden über Symbole, Wimpel, Plakate, Abzeichen, Fahnen, Spruchbänder; Denkmäler und Mahnmale; Demonstrationen und Gedenkveranstaltungen ganz spezifische Inhalte in das 'kulturelle Gedächtnis' implantiert und dort konserviert.

Ich komme damit zum zweiten Teil des Beitrags, zum Verhältnis von Speicher- und Funktionsgedächtnis in der DDR und beginne erneut mit einem Textausschnitt. Es geht um Erich Loests für die DDR-Literatur wichtigen Roman "Es geht seinen Gang oder Mühen in unserer Ebene" (1978), der nach der 2. Auflage in der DDR der Zensur zum Opfer fiel.


Vom Speicher- und Funktionsgedächtnis oder Wächter der Erinnerung

Der Ich-Erzähler, der den bezeichnenden Namen Wolfgang Wülff trägt, erinnert in der DDR der 1970-er Jahre seine Jugend und erzählt über seinen scheinbar unspektakulären Alltag, der in monotonen Bahnen verläuft. Mit dem blinden Wilfried gerät er an einen fast geheimnisvollen Ort, den das erzählende Ich so erfasst:

"Nachmittags stieg ich mit Wilfried in den Giftturm hinauf, zuletzt wanden wir uns auf einer steilen stählernen Wendeltreppe himmelwärts, wo nur für einen schlanken Menschen Platz war [...] Oben klopfte Wilfried an eine eiserne Tür, Schlüssel rasselten, die Tür wurde geöffnet, keine junge Dame bediente hier wie hinter allen anderen Schaltern der DB (Deutschen Bücherei - C.G.), sondern ein stämmiger Mann, er trat keineswegs zur Seite, sondern schaute uns wachsam an, Wilfried Neuker, den er augenscheinlich kannte, und mich, den er keineswegs kannte. 'Ich habe allerlei bestellt', sagte Wilfried. 'Guten Tag.' 'Guten Tag', erwiderte der Stämmige mit einem Gesicht und einer Stimme und ließ uns ein mit einer Bewegung, als wären wir verdächtige Individuen, die sich unter einem Vorwand hier einschlichen, um verbotene Frucht zu naschen. Wilfried nannte die genaue Bezeichnung seines Instituts. Der Zerberus über geistigen Unrat und Unflat, über Lüge und Hetze forschte in einer Mappe, fand ein Schreiben, schob die Brille hoch und stellte fest: 'Geht in Ordnung.' Ein Blick traf mich, da sagte ich schülerbrav: 'Ich lese Herrn Neuker vor.'"

Bei jenen, die in der DDR sozialisiert wurden, werden Wiedererkennungseffekte einsetzen, denn Erich Loest lässt seinen Ich-Erzähler hintergründig vom Gang in den "Giftturm" der Deutschen Bücherei berichten, jenen Ort, für den strenge Sonderregelungen galten. In den Räumen "über allen Dächern der Deutschen Bücherei" war nämlich die so genannte Kontingentliteratur archiviert, die nur mit einer Sondergenehmigung eingesehen werden durfte. Hier fanden sich von Trotzki bis zu Solschenizyn, von SPIEGEL bis FAZ Autoren, Zeitschriften und Texte, von denen staatliche Instanzen annahmen, dass sie nicht in das 'kulturelle Gedächtnis' gehörten, weil sie andere als die 'offiziell verfügten Werte, Normen, Codes, Schemata transportierten und in der Lage waren Gegen-Erinnerungen zu stärken.

Gedächtnistheoretisch steht der "Giftturm" der Deutschen Bücherei damit für eine Unterscheidung von Aleida Assmann. Sie hat vorgeschlagen, den Pol des Erinnerns in zwei verschiedene Modi aufzuteilen, die sie als Funktions- und Speichergedächtnis voneinander scheidet. Unabhängig von der nicht durchgängig schlüssigen Argumentation bei Assmann kann man annehmen, dass das, was von einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt ausgeblendet, abgewiesen, ausgemustert oder verworfen wurde, keineswegs gänzlich verloren bzw. vergessen ist. Es kann sehr wohl in materiellen Spuren gesammelt, aufbewahrt und einer späteren Epoche zugeführt werden, in der es dann neu gedeutet wird. Dies geschieht im Speichergedächtnis, das darum durch die Handlungen des a) Aufhebens, b) des Konservierens, c) des Ordnens und d) des Katalogisierens gekennzeichnet ist. Im Unterschied dazu umfasst der Modus des Funktionsgedächtnisses die Handlungsrollen der a) Auswahl, b) der Vermittlung, c) der Animation und d) der Aneignung durch individuelle Gedächtnisse.

Wenn das so ist, dann sollte man - anders als Assmann - davon ausgehen, dass das Funktionsgedächtnis dem Speichergedächtnis gewissermaßen vorgeschaltet ist. Es sind nämlich die Koordinaten des 'kulturellen Gedächtnisses', die dort verankerten Normen, Werte, Gründungsmythen wie die Struktur des Funktionsgedächtnisses, die darüber entscheiden, was zu einem 'Wiedergebrauchs-Text, -Bild oder -Ritual' wird und was im Speichergedächtnis vergessen und verschlossen bleibt.

Erich Loests Protagonist führt den Leser also in einen Raum des Speichergedächtnisses, in ein verschlossenes Archiv, in dem Texte, die im Funktionsgedächtnis als "geistiger Unrat und Unflat", als "Lüge und Hetze" gelten, gesammelt werden. Loests Episode unterstreicht, dass das Funktionsgedächtnis auch in der DDR nach drei Prinzipien funktioniert: a) dem der Legitimation, b) dem der Delegitimation und c) dem der Distinktion. Legitimiert wird all das, was sich für das 'offizielle', das 'kulturelle Gedächtnis' in der DDR eignet und den Zusammenhalt der DDR-Gemeinschaft befördert. Delegitimiert wird das, was in der Lage ist, die im 'kulturellen Gedächtnis' gesetzten Werte und Normen zu gefährden. Distinktion schließlich meint jene gemeinschaftsbildenden Maßnahmen, in denen durch rituelle Formen die gemeinsame Erinnerung befördert wird. Während also die im Speichergedächtnis aufgehobenen Überreste durch verhinderte Erinnerung fremd und unverständlich werden, sind die im Funktionsgedächtnis aufgehobenen Artefakte gegen einen solchen Prozess des Vergessens und Fremdwerdens geschützt. Sie werden durch das Verfahren der Auswahl und Wertzuschreibung beständig gestützt und durch Kanonisierung ins 'kulturelle Gedächtnis' befördert. Die Spannung, die zwischen Funktions- und Speichergedächtnis in jeder Gesellschaft existiert, lässt Schlussfolgerungen über die Struktur von Gesellschaft wie den Status des 'kulturellen Gedächtnisses' zu

Auch in der DDR bildete das Speichergedächtnis eine Art Reservoir für das Funktionsgedächtnis. Um ein Beispiel zu geben: Literarische Strömungen wie die Romantik oder die Moderne des 20. Jahrhunderts (insbesondere der Expressionismus) wurden im Rahmen eines engen Realismus-Konzepts zunächst aus dem Funktionsgedächtnis ausgeschlossen und im Speichergedächtnis abgelegt, erst sukzessive erfolgte ihre Aufnahme ins 'kulturelle Gedächtnis'. Dazu war es notwendig, die Autoren wie Texte durch Interpretationen anschlussfähig an Werte, Normen, Codes zu machen. In diesem Fall war also die Grenze zwischen Funktions- und Speichergedächtnis durchlässig. Gleichwohl muss konstatiert werden, dass von 1949 bis 1989 die Grenze scharf bewacht und das latente Reservoir abgetrennt war, Alternativen, Widersprüche, Relativierungen, kritische Einsprüche blieben ausgesperrt, ein wirklicher Wandel des Funktionsgedächtnisses in der DDR kam nicht zustande, weil ganz bestimmte Inhalte verabsolutiert wurden. Insofern gilt für die DDR, was für totalitäre Staaten schlechthin zutrifft: Sie eliminieren das Speichergedächtnis zugunsten des Funktionsgedächtnisses. Dies kann - wie in der Sowjetunion unter Stalin - bis zum Versuch der Zerstörung des Speichergedächtnisses gehen. "Nicht zufällig, so Jurij M. Lotmann, "erfolgt jede Zerstörung von Kultur als Vernichtung von Gedächtnis, als Tilgung von Texten, als Vergessen von Zusammenhängen." Was Lotmann hier meint, ist das Speichergedächtnis.

Kennzeichnend für Diktaturen ist auch der Umstand, dass das 'kulturelle Gedächtnis' nur so lange existiert, wie die "Macht von Dauer ist". Dieser Umstand wird in den Diskussionen um die DDR nach 1989 mitunter als 'Verlust' bezeichnet. Denn in der Tat: Mit dem Vergehen der DDR ist auch das auf Zensur wie künstliche Animation angewiesene 'kulturelle' bzw. 'offizielle Gedächtnis' verschwunden. Geblieben allerdings ist das durch Alltagskommunikation gespeiste 'Kommunikative Gedächtnis'. Man kann es mit Ulrich Plenzdorf pointiert auch so sagen: "Daß die DDR tot ist, das ist Legende. Alle diese Leute, die DDR waren, leben noch." Dass diese Leute, von denen Plenzdorf spricht, wiederum verschiedene 'Erinnerungsgemeinschaften' bilden können, versteht sich von selbst. Die aktuellen Diskussionen über den Film "Das Leben der Anderen" zeigen, in welcher Weise jene, die die im Film geplanten 'Zersetzungsmaßnahmen' in der Realität geplant haben, nunmehr den Anspruch stellen, recht gehandelt zu haben.

Nun wird man dem schwerlich folgen wollen, gleichwohl sei auf ein anderes Problem aufmerksam gemacht: das neue Verhältnis von Funktions-Speichergedächtnis nach 1989 und der Umstand, dass nunmehr Gegen-Erinnerungen, das bis dahin Verschwiegene, Zensierte und Verbotene, ins Funktions- wie ins 'kulturelle Gedächtnis' aufsteigen kann, bedeutet nicht, dass dies gewissermaßen automatisch und im Selbstlauf geschieht. Aus diesem Grund ist das Vorhaben von Joachim Walther und Ines Geipel nicht hoch genug zu bewerten, ein 'Archiv unterdrückter Literatur in der DDR' anzulegen. Hier finden sich Stimmen aus dem Gegen-Gedächtnis, und durch die Edierung in der 'Verschwiegenen Bibliothek' besitzen diese Texte die Chance in das 'kulturelle Gedächtnis' integriert zu werden.


Kanonisierung und 'kulturelles Gedächtnis'

Ich komme damit zum dritten Teil, zum Zusammenhang von Kanonisierung und 'kulturellem Gedächtnis'. Vorab möchte ich den bisherigen methodologischen Ansatz zusammenfassend skizzieren. Bislang wurden aus literarischen Texten Aussagen über das 'kulturelle Gedächtnis' in der DDR gewonnen. Es ging also um das "innerliterarische Gedächtnis", das Gedächtnis der Literatur. Oder anders gesagt, es ging um das 'Symbolsystem Literatur', simpel gesagt: Es geht um die Texte selbst. Ich habe seit Mitte der 1990-er Jahre vorgeschlagen, das Literatursystem - nicht nur in der DDR - auf Grundlage eines systemtheoretischen Ansatzes zu modellieren und im Sinne von Siegfried J. Schmidt zu unterscheiden zwischen a) Literatur als Symbolsystem und b) 'Literatur als Handlungs- bzw. Sozialsystem'. In dem Fall, da man Literatur als Handlungssystem entwirft, kommt es zu einer interdisziplinären Weitung durch sozialgeschichtliche Dimensionen sowie zum Aufsprengen der Textlastigkeit. Zudem geht es immer um auf Literatur bezogene Handlungen, konkret um jene vier elementaren Handlungsrollen, die die Struktur des Handlungssystems Literatur ausmachen: literarische Produktion (Autor), Vermittlung (Verleger, Lektoren, Lehrer, Kritiker), Rezeption (Leser) und Verarbeitung (Kritiker). Von literarischen Handlungen ist bislang nur indirekt die Rede gewesen, da Termini wie 'kulturelles Gedächtnis', 'kollektives Gedächtnis', Speicher- und Funktionsgedächtnis eher das Ergebnis und eine Struktur markieren und nicht den Prozesscharakter ausdrücken. Aber völlig zu Recht wird betont, dass in archaischen wie modernen Gesellschaften Kanonisierungprozesse entscheidend für die Herausbildung eines 'kulturellen' bzw. 'kollektiven Gedächtnisses' sind. Eben darum kommt man mit Blick auf das 'kulturelle Gedächtnis' in der DDR nicht umhin danach zu fragen, wie Kanonisierungsvorgänge funktionierten und welchen Anteil daran Lektoren, Verleger, Kritiker, Literaturwissenschaftler hatten.

Ich habe in diesem Rahmen betont, dass der Kanon keineswegs - wie dies der Begriff "materialer Kanon" nahe legen könnte - eine naturgegebene Größe ist, vielmehr müssen Kanones als "Produkte sozialer Handlungen" aufgefasst werden,"derenEntstehungs- und Tradierungsmechanismen zu untersuchen und kritisch zu hinterfragen" sind. Entsprechend kann man sagen: Das kulturelle Gedächtnis ist Produkt sozialer Handlungen. Für die DDR lässt sich sagen, dass Kanon-Entscheidungen Ergebnis von mitunter komplizierten Aushandlungsprozessen auf verschiedenen Ebenen waren: Verlag, Lektor, Ministerium für Kultur. Doch dies gilt allerdings nur für jene Texte, die bereits die Schwelle der Begutachtung erreicht hatten. Was aber ist mit jenen, deren Autoren vorher 'zersetzt' wurden oder die der Selbstzensur zum Opfer fielen? Werfen wir aber nun einen Blick auf die 'offiziellen' Instanzen des Literatursystems und gehen zurück an den Beginn der DDR.


Das Amt für Literatur und Verlagswesen

Für das Literatursystem DDR wurden vom System Politik frühzeitig Instanzen geschaffen, die für Kanonisierungshandlungen verantwortlich waren und somit Verantwortung trugen für das, was mit Hilfe von literarischen Texten im kulturellen Gedächtnis tradiert wurde. Bereits in der Gründungsverordnung des Amtes für Literatur und Verlagswesen von 1951 war normierend "die Anleitung des gesamten Buchhandels der DDR zur Sicherung der Versorgung der Bevölkerung mit fortschrittlicher Literatur" gefordert (vgl. Gansel 1996). Um diese 'fortschrittliche Literatur' zu befördern und andere auszusondern, gliederte sich das Amt in zwei Hauptabteilungen, zwei selbständige Abteilungen und innerbetriebliche Abteilungen. Die Abteilungen wiederum waren unterteilt in Hauptreferate, Referate, Hauptlektorate und Lektorate.

In diesem Rahmen sei lediglich die erste Abteilung skizziert, weil sie für den Prozess von Kanonisierung und das 'kulturelle Gedächtnis' die maßgebliche Rolle spielte. Dabei handelt es sich um die Hauptabteilung Inhalts-Kontrolle und -Begutachtung. Allein die Bezeichnung der Behörde unterstreicht, in welcher Weise die Kanonisierung funktionierte und welches allgemeine Kriterium als maßgeblich galt: die Inhalts-Kotrolle. Die Aufgabe bestand darin, die "Entscheidungsunterlagen für die Druckgenehmigung" auszuarbeiten sowie "gutachterliche Stellungnahmen" zu erstellen. Des Weiteren kam dieser Abteilung die Beratung der Verlagslektorate zur "Verbesserung der Manuskriptbearbeitung" und die Schulung der Verlagslektoren zu. Darüber hinaus war die Hauptabteilung verantwortlich für die "Durchführung schwerpunktmäßiger Analysen" auf den Gebieten der Literatur und der Zeitschriften. Sie hatte die "thematischen Entwicklungspläne" der verschiedenen Literaturgebiete zu koordinieren und diese zu einem "zentralen Literatur-Entwicklungsplan" zusammenzuführen. Es waren 40 Verlage mit belletristischer Orientierung zu "betreuen". Jährlich war der enorme Umfang von 3000 Manuskripten wissenschaftlicher Literatur sowie von 5000 Manuskripten künstlerischer Literatur zu begutachten. Daneben analysierte und koordinierte diese Abteilung 70 Zeitschriften mit künstlerischen Schwerpunkten.

Neben den allgemeinen Funktionen hatte die Hauptabteilung "Inhalts-Kontrolle und -Begutachtung" so genannte "Sonderaufgaben" zu erfüllen. Die Frage der Begutachtung stellte sich als ein schwieriges Problem dar: Eindeutige Kriterien existierten nicht, vielmehr waren sie von den wechselnden politischen und ideologischen Positionen abhängig. So wurde im April 1952/53 im Rahmen des Friedenskampfes die "Ausmerzung pazifistischer Tendenzen" (in Texten) vorgeschrieben. Wichtige Kriterien lieferte beispielsweise auch eine auf den 24. Februar 1953 datierte "Liste von Agenten imperialistischer Mächte", die das Amt für Literatur erstellt hatte. Es handelte sich hier um Personen, die während der stalinistischen Schauprozesse als vermeintliche Agenten "entlarvt" worden waren, also z.B. Rudolf Slansky. Dazu hieß es: "Werke solcher Agenten müssen aus unserer Literatur ausgemerzt werden." (Vgl. Gansel 1996) Es bedarf an dieser Stelle keines Kommentars mehr, welche Konsequenzen sich aus derartigen Vorgaben für das 'kulturelle Gedächtnis' in der DDR ergaben. Um zu zeigen, was vom Funktionsgedächtnis ausgesondert, was ins Speichergedächtnis verwiesen und welche Teile zerstört wurden, mögen zwei Beispiele genügen, die exemplarisch sind. Das erste Beispiel: Am 10. Dezember 1956 notiert die erst 23-jährige Brigitte Reimann in ihrem Tagebuch:

"Am letzten Abend erfuhren wir durch das Radio, daß Dr. Harich verhaftet worden ist. Ich dachte, die ganze Literaten-Gruppe, zu der er gehörte, sei aufgeflogen. [...] Wir waren verrückt vor Angst und Zorn [...] Die Gruppe ist illegal. Der Geist bei uns lebt illegal - Herrgott, ist das eine Welt!"

Die Reimann konnte damals nicht wissen, dass zum Harich-Komplex schon bald ein 89-seitiger Bericht des Ministeriums für Staatssicherheit über die "Analyse der Feindtätigkeit innerhalb der wissenschaftlichen und künstlerischen Intelligenz" vorliegen würde. Der Bericht zeigt, nach welchen Prinzipien das 'kulturelle Gedächtnis' in der DDR Mitte der 1950-er Jahre konstruiert wird. In Verbindung mit der vermeintlichen politisch-ideologischen Konzeption der Gruppe verweist der MfS-Bericht auf den engen Zusammenhang zu den "konterrevolutionären Ereignissen in Ungarn" und "zahlreiche negative Einflüsse ideologischer Art von Personenkreisen aus Jugoslawien und Polen". Empört wird die Kritik der Gruppe an einer einsetzenden antifaschistischen Mythenbildung sowie den Folgen des Stalinismus in der Sowjetunion abgewiesen. Als besonders infam wertet das MfS die Forderung "nach völliger Meinungsfreiheit, d.h. nach der Freiheit für alle und jeden, in Wort, Schrift und Bild, in Versammlungen, in der Presse, im Rundfunk usw. das zu sagen, was er persönlich für richtig hält und was notwendigerweise den Prozess der Aufweichung und Zersetzungen beschleunigen und damit die günstigen Voraussetzungen zum konterrevolutionären Umsturz schaffen würde". Resümierend heißt es: "Die Forderung nach Äußerung der freien Meinung ist offensichtlich die Forderung nach Eröffnung der Fehlerdiskussion." Es dürfte außer Frage stehen, welche Begrenzungen ein 'offizielles' 'kulturelles Gedächtnis' aufweist, das durch derartige Normen, Werte, Kanonisierungen bestimmt wird. Daher erscheint es dringend angeraten, ein Urteil zu revidieren, dass behauptet, in der DDR habe es keine durchgängige Zensur gegeben. In diesem Fall geraten nämlich nur jene Manuskripte in den Blick, die bereits auf Verlagsebene angekommen und in den Kreislauf der Begutachtung bzw. Druckgenehmigung geraten waren. Auf der Schwelle darunter allerdings ging es keineswegs so 'abenteuerlich' zu, wie manche meinen, weil die Hüter des 'kulturellen Gedächtnisses' - in der DDR kam der Institution Staatssicherheit eine entscheidende Aufgabe zu - bereits vorher zugriffen. Nun könnte man meinen, dass es seit 1956 Veränderungen gegeben hat. Das ist nicht zu bestreiten, nur blieben die Grundbedingungen für die Tradierung des 'kulturellen Gedächtnisses' erhalten.

Aus diesem Grund seien exemplarisch und abschließend an einem zweiten Beispiel Konstanten des Handlungssys tems Literatur anschaulich gemacht. Zum 30. Geburtstag der DDR 1979 - also nach der Biermann-Ausbürgerung - hatte das MfS wiederum über eine Vielzahl von IM eine "Information" zu "Problemen der Arbeit belletristischer Verlage in der Hauptstadt der DDR" zusammengetragen. In dem Bericht wird u.a. moniert, dass wiederholt "nicht ausgereifte Titel übereilt in die Verlagsprogramme aufgenommen wur den", weil Lektoren nicht hinreichend "ihrer Pflicht und ihrem Recht" nachgekommen seien, "Autoren zu bestimmten Überarbeitungen zu veranlassen". Auf den 5. Oktober 1979 ist ein Bericht datiert, der den Titel trägt "Reaktionen und Meinungsäußerungen feindlich-negativer Schriftsteller und weiterer politisch-operativ interessierender Personen". Er fasst Informationen eines Spitzen-IM der Hauptabteilung XX/7 zusammen, nämlich Informationen des IM "Dichter", also des Lyrikers Paul Wiens. Darin wird nach dem P.E.N.-Weltkongress in Rio de Janeiro u.a. eine Information zu Klaus Schlesinger gegeben, der beim Hinstorff-Verlag Rostock ein Manuskript mit dem Titel "Kalt in Deutschland" abgegeben habe. Nach der "inoffiziellen Einschätzung" des Manuskripts werden u.a. folgende Hinweise gegeben:

"Negative Aussagen beziehen sich des weiteren auf einen bis zum Selbstmord führenden Konflikt eines Oberschülers, der Fragen nach den Ursachen des Verschwindens Trotzkis aus der offiziellen Geschichtsschreibung gestellt hatte, auf eine Nachricht von einer gegen Kriegsende erfolgten Vergewaltigung einer Frau durch sowjetische Soldaten sowie auf die Schilderung der Inhaftierung eines 50jährigen Mannes, der aus der DDR ausreisen will, weil der die Zustände in der DDR nicht mehr ertragen könne."

Der Cheflektor des Hinstorff-Verlages würde versuchen, Schlesinger zu veranlassen, die Passagen mit Trotzki und die Vergewaltigungsszene aus dem Manuskript zu nehmen.

Ich komme damit zum Schluss und behaupte, dass in der DDR bis 1989 kein Manuskript zum Buch wurde, das in der Lage war, das 'kulturelle Gedächtnis' ernsthaft zu irritieren. Insofern war die Kontrolle des 'kulturellen Gedächtnisses' - wie für Diktaturen kennzeichnend - total und konnte jeden treffen. Damit ist die Frage nach dem Gegen-Gedächtnis in der DDR gestellt, den Chancen, die es hatte ebenso wie nach den literarischen Ergebnissen. Günter de Bruyn hat rückblickend seinen Debüttext, den Kriegsroman "Der Hohlweg", als 'verlogen' und unwahr bezeichnet, weil er - wie man mit Uwe Johnson sagen könnte - die Geschichte für den Druck zurechtgelogen hatte. In seinem autobiographischen Band "Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht" stellt de Bryn selbstkritisch jene Blindstellen heraus, die im kulturellen Gedächtnis der DDR nicht auftauchen durften:

"Über Krieg und Nachkrieg zu schreiben, war in den fünfziger und sechziger Jahren, wenn man gedruckt werden wollte, nur mit Verschweigen und Lügen möglich; denn alles, was uns in diesen Jahren Angst gemacht hatte, war tabuisiert. Kein Sowjetsoldat durfte in Deutschland geplündert und vergewaltigt haben, kein nach dem Krieg Internierter in Buchenwald, Ketschendorf oder in Sibirien verendet sein. Von den deutschen Offizieren, die von den Amerikanern in die sowjetisch besetzte Zone entlassen und von den Russen sofort wieder gefangen und abtransportiert wurden, durfte ebenso wenig verlauten wie von den Opfern der Bauernvertreibung, von den Justizmorden in Waldheim, von der sogenannten Aktion Rose, die den Hotelbesitzern an der Küste gegolten hatte, oder von den hohen Gefängnisstrafen für kritische Worte oder einen politischen Witz."

Ein solcher Befund zum 'kulturellen Gedächtnis' in der DDR mag schmerzen. Wenn dem so ist, dann sollte man es vielleicht halten wie Uwe Johnson: "Gewiß", sagt er, "die DDR war eine Erfahrung, obendrein die einer juvenilen Periode. Aber die Erfahrung sollte nicht verkleinert werden durch die Tricks der Erinnerung. Es gibt da auch Dinge, die der Regen nicht abwäscht."


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Hinweis:

Auf Literaturverweise und Anmerkungen wurde aus Platzgründen weitgehend verzichtet. Dies betrifft auch Möglichkeiten der präzisierenden Unterscheidung in 'kollektives' und 'kulturelles Gedächtnis'. Der aktuelle Stand findet sich dann in der erweiterten Fassung des Beitrags. Die Ergebnisse der Tagung werden in Band 29 der Reihe des Soderforschungsbereichs "Erinnerungskulturen" bei Vandenhoeck & Rupprecht im ersten Quartal 2007 unter dem Titel "Gedächtnis und Literatur in den 'geschlossenen Gesellschaften' des Realsozialismus zwischen 1945-1989" erscheinen.


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LITERATUR

- Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: C.H. Beck 1999

- Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. München: C.H. Beck 1992.

- Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart, Weimar: Metzler 2005.

- Gansel, Carsten: Parlament des Geistes - Literatur zwischen Hoffnung und Repression (1945-1961). Berlin: Basis-Druck 1996.

- Gansel, Carsten: Für "Vielfalt und Reichtum" oder gegen "Einbrüche bürgerlicher Ideologie" und "liberalistische Erscheinungen? Zu Kanon und Kanonisierung in der DDR. In: Kanon und Kanonisierung in der DDR. In: Literarische Kanonbildung. Text + Kritik. Sonderband. Hrsg. von Heinz-Ludwig Arnold. München: edition text + kritik 2002, S. 233-258

- Gansel, Carsten (Hrsg.): Brigitte Reimann. Tagebücher 1955-1970. Eine Auswahl für junge Leser. Berlin: Aufbau-Verlag 2003.

- Münkler, Herfried: Das kollektive Gedächtnis der DDR. In: Dieter Vorsteher (Hrsg.): Parteiauftrag: Ein Neues Deutschland. Bilder, Rituale und Symbole der frühen DDR. München, Berlin: Koehler und Amelang 1997, S. 458 468.


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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. 1: Die Ossis mochten ihn, für viele Wessis wurde er zum verhassten Überbleibsel eines untergegangenen Staates: der Palast der Republik, in dem nicht nur die Sitzungen der Volkskammer stattfanden, sondern auch populäre Veranstaltungen der unterschiedlichsten Art.

Abb. 2: Zum 1. Mai veröffentlichten die Zeitungen immer Losungen. Waren es 99 oder 100? Jedenfalls waren sie säuberlich durchnummeriert. Einmal hängte einer in Jena ein Plakat ins Fenster: "Wie jedes Jahr zum 1. Mai/bin ich für Losung Nr. 2!" Er wettete, dass die Polizei binnen einer Stunde erscheinen und das Entfernen des Plakats fordern würde. Er gewann und öffnete, zurückgekehrt von einer zwölfstündigen Vernehmung, die gewonnene Flasche Sekt.

Abb. 3: Die ewige Flamme für die Opfer von Faschismus und Militarismus in der Neuen Wache - preußisch exakt bewacht.

Abb. 4: Heute bedauert so mancher, dass niemand mehr in Berlin einen ordentlichen Stechschritt beherrscht. Skater bereiten weit weniger Aufsehen.

Abb. 5a und b: Das Rondell am Hintereingang zum S-Bahnhof Schönhauser Allee ist frisch gepflastert und mit Pflöcken versehen - aber hat sich dadurch die Lebensqualität erhöht?

Abb. 6a und b: Der Kiosk an der Dänenstraße ist heute bunter - doch hat sich das Stadtbild dadurch verbessert?

Abb. 7a und b: In der Lottumstraße hingegen fallen außer den geputzten Fassaden nur die frisch gepflanzten Bäume auf.

Abb. 8: Unweit des heftig umstrittenen Platzes der Republik und des Berliner Doms haben die Gegner aller Paläste und Religionen eine Heimstatt gefunden: Karl Marx und Friedrich Engels werden in dem nach ihnen benannten Forum, einer kleinen Grünanlage, aufgestellt.

Abb. 9: Hinter dem S-Bahnhof Schönhauser Allee würde man kaum noch etwas wieder erkennen, hätte man der Eselsbrücke nicht das Geländer gelassen.

Abb. 10 (links): Die ruhmreiche Rote Armee besichtigt die kulturellen Sehenswürdigkeiten Dresdens. Der berühmte Fürstenzug scheint den Sowjetzug allerdings nicht sonderlich zu beeindrucken. - (rechts): Die heutigen Touristen sind da weitaus interessierter. Auch japanische Reisegruppen beehren die Stadt an der Elbe gern. Dresden ist fast ein Muss für jeden Deutschlandbesucher.

Die Fotos und Bildunterschriften sind dem Bildband "Gewendet - Vor und nach dem Mauerfall: Fotos und Texte aus dem Osten" von Harald Hauswald und Lutz Rathenow, Berlin 2006, entnommen.


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Prof. Dr. Carsten Gansel

Institut für Germanistik
Otto-Behaghel-Straße 10, Haus B
35394 Gießen
Telefon: 0641/99-29145
E-Mail: Carsten.Gansel@germanistik.uni-giessen.de

Carsten Gansel, Jahrgang 1955, von 1974 bis 1978 Studium der Germanistik, Slawistik und Pädagogik (Lehramt) sowie Forschungsstudium der germanistischen Literaturwissenschaft. 1981 Promotion. 1989 Habilitation. 1992 und 1993 Lehrstuhlvertretungen an den Universitäten Bielefeld und Frankfurt/M.; bis 1995 Wissenschaftlicher Oberassistent an der Universität Greifswald. Im WS 1994/95 Ruf auf die Professur für Didaktik der Deutschen Sprache und Literatur am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen. Prof. Gansel ist Mitglied des P.E.N., Vorsitzender der Jury zur Verleihung des Uwe-Johnson-Förderpreises und Sprecher des Kuratoriums und Mitglied der Jury zur Verleihung des Uwe-Johnson-Preises. Er ist seit 1992 Mitherausgeber des Internationalen Uwe-Johnson-Forums (Frankfurt/M., Berlin, New York), Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat der Arbeitsstelle für Lessing-Rezeption sowie Sprecher der Sektion 2 (Medienpädagogik) des Zentrums für Medien und Interaktivität (ZMI) der Universität Gießen. Leitung der germanistischen Institutspartnerschaft zum Germanistischen Institut der Universität Zielona Góra (Polen). Schwerpunkte in Lehre und Forschung: Publikationen zur deutschen Literatur insbesondere des 19.-21. Jahrhunderts, zur Theorie und Geschichte der Literatur, Literatur- und Mediendidaktik, Literaturkritik, System- und Modernisierungstheorie, Kanonforschung, Popkultur, Adoleszenz- und Jugendforschung sowie zur Theorie und Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur. Untersuchungen zu ausgewählten Autoren u.a. zu G.E. Lessing, H. Hesse, E. Kästner, B. Brecht, J. R. Becher, Ch. Wolf, U. Johnson, J. Becker, B. Reimann, St. Heym und Ch. Hein.


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Quelle:
Spiegel der Forschung Nr. 1/2 - November 2006, S. 48 - 59
Wissenschaftsmagazin der Justus- Liebig-Universität Gießen, 23.
Jahrgang
Herausgeber: Der Präsident der Justus-Liebig-Universität Gießen
Redaktion: Pressestelle, Ludwigstraße 23, 35390 Gießen
Tel.: 0641/99-12040, Fax: 0641/99-12049
E-Mail: pressestelle@uni-giessen.de
Internet: http://www.uni-giessen.de
http://geb.uni-giessen.de/geb/portal/spiegel-der-forschung/


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Mai 2007