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BERICHT/074: Warum "Der Struwwelpeter" bis heute ein Besteller ist (idw)


Goethe-Universität Frankfurt am Main - 20.04.2009

Warum "Der Struwwelpeter" bis heute ein Besteller ist


FRANKFURT. Kein Bilderbuch der Welt weist eine solch internationale Karriere auf wie "Der Struwwelpeter" von Heinrich Hoffmann. In seinen Lebenserinnerung schreibt der Frankfurter Arzt und Autor, dessen 200. Geburtstag in diesem Sommer in Frankfurt gefeiert wird: "Der Schlingel hat sich die Welt erobert, ganz friedlich, ohne Blutvergießen.." Prof. Hans-Heino Ewers, Direktor des Instituts für Jugendbuchforschung der Goethe-Universität, beleuchtet in der soeben erschienenen Ausgabe von "Forschung Frankfurt", wie die Geschichten dieses Klassikers zu einem populären Mythos geworden sind und welche vielfältigen Interpretationen sie zulassen.

Auch Erwachsene werden von diesem einzigartigen Werk angezogen, das inzwischen in über 40 Sprachen und 50 Mundartversionen vorliegt, seine phänomenale Wirkungsgeschichte beschäftigt Medizin- und Literaturhistoriker, Erziehungswissenschaftler und Psychoanalytiker, wie auch die jüngste Ausgabe des Frankfurter Wissenschaftsmagazins zeigt.

Hoffmanns Blick auf Kinder aus seiner ärztlichen Perspektive hebt sich von der Verniedlichung der Kindheit im Biedermeier deutlich ab. Dazu Ewers: "Für Hoffmann waren undisziplinierte, unbeherrschte, triebgesteuerte, kurz: unartige Kinder etwas völlig Normales. Kinder deshalb zu bewundern oder gar zu Revoluzzern zu erklären, lag Hoffmann dabei gänzlich fern; man musste ihnen im Gegenteil beibringen, mit den eigenen impulsiven Regungen, mit ihren Aggressionen, ihrer Leichtsinnigkeit und Unvorsichtigkeit fertig zu werden - und zwar um des eigenen Überlebens willen." Ewers ist der Auffassung, dass die Struwwelpeter-Geschichten nicht im eigentlichen Sinn moralisch sind, sie wollen vielmehr höchst elementare Verhaltensmaßregeln bieten und tun dies, indem sie warnen und sehr drastisch abschrecken.

Denn - so glaubte Hoffmann - nur so könnten die kindlichen Leser wirklich "frappiert" werden. Dabei greift er zeitgenössische Veränderungen des Alltagslebens auf, die neue Gefahrenquellen für Kinder bedeuteten. So wurde vermutlich die Paulinchen-Geschichte durch die Schwefelstreichhölzer inspiriert, die ab 1834 in Darmstadt produziert wurden und verheerender Brände verursachten. Doch werden die eher vordergründigen Erziehungsabsichten nicht auch durch die Lust an der dargestellten Ungezogenheit konterkariert und durch die karikaturistische Gestaltung dem Ernst moralischer Belehrung enthoben? Der Literaturwissenschaftler Ewers sieht in dieser Interpretation des Augsburger Literaturdidaktikers Kaspar Spinner ein der vielfältigen Wirkungspotenziale, die dieser Kinderbuchklassiker hervorruft.

Inzwischen gibt es verschiedene politische Struwwelpetriaden, die bekannteste ist die von Friedrich Karl Wächter von 1970. Ewers sieht bereits im Hoffmann'schen Original vielfältige Bezüge auf die politischen Verhältnisse der Entstehungszeit, des Vormärz und der 1848er-Revolution. Ist "Der Struwwelpeter" womöglich ein verkapptes politisches Traktat in Wort und Bild? Ist der Titelheld etwa als die Karikatur eines radikalen Achtundvierzigers zu lesen, von denen Hoffmann sich ein Stück weit distanzierte? Geht es in der Geschichte vom wilden Jäger, dem Hasen und dem Hasenkind um das Verhältnis von Adel, Bourgeoisie und Proletariat? Mit seinem satirischen "Handbüchlein für Wühler", 1848 unter dem Pseudonym "Peter Struwwel, Demagog" veröffentlicht, hat sich Hoffmann selber unter die Verfasser politischer Struwwelpetriaden begeben und damit nachträglich den verborgenen politischen Gehalt des Originals bekräftigt.

Weitere Informationen unter:
Wissenschaftsmagazin Forschung Frankfurt 1/2009 im Internet:
www.muk.uni-frankfurt.de/Publikationen/FFFM/2009/index.html


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Goethe-Universität Frankfurt am Main - 20.04.2009

Wie Heinrich Hoffmann gekonnt mit unbewussten Fantasien spielt

FRANKFURT. Warum übt die kurze Geschichte des Struwwelpeter, der seine Haarpracht und seine langen gefärbten Nägel trotzig zur Schau stellt, bis heute eine unmittelbare Faszination sowohl auf Kinder als auch auf Erwachsene aus? Prof. Marianne Leuzinger-Bohleber, Direktorin des Frankfurter Sigmund-Freud-Instituts, beleuchtet diese Faszination aus der Perspektive der Psychoanalytikerin und erklärt auch, warum sie den Struwwelpeter für eine ungeeignete Kinderlektüre hält - nachzulesen in ihrem Beitrag im soeben erschienenen Wissenschaftsmagazin "Forschung Frankfurt" 1/2009.

In den letzten 200 Jahren wurden die Struwwelpeter-Geschichten zu verschiedensten Zwecken eingesetzt: zur Entdeckung "normaler" kindlicher Widerspenstigkeit in der Zeit aufkommender bürgerlicher Emanzipation, im Dienste einer autoritären Erziehung in der Wilhelminischen Ära, zur Vorbereitung auf den Militärdienst während des Ersten Weltkriegs, als Symbol eines nicht bezähmbaren Revolutionärs, als sarkastische Propaganda gegen nationalsozialistische Ideologien oder schließlich zur aufgeklärten anti-autoritären Erziehung.

"Heinrich Hoffmann ist es in den Struwwelpeter-Geschichten mit bewundernswert treffsicherer Intuition gelungen, ubiquitäre unbewusste Fantasien von Kindern, aber auch von Erwachsenen, anzusprechen und die damit assoziierten Erinnerungen an intensivste Emotionen, Ängste und Konflikte wachzurufen", so Leunzinger-Bohleber. Was sind "ubiquitäre unbewusste Fantasien"? Nach dem psychoanalytischen Konzept des "dynamischen Unbewussten" geht es um unbewusste Fantasien und Konflikte, die oft unerkannt menschliches Verhalten determinieren. So können frühere Konflikte später wieder reinszeniert werden, mit der Hoffnung, für Ungelöstes doch noch eine Lösung zu finden. Übertragen auf "Die Geschichte vom bösen Friedrich", die Zweijährigen vorgelesen wird, könnte dies bleibende Spuren im Gedächtnis hinterlassen, gewisse sadistische Fantasien könnten sich einprägen. Denn Kinder setzen sich in diesem Alter mit eigenen aggressiven Impulsen auseinander und ziehen beispielsweise mit Vergnügen Katzen am Schwanz oder reißen Käfern die Beine aus. "Erst wenn Kinder durch Identifikation mit einem empathischen Erwachsenen einen ersten 'Mentalisierungsschritt' vollziehen, das heißt durch Einfühlung nachvollziehen können, dass auch der Hund ein Lebewesen ist, das Schmerzen empfindet, können innere und äußere Grenzen erfahren, etabliert und sadistisch- aggressive Impulse ansatzweise sozialisiert werden", erläutert die Psychoanalytikerin.

Trotz aller Wertschätzung der historischen Leistungen von Heinrich Hoffmann und besonders seiner hellseherischen Fähigkeiten, ubiquitäre Fantasien wahrzunehmen, in Reimen zu gestalten und zu visualisieren, wünsche sich Marianne Leuzinger-Bohleber dennoch, dass der heutige Wissensstand von Psychoanalyse, Bindungs- und Mentalisierungsforschung eine "verstehende, empathische Pädagogik" befruchtet. Vorschul- und Grundschulkinder verfügen noch nicht über die Fähigkeit, sich von den sarkastischen und ironischen Übertreibungen in der verbalen und visuellen Gestaltung der Struwwelpeter-Geschichten innerlich zu distanzieren und für einen produktiven Umgang mit den reaktivierten unbewussten Fantasien zu nutzen: Sie werden von den Erinnerungen an die archaischen Konflikte überflutet, was bei besonders anfälligen und verletzlichen Kindern eventuell sogar traumatisierend wirken kann. "Angesichts der vielen wunderbaren Kinderbücher, die uns heute zur Verfügung stehen, um Kinder in ihrem Entwicklungsprozess zu unterstützen, ihre kindlich-archaischen Fantasien zu differenzieren, zu kultivieren und psychisch zu integrieren, ist zu wünschen, dass der Struwwelpeter aus den heutigen Kinderstuben verschwindet und Erwachsenen und ihrem historischen Interesse vorbehalten bleibt", plädiert die Direktorin des Sigmund-Freud-Instituts.

Weitere Informationen unter:
Wissenschaftsmagazin Forschung Frankfurt 1/2009 im Internet:
www.muk.uni-frankfurt.de/Publikationen/FFFM/2009/index.html

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/pages/de/institution131


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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Goethe-Universität Frankfurt am Main, Ulrike Jaspers, 20.04.2009
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 23. April 2009