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BERICHT/071: Baby Halder - Weg einer indischen Hausangestellten zur Literatur (Frauensolidarität)


Frauensolidarität - Nr. 106, 4/08

Baby Halder
Eine indische Hausangestellte und ihr Weg zur Literatur

Von Renate Sova


In ihrem ungewöhnlichen Leben findet die aus äußerst einfachen Verhältnissen stammende Westbengalin Baby Halder über Armut, eine gewalttätige Ehe, Flucht und Hausangestelltendasein zum Schreiben. Sie beschreibt allerdings Dinge, die sehr viele Frauen und Mädchen betreffen. Und auf ungewöhnliche Weise kam es, dass ihr Werk nun auch in mehreren Sprachen zu lesen ist.


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Es kommt nicht oft vor, dass eine Autobiographie in einfacher Sprache zum Bestseller wird, doch das Buch der indischen Hausangestellten Baby Halder, die darin ihre Kindheit und Jugend erzählt, ist nicht nur in Indien ein riesiger Erfolg. Die Erzählung ermöglicht einen Einblick in das Leben einer mittellosen Frau, die aus einer niedrigen Kaste Westbengalens stammt und ihr Schicksal an der Seite eine gewalttätigen Ehemannes nicht auf Dauer akzeptieren will.


Überleben, erinnern, schreiben

Die Autorin hat während der Niederschrift ihrer dramatischen Lebensgeschichte wieder schreiben gelernt, vorher hatte sie fast 20 Jahre nicht mehr geschrieben. Sie hatte die Schule nur selten besucht und das oft gegen den Willen ihres Vaters. Der Besuch der Schule war ihre große Leidenschaft, oft ging sie heimlich hin, denn der Vater und die Stiefmutter ließen sie lieber im Haushalt arbeiten.

Baby Halder hat ein eindrucksvolles Buch geschrieben über ihre Kindheit und Jugend, durch die Authentizität der Erzählung, das Weglassen jedweden ausschmückenden Beiwerks, ist die Erzählung Baby Halders berührend und aufrüttelnd zugleich: mit vier Jahren von der Mutter verlassen, vom Vater immer wieder misshandelt, mit 13 Jahren mit einem doppelt so alten Mann verheiratet, der sie mehrfach fast zu Tode prügelt und missbraucht.

Der Schmerz über den Verlust der Mutter, die ihr Leben prägende Sehnsucht und die verzweifelte Suche nach ihr sind im ersten Teil des Buches immer spürbar. Baby Halder erzählt mit einfachen Worten ein Schicksal, das für Millionen von Frauen in Indien steht. "Stellen Sie sich eine so kurze, so flüchtige Kindheit vor, dass Sie sich hinsetzen können und das Ganze ist in kaum einer halben Stunden an Ihnen vorbeigezogen", schreibt Baby Halder. Und doch erzählt sie ohne Selbstmitleid von den freudigen Momenten in ihrem Leben, den Begegnungen mit ihren Freundinnen, der Komplizenschaft mit dem kleinen Bruder, den freundlichen Gesten von Nachbarinnen und Verwandten.


Gewalt und Einsamkeit überwinden

Mit 14 bekommt Baby Halder ihr erstes Kind und ist - selbst noch Kind - überfordert mit der Pflege ihres Sohnes, alleine gelassen von ihrem Mann, nur unterstützt von Nachbarinnen, die selber in tiefer Armut leben. Sie stirbt fast bei der Geburt ihres Sohnes, doch ihr Mann kümmert sich nicht um sie. Ihre ältere Schwester Didi wird von deren Ehemann zu Tode geprügelt und die Verwandten und NachbarInnen greifen nicht ein. Dies hat Baby Halder vor Augen, als sie nach vielen Jahren Ehe mit ihren drei Kindern nach Neu-Delhi flieht und dort Arbeit als Dienstmädchen sucht. Ihre Brüder, die auch in Neu-Delhi leben, wollen sie zurück zu ihrem Mann schicken, damit sie ihrer Pflicht als Ehefrau nachkommt. Dies, obwohl sie wissen, dass ihre Schwester regelmäßig körperlicher und psychischer Gewalt ausgesetzt ist.

Baby Halder setzt sich durch, sie bleibt in der Stadt, schläft mit den Kindern manchmal auf der Straße, wird mehrfach betrogen und muss immer wieder von vorne anfangen.

Dann wendet sich das Schicksal für die junge Mutter: Sie bekommt eine Stelle bei einem pensionierten Antropologie-Professor, Prabodh Kumar Srivastavas, dessen Vorfahre der bedeutende Hindi-Autor Munshi Premchand war. Während der Hausarbeit merkt er immer wieder, dass Baby Halder sich für Bücher interessiert und so borgt er ihr die Autobiographie der bengalischen Autorin Taslima Nasrin. Tagsüber sorgt Baby Halder für seinen Haushalt, am Abend für ihre drei Kinder, jede Nacht liest sie ein bis zwei Seiten. Prabodh Kumar bemerkt nicht nur ihre Begabung für das Erzählen und bestärkt sie darin, Bücher zu lesen, sondern er schlägt ihr auch vor, ihre Lebensgeschichte selbst niederzuschreiben. Er besorgt ihr Stifte und ein Heft und forderte sie auf, ihre Erinnerungen zu Papier zu bringen.

Das Ergebnis ist ein erschütternder und authentischer Bericht über das Alltagsleben eines Mädchens, einer jungen Frau, die ihr Schicksal in die Hand nimmt.

Die Erstfassung des Buches erfolgte in Bengali. Baby Halders Arbeitgeber, Prabodh Kumar, korrigierte grammatikalische Details und half ihr, das Werk in eine chronologische Reihenfolge zu bringen. Er übersetzte ihre Autobiographie auf Hindi mit dem Titel "Aalo Aandhari" (auf Deutsch: Vom Dunkel ins Licht), diese Version wurde 2002 veröffentlicht. Nach dem unglaublichen Erfolg wurde 2004 die bengalische Fassung herausgegeben. Im folgenden Jahr erschien eine Ausgabe in Mayalam (eine der 22 offiziellen Sprachen Indiens, die hauptsächlich in Kerala gesprochen wird).


Glückliche Zufälle

Die englische Übersetzung kam 2006 mit dem Titel "A Life Less Ordinary" heraus. Übersetzt wurde es durch Urvashi Butalia, die Leiterin des feministischen Verlags Zubaan in Neu-Delhi. Butalia, selber Schriftstellerin, war über einen kurzen Bericht in einer Lokalzeitung auf Halders Buch aufmerksam geworden. Im Bericht wurde erwähnt, dass Baby Halder in einem Haus im Stadtteil Gurgaon in Neu-Delhi lebte und arbeitete und dass die Hindi-Publikation großen Zuspruch gefunden hatte. Urvashia Butalia machte sich persönlich auf die Suche, die Haushaltshelferin in der Millionenstadt Neu-Delhi ausfindig zu machen. Sie verfolgte dabei einen Hinweis, dass der Arbeitgeber ein Verwandter des Hindi-Autors Premchand war.

Wie Butalia in dem Vorwort zur deutschen Ausgabe erklärt, "leben die Haushaltshilfen in Indien in einer Schattenwelt von fast unsichtbaren Leuten, ohne deren Hilfe das moderne Mittelklasse-Indien nicht überlebensfähig wäre". So fragte sie sich durch das "Netzwerk der urbanen Mittelklasse-Intellektuellen" und fand Baby Halder durch glücklichen Zufall. Die englisch-sprachige Ausgabe bekam viel internationale Aufmerksamkeit(2). Der auf Indien und Südostasien spezialisierte Draupadi-Verlag in Heidelberg wurde auf den Bestseller aufmerksam und gab das Buch mit dem Titel "Kein ganz gewöhnliches Leben" im Herbst 2008 auf Deutsch heraus (übertragen aus dem Englischen von Annemarie Hafner). Im Oktober 2008 tourte die Autorin auf Einladung der Heinrich-Böll-Stiftung durch Deutschland und las in mehreren deutschen Städten aus ihrer Autobiographie.

Das Buch "Kein ganz gewöhnliches Leben" ist nicht nur die Geschichte einer Frau in Indien, wie viele Millionen Frauen es erleben und erleiden, sondern es ist ein Buch über das Lesen und Schreiben selbst. Ein Buch über Bücher, ein Buch, das von Hoffnung und Verzweiflung getragen ist. Die bengalische Autorin Mahasweta Devi spricht von "einer Geschichte des Muts", einem dringend notwendigen Werk. Die Autorin selbst sagt über ihre Beweggründe, das Buch zu schreiben: "When I wrote, I felt like I was talking to someone, and after writing I would feel lighter, as if I had taken some sort of revenge." Die Autorin stellt am Ende ihres Buches fest. "Man kann als Hausbedienstete arbeiten und daneben schreiben". Sie arbeitet bereits an einer Fortsetzung, ihrem zweiten Buch. Und auf das können wir uns jetzt schon freuen!


Anmerkung:
(1) Halder, Baby: Kein ganz gewöhnliches Leben (Heidelberg 2008)
(2) Siehe auch Südwind-Magazin 10/2006 (Wien) S. 14.


Zur Autorin:
Renate Sova ist seit 1997 in der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit tätig. Sie lebt in Höflein an der Donau.


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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 106, 4/2008, S. 16-17
Herausgeberin:
Frauensolidarität - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen
Berggasse 7, 1090 Wien
Fon: 0043-(0)1/317 40 20-0, Fax: 0043-(0)1/317 40 20-355
E-Mail: redaktion@frauensolidaritaet.org
http://www.frauensolidaritaet.org

Die Frauensolidarität erscheint viermal im Jahr.
Einzelpreis: 5,-- Euro.
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Ausland 25,-- Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Januar 2009