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BERICHT/064: Literaturbetrieb im Internet - der Autor lebt (idw)


Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg - 07.05.2008

Literaturbetrieb im Internet: Der Autor lebt


Das Internet ist ein demokratisches Medium, jeder kann Texte publizieren, der "schreibende Leser" ersetzt den traditionellen Autor. So lauten die gängigen Vorstellungen, wenn von Literatur im Netz die Rede ist. Florian Hartling, Medienwissenschaftler an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU), stellt nun fest: Der Autor lebt und traditionelle Formen des Literaturbetriebs setzen sich im Internet fort. Mit dem Boom der Netzliteratur sei ein Aufleben des literarischen Autors zu beobachten, schreibt Hartling in seiner Dissertation mit dem Titel "Der digitale Autor?". Er liefert darin eine erste systematische Analyse der Bedingungen von Autorschaft im Internet.

"Wikipedia" ist inzwischen nahezu jedem Internetnutzer ein Begriff. An der Online-Enzyklopädie kann jeder mitschreiben, was sie sozusagen zu einer demokratischen Einrichtung macht. "Das ist generell der Anspruch ans Internet: Es demokratisiert, denn jeder liest und jeder schreibt", erläutert Florian Hartling. "Das gilt auch für literarische Formen. Wenn Verlagswesen und Buchhandel außen vor sind, dann wird der traditionelle Autor endgültig verabschiedet. Ich habe mich gefragt: Ist das wirklich so? Unter welchen Bedingungen schreiben 'digitale Autoren'?"

Das Ergebnis von Hartlings Recherchen liegt nun vor, in Form einer Dissertation, die sein Doktorvater Prof. Dr. Reinhold Viehoff als "Meilenstein" bezeichnet. "An der Bruchstelle einer neuen Entwicklung, die gemeinhin in Feuilletons als Unterschied zum Gutenberg-Universum schlagwortartig 'Gates-Galaxy' genannt wird, hat Florian Hartling systematisch untersucht, ob es denn auch schon in dieser Galaxis Bewohner gibt und Rollenspiele, die denen im Gutenberg-Universum entsprechen - oder völlig neue Handlungsspiele." Dieses Problem sei für die neuere medientheoretische Diskussion und die methodische Entwicklung der Medienwissenschaft von großer Bedeutung.

Hartling hat Künstler und Wissenschaftler interviewt, die relevante Internetliteratur analysiert, Typologien entwickelt. Sein Hauptergebnis lautet: Die Hoffnung der Demokratisierung hat sich nur zum Teil erfüllt. "Für uns als Leser ist die kulturelle Gestalt des Autors immens wichtig, sie bedeutet eine intellektuelle Stimulierung. Wir brauchen die Vorstellung, dass da jemand Sinn in den Text gebracht hat, und das Gefühl, dass es eine Verantwortung gibt. Dementsprechend wird Netzliteratur oft sehr traditionell rezipiert", führt der 29-Jährige aus, der in Halle und Leipzig Medien- und Kommunikationswissenschaften sowie Germanistische Literaturwissenschaft studiert hat.

Bei aller Neuheit des Literatursystems im Internet lasse sich zudem feststellen: "Bestimmte Formen des traditionellen Literaturbetriebs setzen sich fort. Es gibt Wettbewerbe und Rezensionen, es wird moderiert und kritisiert. Und besonders gut funktioniert die Netzliteratur dort, wo die Möglichkeiten zum Mitschreiben eher begrenzt werden." Bei "Wikipedia" gebe es Administratoren mit erweiterten Rechten, Ähnliches sei im Bereich der Netzliteratur zu beobachten.

Die Arbeit der "digitalen Autoren" hat Hartling im Hinblick auf vier Rahmenbedingungen analysiert, den ökonomischen, rechtlichen, technischen und philosophischen. "Kurz gesagt: Die Autoren können von ihrer Arbeit nicht leben, sie müssen zum Beispiel Persönlichkeitsrechte beachten, es gibt den bedeutenden Einfluss von Wikis und Blogs, und es stellt sich die Frage: Von welchen Idealen werden sie angetrieben?"

Vier Rollen können die Autoren laut Hartlings Typologie einnehmen. Erstens: Sie inszenieren sich selbst als "Autorgenie", gewissermaßen in der Nachfolge Goethes. "Das sind diejenigen, die von den Lesern am meisten angenommen werden", hat der Medienwissenschaftler beobachtet. Zweitens: Sie initiieren Mitschreibprojekte. Drittens: Sie publizieren Literatur, die stark mit Software-Elementen arbeitet, sogenannte "Codeworks" - zum Beispiel mit algorithmisch generierten Texten, die auf den Betrachter eher sperrig wirken und auch visuell rezipierbar sein sollen. Zu guter Letzt habe sich in den letzten zwei Jahren noch die "performative Literatur" entwickelt: Auf der Bühne oder im Radio werden Texte "aufgeführt", die erst während des Auftritts entstehen, durch Beiträge des Publikums und des Computers.

Die Autorenmodelle rivalisieren miteinander, aber Florian Hartling konstatiert: "Welche Rolle die Autoren auch einnehmen, wie frei die Formen im Einzelnen auch sein mögen, zu einem gewissen Grad ist der Zugang zu jeder Publikationsplattform immer eingeschränkt."

Seiner ersten systematischen Analyse will Hartling weitere wissenschaftliche Arbeiten folgen lassen. Der Nachwuchsforscher arbeitet seit Oktober 2002 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medien, Kommunikation und Sport der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und an der "Halleschen Europäischen Journalistenschule / Alfred Neven DuMont", einer Kooperation zwischen dem Verlagshaus M. DuMont Schauberg und der MLU.

Maßgeblich beteiligt war Hartling am Aufbau des praxisorientierten Masterstudienganges "Multimedia und Autorschaft".

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/pages/de/institution167


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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg,
Dipl.-Journ. Carsten Heckmann, 07.05.2008
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Mai 2008