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BERICHT/027: Kafka und die Weltliteratur (Campus/Universität des Saarlandes)


Campus - Universität des Saarlandes, Nr. 1/Januar 2005

Kafka und die Weltliteratur

Von Johannes Birgfeld


Franz Kafka (1883 - 1924) ist einer der wenigen Schriftsteller, die keiner Vorstellung bedürfen. Sein Werk wurde in so viele Sprachen übersetzt wie das keines anderen deutschsprachigen Autors außer Goethe - und wird heute sicher mehr gelesen als das des Klassikers. Kein anderer Autor hat es geschafft, so bekannt zu werden, dass das aus seinem Namen gebildete Adjektiv ("kafkaesk") selbst denen etwas sagt, die nie eines seiner Bücher in Händen hielten. Die Deutungsoffenheit von Kafkas Texten und die Modernität seiner Formensprache, Figurenkonzeption und Weltsicht allerdings haben nicht nur äußerst intensive, sondern auch methodisch besonders vielfältige Interpretationsversuche provoziert - die Zerstrittenheit der Kafka-Forschung ist so schon fast sprichwörtlich geworden.


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Der Saarbrücker Germanist Manfred Engel und der Mainzer Komparatist Dieter Lamping wussten natürlich, als sie im September letzten Jahres ausgewiesene Kafka-Experten zu einem internationalen Symposium unter dem Titel "Kafka und die Weltliteratur" nach Saarbrücken einluden, dass sie mit ihrer Tagung die vielfältigen Differenzen innerhalb der Kafka-Forschung nicht würden ausräumen können. Wohl aber hofften sie, die schmale Konsensbasis der Kafka-Forschung durch einen neuen Zugangsweg zu vergrößern: Statt den Autor, wie schon so oft, als (bewunderten) Einzelgänger innerhalb der klassischen literarischen Moderne zu betrachten und alle Anstrengungen auf eine Deutung der Einzeltexte zu konzentrieren, ging es in Saarbrücken erstmals darum, Kafkas Dichtungen in den Zusammenhang der Weltliteratur zu stellen.

In Briefen und Gesprächen hat Kafka immer wieder große Bewunderung und intensive Auseinandersetzung mit dem Leben und Werk anderer Autoren bekundet. Es fehlen in seinen Werken jedoch fast alle expliziten Spuren dieser intensiven Rezeption. Weil Kafka seinerseits zu den am häufigsten rezipierten Autoren der Weltliteratur gehört, verspricht gerade eine komparatistische Herangehensweise an seine Texte wesentliche Erkenntnisse zu seiner Stellung innerhalb der literarischen Moderne wie zu den Eigentümlichkeiten seines Werkes. Die Tagung gliederte sich daher in drei Sektionen: Unter dem Titel "Kafkas Lektüren" ging es zunächst um wiederkehrende Muster in Kafkas Rezeption der Werke anderer Autoren. Jürgen Söring (Neuchâtel) etwa ging Kafkas Bezugnahmen auf die Bibel nach, Hartmut Reinhardt (Trier) seinem Verhältnis zu Stifter, Ritchie Robertson (Oxford) der Beeinflussung Kafkas durch das Werk Strindbergs, Manfred Schmeling (Saarbrücken) der durch das Werk Flauberts.

"Kafka und die moderne Literatur" war das Thema der zweiten Sektion, in der strukturelle, motivische oder stilistische Ähnlichkeiten zwischen Kafkas Texten und den Werken der literarischen Moderne untersucht wurden etwa Bezüge zwischen Kafkas Werk und der modernen Parabelliteratur (Karl Richter, Saarbrücken), den Schriften von James Joyce (Gerald Gillespie, Stanford), der modernen Phantastik und Utopistik (Virgil Nemoianu, Washington), der existenzialistischen Literatur (Dorothea Lauterbach, Saarbrücken) oder der absurden Literatur (Rüdiger Görner, London).

In der dritten Sektion schließlich wurden "Kafka-Lektüren" durch Hermann Broch (Monika Ritzer, Leipzig), Tucholsky (Sascha Kiefer, Saarbrücken), Paul Celan (Vivian Liska, Antwerpen), J. M. Coetzee (Rüdiger Zymner, Wuppertal) oder durch Autoren Osteuropas (John Neubauer, Amsterdam) auf Muster hin analysiert, die die Rezeption Kafkas durch die literarische Nachwelt prägen.

Zu den Glanzpunkten der Saarbrücker Tagung gehörten neben dem exklusiven Kreis der Referenten - unter ihnen so international renommierte Kafka-Experten wie Gerhard Neumann (München), Walter Hinderer (Princeton), Thomas Anz (Marburg) und der Mitherausgeber der Kritischen Kafka-Ausgabe Hans-Gert Koch (Berlin) - vor allem die in den lebhaften Diskussionen vertieften und weit über die Kafka-Forschung hinausweisenden Ergebnisse der Einzelvorträge: Am Beispiel Kafkas wurde vor allem deutlich, dass der in der Postmoderne-Debatte einseitig ins Zentrum gerückte Bezugsmodus der "Intertextualität" nur eine von vielen Formen innerliterarischer Bezugnahmen darstellt. Kafkas eigene Lektüren wie seine Rezeptionen durch andere Autoren zeigen, dass produktive Rezeptionen auf Rezeptionsmustern beruhen, die sich durch eine besonders hohe Selektivität auszeichnen und nicht notwendig in direkte Übernahmen von Motiven und Schreibweisen münden müssen. Wirkung zeigen solche Bezugnahmen oft schon im Vorhof der eigenen literarischen Produktivität, nämlich in der Stabilisierung der in der Moderne besonders unsicheren Autorenpersönlichkeit, als Festigung der selbst entworfenen Autorenrolle wie als Bestätigung einer auf der Identifizierung von Leben und Werk basierenden Poetik.

Als besonderer Erfolg des Symposiums darf schließlich auch das Rahmenprogramm der Tagung betrachtet werden: An drei Abenden wurden im Saarbrücker Filmhaus Kafka-Verfilmungen gezeigt: Davis Jones' 'Der Prozeß' (1993), Klaus Kammers schauspielerische Inszenierung von 'Ein Bericht für eine Akademie' (1963) und Orson Welles' ebenfalls 1963 entstandener 'Der Prozeß'. Allgemeinverständlich gehaltene Vorträge - eine Einführung in Kafkas Roman 'Der Prozeß' (Manfred Engel) sowie ein Vergleich zwischen dem Buch und seiner Verfilmung durch Welles (Sandra Poppe, Mainz) - hatten nicht zuletzt die Funktion, die Tagung für ein nichtwissenschaftliches Publikum zu öffnen. Zu einer solchen Öffnung trug auch die Wahl eines nicht auf dem Campus, sondern mitten in der Stadt gelegenen Tagungsraumes bei. Diesen stellte die Saarbrücker Volkshochschule zur Verfügung, die zugleich - wie die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), die Universität des Saarlandes, das Saarländische Ministerium für Bildung, Kultur und Wissenschaft und Saartoto - zu den Sponsoren dieses erfolgreichen Symposiums der Saarbrücker Germanistik gehörten.


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Quelle: Campus Nr. 1, Januar 2005 , Seite 26-27 Herausgeber: Der Universitätspräsident, Universität des Saarlandes Redaktion: Presse- und Informationszentrum, Postfach 15 11 50, 66041 Saarbrücken Tel.: (0681) 302-3601, Fax: (0681) 302-2609 E-Mail: presse@univw.uni-saarland.de