Schattenblick →INFOPOOL →BILDUNG UND KULTUR → LITERATUR

AKZENTE/121: Die neuen Abenteuerinnen (ROSA)


ROSA:40 - Die Zeitschrift für Geschlechterforschung - Februar 2010

Die neuen Abenteuerinnen

Von Manuela Kalbermatten


Raumgreifende Abenteuer waren in der westlichen Abenteuerliteratur bis ins 20. Jahrhundert den Männern vorbehalten - auch in der Kinder- und Jugendliteratur. Im heutigen Fantasy-Abenteuer beweisen nun auch junge Heldinnen Grandiosität. Wie ihre männlichen Vorgänger vereinen sie individualisierende und gesellschaftskonforme Züge.


An einen kleinen Reporter will Gladys ihr Herz nicht verschenken. Der jungen Frau aus der Londoner Oberschicht schwebt Höheres vor: Nur mit dem Inbegriff männlicher Heroik gibt sie sich zufrieden. Ein Mann dieses Formats sitzt, anders als Gladys' Verehrer Malone, nicht an der Schreibmaschine, sondern zieht in die Welt, packt die Chance beim Schopf, blickt dem Tod ins Auge. "Rings um uns warten Heldentaten darauf, vollbracht zu werden", so Gladys. "Die Aufgabe der Männer ist es, sie zu vollbringen, und die der Frauen, ihre Liebe aufzusparen als Ehrenpreis für solche Männer." Malone also hat, um Gladys' für sich zu gewinnen, seinen Wert zu beweisen. Nicht ihretwegen aber soll er sich in ein Urwaldgebiet begeben, in dem prähistorische Bestien Jagd auf menschliche Eindringlinge machen; aus sich selbst heraus sollen Männer die Motivation zum Abenteuer schöpfen - "weil es in ihrer Natur liegt - weil es den Mann in ihnen drängt, seinen Heldenmut unter Beweis zu stellen."(1)


Die Frau als Lohn des Helden

In Arthur Conan Doyles Abenteuerroman "The Lost World" (1912) sind die Rollen klar verteilt, reihen sich nahtlos ein in die kulturell tradierte Dichotomie von männlicher Aktivität und weiblicher Passivität. Dieselbe Konversation findet sich bereits in Jules Vernes Roman "Reise zum Mittelpunkt der Erde" (1871): Auch hier will das Mädchen den Jüngling über das Bestehen einer gefährlichen Mission zum Mann gewandelt sehen. "Es ist gut, wenn ein Mann sich durch etwas Grosses auszeichnet", sagt Grete zu Axel, der mit seinem Onkel eine Reise ins Innere eines Vulkans unternehmen soll. Auch sie stellt ihm als Belohnung für die Mann-Werdung ihre Hand in Aussicht. Und reflektiert zugleich ihre Geschlechterrolle: "Und ich würde deinen Onkel und dich gern begleiten, wenn ein schwaches Mädchen nicht eine Belastung für euch wäre."(2) Frauen figurieren im Abenteuerroman des 19. und frühen 20. Jahrhunderts als Liebesobjekt, Opfer oder Tugendheldin, und sie übernehmen die Funktion, heroisches männliches Verhalten zu bestärken. Anders als die Männer erleben sie keine raumgreifenden Abenteuer, sondern sind gebunden ans Haus und initiieren von dort aus den Bewährungsprozess des Helden. Dieser wiederum entwickelt als koloniale Figur in der exotischen Fremde die in ihm angelegten Talente, erobert sich sein Reich, wird zum Abenteurer - und erfreut sich bis heute grosser Popularität, auch und gerade bei jungen LeserInnen.


Symbol für Grössenfantasien

Vieles spricht dafür, dass die Gründe dieser Popularität nicht allein in zeitgeschichtlichen, soziokulturellen Umständen, sondern auch in der Charakteristik der Figur selbst liegen. Der bürgerliche Abenteurer besitzt viele Eigenschaften, die ihn den vom (Arbeits)alltag eingeschränkten LeserInnen attraktiv erscheinen lassen: Aktivität, Ausstrahlung, Selbstbewusstsein, Durchsetzungskraft, Beherrschung abenteuerlicher Räume, Freiheit und Ablehnung einer auf der bürgerlichen Ordnung basierenden Existenz. Er ist, um es mit Hans-Otto Hügel zu sagen, ein kulturelles Symbol für die Selbstbehauptung des Individuums. Seine Autonomie, die stets an die westliche Lebensführung gekoppelt ist, prädestiniert ihn - bei aller berechtigten Kritik am Eurozentrismus und der Misogynie der Abenteuerliteratur - als Identifikationsfigur, die "den Leser einführt in die Gesellschaft und gleichzeitig einführt in deren Widerspruch."(3) Darüber hinaus werden über den Abenteurer Wünsche verhandelt, die (nicht nur) das Jugendalter kennzeichnen. Gerade junge LeserInnen suchen in der Lektüre unter anderem nach Identifikationsfiguren, die ihren Wünschen nach Grandiosität und Handlungsfreiheit entsprechen. Angesichts des Umstandes, dass Abenteuerromane stets auch von Mädchen rezipiert wurden, zeigt die Gattung ein klares Missverhältnis zwischen Leserin und Protagonist. Als Jugendliche habe ich Abenteuerromane zwar verschlungen - die Sehnsucht nach einer grandiosen Heldin aber blieb unerfüllt, von raren Ausnahmen wie der Roten Zora oder Ronja Räubertochter abgesehen. Frauen wie Gladys und Grete dagegen eignen sich nicht als Identifikationsfiguren. "Denn wer will schon ein rasendes Machtweib oder ein puppenhaftes Lustobjekt sein?", schreibt Ruth Klüger: "Hähenflüge und Abenteuer wollen wir und widmen uns dementsprechend den Männergestalten [...]."(4)


Aufbruch in neue Räume

Wenn heute der Hanser-Verlag für den neuesten Band der Fantasy-Abenteuer-Reihe "Molly Moon" von Georgia Byng wirbt und deren Titelfigur als "das witzigste, spritzigste, mutigste Mädchen der Welt"(5) bezeichnet, dann liegt dem eine völlig neue Situation zugrunde. Als selbstbewusste Abenteurerin ist Molly Moon keine Ausnahme mehr, und ihre Popularität fusst auf einer Reihe von Vorgängerinnen. Fast programmatisch formuliert Lyra, die zwölfjährige Protagonistin aus Philip Pullmans Trilogie "His Dark Materials" (1995-2000), die Weigerung, sich mit einem beschränkten Raum zufrieden zu geben: "Warum ist mein Platz hier?", hält sie ihrem Onkel, dem Abenteurer, entgegen. "Warum kann ich nicht mit dir in den Norden kommen? Ich will das Nordlicht sehen und Bären und Eisberge und alles."(6) Der Aufbruch in neue Handlungsräume ist kein männliches Vorrecht mehr, sondern wird von den neuen jungen Abenteurerinnen vehement eingefordert. Die Hybridisierung des Abenteuer-Genres, der Einzug jugendlicher HeldInnen, das veränderte Bild von Mann und Frau in Gesellschaft und Literatur sowie die narrative Entwicklung vom Einzelkämpfer zum Teamplayer haben zu neuen Abenteuerkonzepten geführt. Insbesondere die seit Mitte der 1990er Jahre blühende Phantastische Kinder- und Jugendliteratur scheint prädestiniert dafür, Raum zu schaffen für selbstbewusste Abenteurerinnen, deren Grandiosität derjenigen des traditionellen Abenteurers gleichkommt, ohne dass sie dessen (meist körperlich manifestierte) Heroik imitiert. Tatsächlich sind in den letzten Jahren Figuren entstanden, die nicht trotz oder wegen ihres Geschlechts, sondern aufgrund ihrer Persönlichkeit Grandiosität ausdrücken, Rollenmuster überwinden und für Jungen wie Mädchen als Identifikationsfiguren dienen können. Zeit also, einen Blick auf die Werte zu werfen, die diese Figuren vertreten.


Die abenteuerliche Denkerin

Ein aussagekräftiges Beispiel ist Hermione Granger aus Joanne K. Rowlings Fantasy-Septologie "Harry Potter" (1997-2007).(7) Hermione bringt als Abenteurerin traditionell männlich konnotierte Stärken mit kulturell weiblich kodierten Tugenden zusammen. Zum einen steht sie in der Tradition des rational denkenden, selbstbewusst handelnden und autonom agierenden Abenteuers, der sich durch herausragende Fähigkeiten auszeichnet. Obschon nicht die Hauptfigur der Serie, wird Hermione kraft ihrer überragenden Intelligenz, Lernfähigkeit und Logik bald zur heimlichen Anführerin der Trios um Harry Potter, das den Kampf gegen den faschistoiden Lord Voldemort aufnimmt. Obgleich mit magischen Kräften begabt, ist ihr Handeln rein vernunftorientiert. Als wissenschaftlich-aufgeklärte Abenteurerin etwa will sie von einem unbesiegbaren Zauberstab, an dessen Existenz Harry Potter verzweifelt glaubt, nichts wissen: "...ach, das ist alles Unsinn. Zauberstäbe sind nur so mächtig wie die Zauberer, die sie benutzen. Manche Zauberer brüsten sich einfach gerne damit, dass ihre grösser und besser sind als die anderer." In Hermiones Worten ist mehr als eine augenzwinkernde Absage an männliche Omnipotenzphantasien enthalten: Wer Erfolg haben will, so ihre Überzeugung, hat sich diesen durch harte Arbeit selbst zu erwerben. Wenn Hermione sich im dritten Zauberer-Schuljahr einen Time-Turner beschafft, mit dessen Hilfe sie mehrere Lektionen zugleich absolvieren kann, scheint aber auch die Ambivalenz dieser Haltung auf. So wird in ihrer Figur zum einen das Potential sichtbar, das Wissen in der Informationsgesellschaft birgt, und das zur kritischen politischen Partizipation führt - anders als Ron und Harry lässt sie sich auch von subtilen Ideologien nie manipulieren. Zum anderen spiegelt sich in ihrem Ehrgeiz ein in pädagogischen Debatten aktuelles Bild: Das der fleissigen Mädchen, die ihre männlichen Mitschüler in intellektuellen Belangen überflügeln.


Einsatz fürs Kollektiv

Die Haltung permanenter Selbst- und Weiterbildung wird in "Harry Potter" nicht als einziges Mittel zum Bestehen von Abenteuern und zur Etablierung einer pluralistischen Gesellschaft vermittelt. Anders als der traditionelle Abenteurer sind Hermione und ihre Freundinnen keine Einzelgänger mehr, sondern soziale Figuren. Auch Hermione muss umdenken: "Bücher! Schlauheit! Es gibt wichtigere Dinge - Freundschaft und Mut [...]". Wissen, so ihre Erkenntnis, ist wichtig - schlussendlich muss dieses Wissen aber dem Kollektiv zugute kommen. Um Erfolg zu haben, ist die junge Abenteurerin nicht nur auf die im traditionellen Abenteuerroman als männlich konnotierten Eigenschaften angewiesen: Kulturell weiblich tradierte Tugenden wie Empathie, Bindungsbereitschaft, Einfühlungsvermögen und Kommunikationsfähigkeit werden neu als abenteuerliche Eigenschaften deklariert und von männlichen wie weiblichen AbenteurerInnen eingefordert.

An Hermione lässt sich der von Hans-Otto Hügel proklamierte Doppelsinn des Abenteurers als "Spiegel und Maske der Welt, aus der er kommt",(8) deutlich zeigen, auch wenn die Schwerpunkte sich verschoben haben. Im traditionellen Abenteurer stand die Abgrenzung von der bürgerlichen Ordnung und zugleich deren Bestätigung in der "Fremde" im Zentrum. Im Fantasy-Abenteuer werden einerseits weibliche Erfolgsgeschichten geschrieben, die jungen Leserinnen Mut machen, (Geschlechter-)grenzen zu überschreiten und eigene Lebensentwürfe zu verfolgen. Zum anderen werden an den Figuren klar gesellschaftskonforme Züge sichtbar: Sie sind leistungsfähig und ehrgeizig, investieren in ihre Bildung, sind autonom und zugleich sozial - alles optimale Voraussetzungen für die soziale, ökonomische und politische Partizipation. Gerade anhand der immer wieder betonten Sozialkompetenz wird deutlich, wie stark im Fantasy-Abenteuer gemeinhin weiblich konnotierte Tugenden mit männlich tradierten Stärken zu einem neuen Abenteuerkonzept verknüpft werden.


Anmerkungen

(1) Conan Doyle, Arthur: Die vergessene Welt. Zürich 1992, S. 12.

(2) Verne, Jules: Reise zum Mittelpunkt der Erde. Zürich 1976, S. 62.

(3) Hügel, Hans-Otto: Abenteurer, S. 93, in: Ders, (Fig.), Handbuch Populäre Kultur, Stuttgart 2003, S. 91-98.

(4) Klüger, Ruth: Lesen Frauen anders? Heidelberg 1994, S. 8.

(5) Byng, Georgia: Molly Moon und der verlorene Zwilling. München 2009.

(6) Pullman, Philip: Der goldene Kompass. München 2007, S. 34

(7) Rowling, Joanne K.: Harry Potter. 7 Bände. Hamburg 2000-2007. Die Zitate beziehen sich auf "Harry Potter und der Stein der Weisen" und auf "Harry Potter und die Heiligtümer des Todes".

(8) Hügel (wie Anm. 3), S. 94.


Autorin
Manuela Kalbermatten hat ihre Lizentiatsarbeit zum Thema Abenteurerinnen in der Phantastischen Kinder- und Jugendliteratur verfasst und lernt nun wie Hermione fleissig für die Prüfungen.
manuelakalbermatten@gmx.ch


*


Quelle:
ROSA:40 - Zeitschrift für Geschlechterforschung
Ausgabe Februar 2010, S. 45-48
Redaktionsanschrift:
Rämistrasse 62, 8001 Zürich, Schweiz
E-Mail: rosa.gender@gmail.com
Internet: www.rosa.uzh.ch

Ein Einzelheft kostet 5 CHF,
das Rosa-Jahresabonnement 15 CHF / 11 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Juni 2010