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AKZENTE/118: Edgar Allan Poe nach 200 Jahren (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2009

Meister der Ambivalenz
Edgar Allan Poe nach 200 Jahren

Von Karin Priester


Edgar Allan Poe, geb. 1809 in Boston, Massachusetts, gilt als Meister des Grauens und Grusels, Erfinder der Detektivgeschichte und Vorläufer der Science Fiction. Von ihm führt eine direkte Linie zu den Dichtern und Soziologen der modernen Großstadt wie Baudelaire, Simmel oder Benjamin. Als Dichter müsse man absolut modern sein, schrieb Baudelaire - darunter verstand er die ästhetischen und psychologischen Reize der Großstadt, keineswegs die Errungenschaften der Demokratie. Weder er noch Poe liebten die Demokratie, in der sie nur die Herrschaft des Pöbels und Mittelmaß zu erkennen meinten.


Poes Erzählung Der Mann der Menge (1840) greift die Großstadterfahrung des Flaneurs auf. Der Flaneur ist eine Zentralfigur des bürgerlichen Jahrhunderts, der Mensch der Pariser Passagen, so wie Walter Benjamin ihn beschrieben hat - als "Detektiv wider Willen": "Er bildet Formen des Reagierens aus, wie sie dem Tempo der Großstadt anstehen. Er erhascht die Dinge im Flug: Er kann sich damit in die Nähe des Künstlers träumen." Im "Bad in der Menge" (Baudelaire) sucht er nach neuen Quellen ästhetischer Inspiration. Das Flüchtige, Zufällige, Vergängliche löst eine neue Zeiterfahrung aus, rasch wechselnde Reize und eine Steigerung des Nervenlebens, worin Georg Simmel die psychologische Grundlage der großstädtischen Individualität erkannte.

Poes Beobachter sitzt in einem Londoner Café und nimmt das "stürmende Menschenheer" auf der Straße wahr; "meine Beobachtungen waren zunächst ganz allgemeiner Art". Vom Allgemeinen zum Besonderen fortschreitend, zeichnet Poe die gesellschaftliche Pyramide der damaligen Zeit: Adelige, Kaufleute, Anwälte, Börsenmakler, gefolgt von der Gruppe der Angestellten, die detailliert in Kleidung und Aussehen geschildert werden. Aber diese Etablierten nehmen seine Aufmerksamkeit nicht weiter in Anspruch; den Flaneur zieht es zu den Rändern der Gesellschaft. Weiter steigt er auf der "Stufenleiter der menschlichen Gesellschaft" hinab und beobachtet Spieler, Hausierer, Bettler, Dirnen, Trunkenbolde. Im Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte zögerte Marx nicht, diese Gruppe von Menschen als "Auswurf, Abfall, Abhub aller Klassen" zu bezeichnen. Die klassenbewusste Linke hatte immer schon Aversionen gegen das "Volk" in seiner lumpenproletarischen Erscheinungsform. Allerdings auch gute Gründe, bildete es doch die soziale Basis des Bonapartismus.


Mann der Menge

Erst nach dem Abschreiten der sozialen Stufenleiter saugt Poes Flaneur sich am Gesicht eines Mannes fest, gefesselt von dessen sonderbarem Ausdruck. Eine ganze Nacht lang - ein Flaneur hat Zeit - folgt er dieser anonymen Erscheinung durch Straßen, Gassen, Winkel, durch belebte und menschenleere Gegenden bis in die Gossen der Vorstadt. Völlig übermüdet, gibt er schließlich die Verfolgung auf, nicht ohne das Erlebnis zu kommentieren: "Der alte Mann ist das Urbild und der Dämon des Triebes zum Verbrechen. Er kann nicht allein sein. Er ist der Mann der Menge." Als Kind des 19. Jahrhunderts schließt Poe von der Physiognomie eines Menschen auf dessen Charakter. Der Mann der Menge, nicht in der Menge, ist eine Frühform des Massenmenschen oder des Mob. Masse, Mob, Lumpenproletariat, Pöbel - Relikte der Vormoderne und zugleich Produkte des modernen Kapitalismus - werden mit Verbrechen, Perversion, dem Sumpf der Elendsquartiere und politischer Käuflichkeit assoziiert. 50 Jahre später erschien Gustave Le Bons Psychologie der Massen. Aus der Menge war inzwischen die Masse geworden und diente den faschistischen Diktatoren des 20. Jahrhunderts als politischer Rohstoff. Bei Le Bon hatten sie gelernt: "Das Zeitalter, in das wir eintreten, wird ... das Zeitalter der Massen sein." Seit der Französischen Revolution sitzt die Furcht vor der Pöbelherrschaft dem Bürgertum und den intellektuellen "Geistesaristokraten" im Nacken.


Imperialistische Eroberung und die Farbe weiß

Poe hat, neben Gedichten, Kurzgeschichten und theoretischen Abhandlungen, nur einen einzigen Roman hinterlassen, Die denkwürdigen Abenteuer des Arthur Gordon Pym. Das Buch, 1837 erschienen, ist von einer eigenartigen Brechung, ja unvermittelten Gegenüberstellung von Erkenntnisdrang und Grauen. In der ersten Hälfte werden die schauerlichen Erlebnisse des Helden mit bezwingender Dichte und kaum noch zu steigernder Entfaltung des Horrors geschildert. Doch mit der Rettung der Schiffbrüchigen kippt das Buch in der zweiten Hälfte in einen nüchternen Reisebericht um. Entsetzen und Grauen weichen trockenen Notizen zu Geografie, Fauna und Flora. An Bord des Schoners Jane Guy begibt sich Pym auf den Spuren berühmter Entdecker auf eine Forschungsreise ins Südpolarmeer, vor sich "ein weites Feld von Entdeckungen". Dazu zählen auch die Bewohner einer fernen Insel, die noch nie vorher Menschen mit weißer Hautfarbe gesehen haben. Nach Hinterhalt und Verfolgung gelingt es Pym und einem Mitreisenden als einzigen Überlebenden, die Insel zu verlassen, aber sie kommen in einem Wasserfall um. Gespenstisch "bleiche" Vögel umschwirren sie als Vorboten des Todes. Zwischen Diesseits und Jenseits hat Pym eine verstörend-verzückende Vision. "Mitten in unserem Weg (erhob) sich eine verhüllte, menschliche Gestalt, doch weit gewaltiger in allen Maßen als die Kinder der Erde. Und ihre Haut war von weißer Farbe, von der Farbe des leuchtendsten, blendendsten ewigen Schnees..."

Menschen mit Nahtoderlebnissen, von denen wir wissen, kennen alle das plötzliche Aufscheinen eines hellen Lichts, meist am Ende eines Tunnels. Vögel und gleißendes Licht gehören zum Repertoire literarischer Todesdarstellungen. Erst das fiktive Nachwort des Autors fügt eine verschlüsselte Botschaft hinzu, die erst vor dem Hintergrund der Begegnung des weißen Mannes mit andersfarbigen Menschen und dem Imperialismus des 19. Jahrhunderts verständlich wird. Die Inselbewohner legen nämlich ein merkwürdiges Entsetzen beim Anblick weißer Gegenstände an den Tag. Weiß ist die Farbe des Verderbens. "Nicht Weißes war auf Tsalal und auf den benachbarten Inseln zu finden." Noch bevor die großen kolonialen Landnahmen des 19. Jahrhunderts eingesetzt hatten, verläuft die Begegnung zwischen Schwarz und Weiß bei Poe bereits katastrophisch. Die übermenschlich große, schneeweiße Gestalt ist nicht nur die Todesbotin der beiden Entdeckungsreisenden, sondern zugleich eine Allegorie für die "weiße", von den Inselbewohnern mit Grauen und Entsetzen wahrgenommene Zivilisation.

Am Ende des Jahrhunderts, 1899, schlägt ein anderer Großer der angelsächsischen Literatur, Joseph Conrad, den Bogen vom individuellen Horror seines Helden Kurtz zum politischen Grauen des bevorstehenden 20. Jahrhunderts. Im "Herzen der Finsternis" hatte der Elfenbeinhändler Kurtz der imperialistischen Gräuel zu viel getan und die Linie zwischen Ausbeutung und planvoller Ausrottung überschritten. In der Stunde des Todes entringt er sich die Worte: "Das Grauen, das Grauen". Aber in der Erinnerung eines Kollegen lebt er nicht als psychopathischer Schlächter, sondern als begnadeter Redner fort: "Bei Gott, wie konnte der Mann reden! Er riss ganze Versammlungen mit sich fort. Er hatte Glauben, verstehen Sie mich. ... Er konnte sich dazu bringen, alles zu glauben, einfach alles. Er hätte für eine extreme Partei einen glänzenden Führer abgegeben. (...) Irgendeine Partei... Er war ein - ein - Extremist."


Totalitarismus und die Kälte der Mathematik

Zu den bezwingendsten Erzählungen Poes gehört Die Grube und das Pendel, eine Geschichte von so ausgesuchter, wissenschaftlich kalkulierter Grausamkeit, dass dem Leser der Atem stockt. Es handelt sich bereits um eine anonyme, institutionelle Grausamkeit. Wie bei Kafka werden wir hineingestoßen in eine zeit- und ortlose Gegenwart, an deren Anfang "das Urteil" steht. Die Grausamkeit in Poes Erzählung spielt sich, ohne dass Personen sichtbar würden, im Kampf des Eingekerkerten mit einer Apparatur, dem messerscharfen Pendel, ab, dessen Schwingungen so berechnet sind, dass es ihn mitten ins Herz treffen muss.

Poe greift bei der Erzeugung von Spannung nicht, wie noch in der Romantik, auf übernatürliche Phänomene zurück, sondern auf die gleiche kalte, mathematische Präzision, mit der das Folterwerkzeug konstruiert worden ist. Über seine ästhetische Methode schreibt er, "dass kein Punkt (einer) Komposition auf Zufall oder Eingebung zurückzuführen ist - dass das Werk Schritt um Schritt mit der Präzision und strengen Folgerichtigkeit eines mathematischen Problems" entgegengeht.

Die Auflösung des Problems, und damit seine Überführung in die politische Realität, erfolgt erst am Ende der Erzählung. Zwei Sätze genügen dem Dichter, um die Rettung des Verurteilten durch die französischen Revolutionstruppen zu vermelden. Nun erst erfährt der Leser, wo sich das Geschehen abgespielt hat und durch wen: durch die spanische Inquisition in Toledo. Wäre Poe dies unwichtig gewesen, hätte er es weggelassen. Und er hätte auch das lateinische Motto weggelassen: "Hier nährte ein unheiliger Mob von Folterknechten mit unstillbarem Durst nach dem Blut Unschuldiger seinen langen Blutrausch. (...) Wo einst der Ort des schrecklichsten Todes war, herrscht nun Leben und Gesundheit." Dies habe, lässt Poe uns wissen, als Inschrift auf einem Tor zu dem Platz gestanden, auf dem sich der Jakobiner-Club von Paris befand. Ein mehr als ambivalenter Bezug - die Revolution als Sieg über die Inquisition und zugleich als Mutter eines blutrünstigen Mobs, auf den die anonyme Folter gerade verzichtet hatte. Was als Bekenntnis Poes zu Aufklärung und Fortschritt erscheint, kann auch als sein Gegenteil gelesen werden: Der Traum der Vernunft gebiert neue Ungeheuer. Die Inquisition bei Poe, die mit der realen wenig gemein hat, steht als Chiffre für einen modernen Totalitarismus, dessen anonyme, wissenschaftlich ausgeklügelte Praxis Poe noch nicht kennen konnte, aber visionär vorwegnahm.


Vorläufer der Moderne

Sein letztes, am wenigsten gelesenes Werk, Heureka (1848), ist ein kosmologischer "Essay über das materielle und spirituelle Universum". Darin vertrat Poe wissenschaftliche Positionen, die seiner Zeit voraus waren: Unser Universum ist endlich, es ist dynamisch, es expandiert, es ist zeitlich und räumlich begrenzt. Und es treibt unausweichlich dem Kollaps entgegen, bewegt sich doch die Welt seit dem Urknall nach den Prinzipien von Anziehung und Abstoßung. Ambivalenz und Widerspruch sind der Motor des materiellen und geistigen Lebens und kehren, gewissermaßen dialektisch, erst nach der Aufhebung der Entzweiung der ursprünglichen Einheit zu ihr und damit ins Nichts zurück. Angezogen und abgestoßen zugleich wird auch der Erzähler in Morella von der Titelfigur, die für Identitätsdiffusion und Reinkarnation steht. Pantheismus, die antike Lehre von der Wiedergeburt und Schellings Identitätslehre sind Poes, wiederum ambivalente, Antwort auf das unausweichliche Gesetz zur Auslöschung allen Lebens auf unserem Planeten. Wächst nämlich der Mensch über die Individuation und damit über sich selbst hinaus zu einem "allgemeinen Bewusstsein", so werden in zyklischer Abfolge neue Welten entstehen. Nietzsches "ewige Wiederkehr" und der Gedanke des Übermenschen kündigen sich bei Poe an. Seine Arbeit hat er "mit tiefstem Respekt" Alexander von Humboldt gewidmet, dessen Werk Kosmos er im deutschen Original las. Was Humboldt für die physische Welt geleistet habe, habe er, Poe, um die metaphysische Dimension ergänzt.

Das Grauen ist bei Poe mehr als romantischer Nervenkitzel; es ist eine namenlose Ahnung am Beginn der Moderne, deren Realität im 20. Jahrhundert die kühnsten Visionen des Dichters übertroffen hat. Aber das Unheil kommt nicht von ungefähr. Weder ist es einem unausweichlichen Schicksal noch göttlicher Ungerechtigkeit geschuldet. Gott oder das Göttliche bezeichnen nur die Diffusion von Materie und Geist im Universum. Der Mensch ist sein eigener Gott und Schöpfer. Was wir das Böse nennen, haben wir selbst verursacht in Verfolgung eigener Absichten und flüchtiger Ziele - der Steigerung unseres Glücks. Wer darin aber eine subtile Kritik am amerikanischen Gründungsmythus, der pursuit of happiness, erkennen will, sieht sich abermals getäuscht. Sei das Böse nämlich als Menschenwerk erkannt, so Poe, dann werde es aushaltbar. "Unsere Seelen rebellieren nicht länger gegen ein Leid, das wir uns selbst auferlegt haben." Und wenn sie es doch tun?


Karin Priester (* 1941) lehrt Soziologie an der Universität Münster.
priestek@uni-muenster.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2009, S. 68-72
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. März 2010