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AKZENTE/110: China - Selbstkritische Literatur-Debatte (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2008

Selbstkritische Literatur-Debatte
Eine aufschlussreiche Erfahrung

Von Erning Zhu


Wie lebendig und kritisch das Kulturleben in China mittlerweile sein kann, zeigte die so genannte "Kubin-Debatte" im Jahr 2007. Sie hat in den deutschen Medien so gut wie keine Resonanz gefunden, obwohl sie einen besonders interessanten Einblick in die neuere Entwicklung des Landes bietet. Worum ging es?


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Alles begann mit einem falschen Zitat. Der Sinologe und Schriftsteller Wolfgang Kubin, ein weltweit bekannter Fachmann, gab kurz nach der Gründung des neuen chinesischen Schriftstellerverbandes Ende 2006 der 'Deutschen Welle' ein Interview. Schon vorher hatten sich seine Kommentare stets durch besonderen Witz und Schärfe ausgezeichnet. In diesem Interview klassifizierte der Bonner Professor die Werke einiger der international renommierten neuen chinesischen Autorinnen und Autoren kurz und bündig als "Müll". Diese Zuspitzung wurde in einer chinesischen Lokalzeitung in nochmals verkürzter Weise zitiert. Nun hieß es nicht mehr, die Produkte einiger der gefeierten neuen Autoren, sondern die ganze Gegenwartsliteratur des Landes sei Müll.

Bezeichnend ist schon, in welcher Windeseile sich der Name Kubin und das Zitat, zunächst auf zigtausenden Webseiten, kurz danach auch in Dutzenden Tageszeitungen, verbreiteten und zum Fokus einer Debatte über die chinesische Literatur und deren Qualität wurden. Es schien, als seien die ganze chinesische Literatur und deren gesellschaftliches Selbstverständnis in eine Sinnkrise gestürzt.

Mit dieser Wirkung hatte Kubin selbst natürlich nicht gerechnet. Während er dessen ungeachtet in einem zweiten Interview seine ursprüngliche Meinung nicht etwa abschwächte, sondern bekräftigte, ging die Literaturdebatte in China mit ungebremster Eigendynamik über Wochen hinweg weiter. Kubin begründet genauer, worum es ihm geht. Was er in China heute sieht, sind neben seichten Romanen vom Typ 'Shanghai Baby' auch noch Texte in nahezu faschistischer Tonlage, voran der Roman 'Wolfstotem', dessen Autor ohne Hemmungen Blut und Boden-Themen besingt.


Die Fortsetzung vor Ort

Im März 2007 war Kubin Teilnehmer des Weltkongresses der Sinologen in Peking. Dort traf er auf die gesamte kulturelle Elite Chinas. Er verfocht seine Thesen. Die neuere Literatur Chinas sei zwar gut, die Gegenwartsliteratur aber schlecht. Er nannte auch Gründe. Die Autoren arbeiteten wie Amateure und die meisten von ihnen hätten keinerlei Fremdsprachenkenntnisse. Das sorgte für Aufregung unter den Kulturschaffenden Chinas. Sie hielten dagegen. Einer der berühmtesten Literaturwissenschaftler, Professor Chen Pingyuan, von der renommierten Beida-Universität, hielt dem Kritiker vor, eine allzu isolierte Betrachtung zu haben, ohne das politische System und das gesellschaftliche Umfeld in Rechnung zu stellen, in dem die Literatur entsteht und sich ihre Wirkung entfaltet. Seine Kritik aber gipfelte in der Feststellung, dass eine so grobe und pauschale Verunglimpfung die Autoren der Gegenwartsliteratur, die gerade erst im Begriffe sind, neue Wege jenseits der alten Vorschriften auszuprobieren, unter Druck setze. Eine solche Kritik von außen, die den Kontext vernachlässigt, könne daher im Lande selbst nicht ernst genommen werden und sollte es auch nicht.

Ein anderer Teilnehmer der Debatte, der Philosophieprofessor Xiao Ying von der bekannten Qinghua Universität, gab der Debatte dann eine ganz andere Wendung. Er stellte sich Chen mit der Beobachtung entgegen, die jungen Schriftsteller litten in Wahrheit nicht unter zu viel, sondern unter zu wenig Druck. Sie seien oft von der raschen Begierde getrieben und auf den allzu schnellen Umsatzerfolg programmiert. Er nahm den Kritiker in Schutz und lieferte eigene Gründe. Den chinesischen Schriftstellern der Gegenwart fehle häufig der Mut, sich um die Realität ihres Landes wirklich zu kümmern. Sie wichen den realen Problemen aus und flüchteten sich in historische Themen oder seichte Geschichten.

Zu Wort meldete sich auch der bekannte Dichter Wang Jiaxin. Er verstand Kubins Kritik an den Fremdsprachenkenntnissen der Autoren so, dass damit hauptsächlich der Mangel eines breiteren kulturellen Horizontes bei ihnen gemeint sei. Dem sei im Grunde zuzustimmen. Kubins Kritik habe daher in jedem Falle einen Beitrag zur Schärfung der Maßstäbe, zur Sicherung der Werte und Normen guter Literatur geleistet. Die sei für das Selbstverständnis der chinesischen Gegenwartsliteratur durchaus eine Hilfe.

Die ganze Debatte hat dem in China bis dahin ohnehin nicht ganz unbekannten Kubin einen Zuwachs an Prominenz verschafft. War die Kenntnis seiner Person bis dahin auf den kleinen Kreis der Literaten und Literaturwissenschaftler beschränkt, so steht seine Bekanntheit heute der der Bundeskanzlerin Angela Merkel kaum noch nach. Mit Melancholie und Pessimismus aber hat Kubin selbst am Ende die ganze Debatte bewertet. In China gebe es zurzeit keine guten Romanciers und Essayisten, stattdessen nur einzelne gute Dichter, die sich aber nur am Rande der Gesellschaft bewegen könnten. "Ich fürchte", so sagte er der 'Deutschen Welle', "die Zukunft der chinesischen Literatur ist nicht besonders rosig". Sein Kommentar markiert sicher nicht das Ende der Debatte in China.


Eine neue Debatten-Qualität

So offen und kontrovers haben sich die Chinesen noch nie auf die Kritik eines Ausländers an ihren eigenen Angelegenheiten eingelassen. Immer wurden bisher die Kulturunterschiede und die Sprachbarrieren vorgeschoben, um die Behauptung zu rechtfertigen, dass sich eine Diskussion um solche Interventionen letztlich nicht lohne. Die Kubin-Debatte hat das schlagartig verändert. Aus der Ferne, mit wenigen Worten, wurde eine intensive Diskussion zu einer wichtigen Frage ausgelöst. Chinas Kultur schien geradezu auf diese Gelegenheit gewartet zu haben.

In diesem Fall waren es ohne Zweifel die besondere Sprachfähigkeit des Kritikers und seine genaue Kenntnis der chinesischen Situation, die die Ernsthaftigkeit und Bereitwilligkeit der Debatte möglich gemacht hatten. Seine hervorragenden Chinesischkenntnisse haben es ihm ermöglicht, sich zwischen zwei kulturellen Welten gedanklich und sprachlich frei zu bewegen und seinen Adressaten verständlich zu machen, worum es ihm geht. Und wer hätte es wagen wollen, den Autor einer 10-bändigen Geschichte der chinesischen Literatur in Zweifel zu ziehen.

Es war eine Art Krönung der ganzen Kontroverse, dass Kubin im Herbst 2007 den erstmals in China vergebenen Literaturpreis für seine Verdienste um die Kulturvermittlung erhielt. Der Kritiker selbst zeigte sich überrascht. Viele sind der Meinung, er habe seinen Preis gerade für seine Kritik an der chinesischen Gegenwartsliteratur bekommen. Vielleicht hat er das hochkomplexe Thema zu pauschal behandelt. Aber es ist sicher, dass seine Kritik dem Lande gut getan hat. Mit ihr hat die Gegenwartsliteratur in China begonnen, offen und grundlegend über sich und ihre Rolle in der Gesellschaft zu reflektieren.

Von besonderem Gewicht ist bei alledem, dass selten zuvor ein kulturelles Ereignis die Vitalität der sich neu herausbildenden chinesischen Öffentlichkeit so beflügelt hat. Darin liegt nicht nur ein Verdienst des Kritikers, sondern eine Hoffnung für China.


Erning Zhu (* 1964) ist Leiterin der chinesischen Online-Redaktion der Deutschen Welle in Bonn.
Erning.zhu@dw-world.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2008, S.49-51
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Mai 2008