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SPRACHE/686: Uns kann keena! - Oder doch? (Unimagazin Hannover)


Unimagazin Hannover - Ausgabe 03/04 - 2009
Forschungsmagazin der Leibniz Universität Hannover
Mitteilungen des Freundeskreises der Universität Hannover e.V.

Uns kann keena! - Oder doch?
Das Berlinische vor und nach dem Fall der Mauer

Von Prof. Dr. Peter Schlobinski


Berlin, 9. November 1989 - die Bürger der DDR erzwingen die Öffnung jenes "antifaschistischen Schutzwalls", der den Menschen den freien Zugang zum anderen Teil der Stadt verwehrt. Aber nicht nur eine physische Barriere wird überwunden, sondern auch eine politische, eine ideologische und eine symbolische Mauer. Auch eine sprachliche? Ein Linguist der Leibniz Universität Hannover geht dieser Fragestellung auf den Grund.


Kurz nach der Grenzöffnung äußert sich eine 22-jährige Studentin wie folgt: "Als ick nach Westberlin kam, dacht ick, ick bin jar nich mehr in Berlin. Keener berlinerte da richtich." Und eine Arbeiterin aus Westberlin meint: "Ach die Ossis. Wenn die sprechen. Also katastrophal. Dit Berlinern hört sich ordinär an. So richtich Proletensprache." Und heute? Sind die kommunikativen und sprachlichen Barrieren überwunden, die durch eine langjährige Trennung verursacht wurden oder gibt es eine 'Sprachmauer', wie der provokante Titel eines vor zehn Jahren erschienenen Buches behauptet?


Zur Situation vor 1989

In keiner anderen Metropole der Welt gab es die Situation, dass eine Sprachgemeinschaft politisch geteilt und eine Face-to-face-Kommunikation der Menschen untereinander zunächst gar nicht und ab 1971 nur begrenzt möglich war. Eine Sprachgemeinschaft - zwei Kommunikationsgemeinschaften, so haben Sprachwissenschaftler die soziolinguistische Situation auf den Punkt gebracht.

Über die Bedeutung der Teilung der Kommunikationsgemeinschaft auf der Basis divergierender Gesellschaftssysteme ist viel geforscht und spekuliert worden. Aufgrund von Wörterbuchvergleichen und Zeitungsanalysen konnten zahlreiche Sprachunterschiede festgestellt werden, die den politischen, bürokratischen und alltagssprachlichen Wortschatz betreffen: nichtpaktgebunden statt blockfrei, Saisonkrippe statt Kindergarten oder Kita, Einzimmer- versus Einraumwohnung sind einige Beispiele. In der Berliner Umgangssprache waren die sprachlichen Unterschiede weniger stark. Da is urst wat los oder urste Schnitte hieß bei Westberliner Jugendlichen da is echt/irre wat los oder scharfe Tussi. Aber o.k., Show oder flippen wurde hüben und drüben gebraucht, als hätte es kein Diesseits und Jenseits der Mauer gegeben.


Woher das ostberlinische und jugendsprachliche Wort urst kommt, ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Ich vermute, dass hier ein lautlich reduzierter Superlativ von jugendsprl. urig (klasse, dufte, irre) vorliegt. urig wird berlinisch urich/urüsch ausgesprochen, also urichst/urüschst > urst. Möglicherweise Bezug zu urschen, Nebenform zu orschen (verschwenderisch umgehen), verzeichnet im Brandenburg-Berlinischen Wörterbuch. Andere Erklärungen: urst sei abgeleitet vom Französischen ours (Bär), eine vom sächsischen und preußischen Adel übernommene Form des Erstaunens, beziehungsweise ist Superlativ zu ur-: am ursten > urst.


Interessant sind die Untersuchungsergebnisse zum Lautstand des Berlinischen. Es konnte nachgewiesen werden, dass im Ostberliner Bezirk Prenzlauer Berg sich der Berliner Dialekt wesentlich stärker erhalten hatte als in irgendeinem westlichen Teil der Stadt. Und auch einzelne Dialektmerkmale wie ßu für zu oder ein besonders offenes a für -er wie in Mutter, die im Westen der Stadt abgebaut waren, konnten dort nachgewiesen werden. Wie erklärt sich, dass im Ostteil der Stadt das Berlinische lebendiger geblieben war? Zum einen spielt die Sozial- und Stadtstruktur eine wichtige Rolle. In einem Bezirk wie dem Prenzlauer Berg, einem traditionellen Arbeiterbezirk, war die Bevölkerungsstruktur relativ homogen und stabil, die sozialen Netzwerke eng, ethnische Migration fand praktisch nicht statt. Und in Ostberlin wurde der Berliner Dialekt - anders als im Westteil der Stadt - positiv bewertet. Als Sprache mit "hauptstädtischem Prestige", so formulierte es der Berliner Sprachwissenschaftler Helmut Schönfeld einmal, nahm das Berlinische einen besonderen Platz ein, während die Ostberliner das Sächsische besonders stigmatisierten.

Und nach der Wende? Wie entwickelten sich die sprachlichen Verhältnisse in der nunmehr vereinten Sprachund Kommunikationsgemeinschaft?


Zur Situation seit 1990

Der Akt der Revolte auch als Befreiung von Politjargon und Worthülsen wird deutlich in der Rede der Schriftstellerin Christa Wolf bei der Ostberliner Demonstration am 4. November 1989: "Wir drehen alte Losungen um, die uns gedrückt und verletzt haben, und geben sie postwendend zurück [...] Ja, die Sprache springt aus dem Ämter- und Zeitungsdeutsch heraus, in das sie eingewickelt war, und erinnert sich ihrer Gefühlswörter ". Wörter der Wendezeit wie Montagsdemo, sanfte Revolution, Wendehals, Mauerspecht, Blockflöte spiegeln den Aufbruch auch sprachlich wider.

In der Nachwendezeit wird der Politwortschatz der DDR ebenso wie der institutionelle systematisch abgebaut: Mit dem Verschwinden des Delikatladens verschwindet auch der Begriff, das Team ersetzt das Kollektiv, die Kita die Krippe, eine Reihe von Straßen und U- und S-Bahnhöfen wird umbenannt, so zum Beispiel die vom Alexanderplatz nach Norden verlaufende Hans-Beimler-Straße zu Otto-Braun-Straße. Allerdings wurde dieser einseitige Sprachgebrauchswandel auch als eine Form westlicher Sprachlenkung erfahren und verarbeitet, als ein Dominanzverhalten des Besserwessis mit dem Resultat des Phänomens der Ostalgie, auch der sprachlichen Ostalgie. Noch heute markiert der Broiler Sprachloyalität, während der Hamburger die Grillette völlig verdrängt hat. Eines kann man heute mit Sicherheit sagen: Der DDR-spezifische offizielle und Politwortschatz hat nur partiell in reaktionär-linken Milieus überlebt.

Die Prozesse von Sprachvariation und -wandel sind in der Tendenz Anpassungen an den westdeutschen Sprachgebrauch und Resultat hoher gesellschaftlicher Dynamik. Dies reflektiert sich auch in der alltäglichen Umgangssprache und am Dialektgebrauch. Zum einen lassen sich im Ostteil der Stadt Anpassungsprozesse an das Hochdeutsche beziehungsweise gehobene Berlinisch' beobachten, zum anderen weiterhin starker Dialektgebrauch. In Studien konnte nachgewiesen werden, dass Kleinkinder und jüngere Schüler in Ostberlin das Berlinische gewöhnlich nicht mehr (so ausgeprägt) sprechen, da der Dialekt im Umgang mit ihnen in Kitas und Schulen sowie von vielen Eltern möglichst vermieden wird. Erst ab der 7./8. Klasse wird das Berlinische stärker verwendet. Zahlreiche Ostberliner haben ihren Dialektgebrauch verändert, indem sie weniger stark berlinern und/oder den Dialekt situativ differenziert gebrauchen. Mit den objektiven Veränderungen des Dialektgebrauchs geht einher, dass das Berlinische nicht mehr als Prestigedialekt gesehen wird: "In Ostberlin ist die fast generelle Tendenz zur positiven Bewertung des Berlinischen und seiner Verwendung [...] nicht mehr vorhanden" (Schönfeld 2001: 181). Stattdessen wird Dialektgebrauch als Stigmatisierung wahrgenommen, besonders in den 90er Jahren. Eine 25-jährige Ostberliner Studentin berichtet: "In de Disco in Westberlin fühl ick mich richtich unwohl. Ick trau mich kaum, 'n Mund aufzumachen, weil ich sonne Hemmungen habe davor: Guck mal, die da aus 'm Osten. [...] Die im Westen, die sprechen schon ganz anders. Man merkt das am Hochdeutschen. Wir berlinern ja ziemlich stark" (Schönfeld 1996: 89).

Die Veränderungen im Dialektgebrauch und der Einstellung ihm gegenüber haben verschiedene Gründe. Anpassung an die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse, Aufstiegsorientiertheit im beruflichen Bereich, Distanzierung vom 'alten' Sprachgebrauch und das Aufbrechen sozialer und kommunikativer Netzwerke sind dynamische Faktoren des zu beobachtenden Sprachwandels. Der Einflussfaktor 'Wandlung des sozialen Gefüges' auf das Berlinische lässt sich nirgendwo besser beobachten als im Prenzlauer Berg. Früher Arbeiterbezirk, in dem ein starkes Berlinisch weithin gebraucht wurde, leben heute viele Studenten, Künstler, Familien und Gemeinschaften aus allen Teilen Deutschlands dort. Mit dem Zuzug haben sich zunehmend die sozialen Milieus verändert, sodass die angestammte Bevölkerung partiell verdrängt wurde und alte Netzwerkstrukturen aufbrachen. Die Folge ist ein Abbau des Dialekts und eine Veränderung von Sprachnormen und sprachlicher Identität.

Die 'Sprachmauer' ist durchlässiger geworden. Und parallel zu den strukturellen und sozialen Ausgleichsprozessen gehen die sprachlichen Ausgleichsprozesse voran. Diese Prozesse sind gerichtet: in erster Linie von Ost nach West. Die Dynamik des Sprachwandels ist in den Ostbezirken deutlich stärker als in den westlichen. Auf der anderen Seite ist zu beobachten, "dass bei Ostberlinern, die durch unverändertes berufliches und familiäres Umfeld nicht zum Umdenken gezwungen sind, meistens auch keine Anpassung in Richtung der Sprachgewohnheiten aus dem andern Stadtteil erfolgt" (Schönfeld 2001: 182). Dennoch hat sich bis heute der Dialekt im Ostteil der Stadt deutlich stärker erhalten, aber die sozioregionale Differenzierung nimmt zu.


Die Situation nach 2009?

Es ist immer schwierig, ja unmöglich, Sprachvariations- und -wandelprozesse zu prognostizieren, und die Ausgleichsprozesse beim Gebrauch des Berlinischen verlaufen differenziert und auch widersprüchlich, aber ich wage folgende Thesen:

1. Die 'Sprachmauer' wird zukünftig keine entscheidende Rolle mehr spielen. Stattdessen sind soziolinguistische Parameter wie Netzwerkstrukturen, Migrationsbewegungen, Subund Teilkulturen und weiteren Faktoren, die Sprachvariation und Sprachwandel bewirken. Das Berlinische wird weiter abgebaut und in Berlin in differente Soziolekte zerfallen. Dialektabbau bedeutet: Quantitativer Rückgang und qualitativ Wegfall oder Ersetzung von 'Reliktmerkmalen'.

2. Gleichzeitig wird sich das Berlinische als Umgangssprache im berlin-brandenburgischen Raum weiter stabilisieren, sodass sich eine Berliner Umgangssprache (schwaches Berlinisch) als eine Art sprachliches Dach und darunter mehr oder weniger stark ausgeprägte Dialektvarianten stabilisieren.

3. Trotz des Hauptstadtfaktors wird das Berlinische nicht (mehr) als Prestigedialekt bewertet werden, sondern - wie zuvor im Westen - neutral oder negativ konnotiert. Allerdings wird es soziale Milieus geben, in denen das Berlinische positiv bewertet wird und sich Sprecher gegenüber dem Dialekt loyal verhalten.

Aber wie der Berliner sagt: Nüscht Jenauet is nich raus!


Prof. Dr. Peter Schlobinski Jahrgang 1954, ist seit 1995 Professor für Sprachwissenschaft am Deutschen Seminar der Philosophischen Fakultät an der Leibniz Universität Hannover. Kontakt: peter. schlobinski@germanistik. uni-hannover.de


Literatur

• Dittmar, Norbert & Ursula Bredel (1999). Die Sprachmauer. Die Verarbeitung der Wende und ihrer Folgen in Gesprächen mit Ost- und WestberlinerInnen. Berlin: Weidler Verlag.

• Hellmann, Manfred et al. (Hg., 2008). Sprache und Kommunikation in Deutschland Ost und West: Ein Reader zu fünfzig Jahren Forschung. Hildesheim: Georg Olms Verlag (= Germanistische Linguistik 192-194)

• Schönfeld, Helmut (1996). "Heimatsprache, Proletendeutsch, Ossi-Sprache oder? Bewertung und Akzeptanz des Berlinischen. In: Von 'Buschzulage' und 'Ossinachweis'. Ost-West-Deutsch in der Diskussion. Hg. von Ruth Reiher & Rüdiger Läzer. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag, S. 70-93.

• Schönfeld, Helmut (2001). Berlinisch heute. Kompetenz - Verwendung - Bewertung. Frankfurt am Main: Peter Lang Verlag.


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Quelle:
Unimagazin Hannover, Ausgabe 03/04 - 2009, Seite 16-18
Forschungsmagazin der Leibniz Universität Hannover
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Februar 2010