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SPRACHE/678: Sprachliche Grenzgänge - Dialektverschiebung im thüringischbayerischen Raum (DFG)


forschung 2/2009 - Das Magazin der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Sprachliche Grenzgänge

Von Rüdiger Harnisch


Der "Eiserne Vorhang" durchschnitt nicht nur die Heimat - im thüringischbayerischen Raum verschob die Teilung auch die Dialekte der Menschen


Als 1989 der "Eiserne Vorhang" fiel, machten die zu beiden Seiten des Grenzsaums lebenden Menschen bei ihren ersten Begegnungen unterschiedliche Beobachtungen - auch zur Sprache ihrer jeweiligen Nachbarn "von drüben". Die Alten fühlten sich an Gemeinsamkeiten im Dialekt erinnert, wenn sie mit Gleichaltrigen aus den jenseitigen Nachbarorten sprachen. Die Sprache der jungen Generation jedoch klang ihnen fremd im Ohr. Wenn die Jüngeren wiederum mit ihren Altersgenossen auf der "andern" Seite sprachen, empfanden sie eine ähnliche Fremdheit. Doch die Alten von jenseits der "Grenze" hörten sich zum Teil wie ihre eigenen Eltern und Großeltern an.

Vor der Spaltung Deutschlands hatte es einheitliche, die spätere Grenze überlagernde Dialekträume gegeben. Ferner hatte die Abschottung der beiden Landesteile voneinander offenbar genügt, die vormals homogenen Sprachregionen einander zu entfremden. Vor diesem Hintergrund stellten sich für Sprachforscher viele Fragen, vor allem die, ob die befestigte politische Grenze zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland tatsächlich zu einer Sprachgrenze geworden war. Das nachforschende Projekt begann mit seinen Erhebungen in den frühen 1990er-Jahren: Die vergleichende Auswertung des erhobenen Materials unter Einbeziehung älterer Sprachdaten konnte zehn Jahre später erfolgen.

Der gesellschaftspolitische Nebeneffekt dieser sprachwissenschaftlichen Forschungen liegt auf der Hand: Wenn die Bewohner des Grenzgebiets erkennen, dass die Menschen vor der Spaltung "mit einer Zunge" gesprochen hatten, könnte nach dem Niederriss der Metallzäune leichter wieder "zusammenwachsen, was zusammengehörte". Doch wie konnten die Studien nachweisen, dass es diese alten dialektalen Gemeinsamkeiten wirklich gegeben hatte und es in den Jahrzehnten der Teilung zu sprachlichen Auseinanderentwicklungen genau an der Demarkationslinie gekommen war?

Die aktuelle Sprachsituation gleich nach dem Ende der DDR konnte durch dialektologische Feldforschungen dokumentiert werden. Diese mussten allerdings sofort gestartet werden, in der sprachlichen "Stunde Null". Dieser sprachliche Zustand würde auch die Vergleichsgröße für alle Entwicklungen abgeben, die sich nach der Wiedervereinigung einstellten.

In dieser Situation fanden sich 1990 zwei dialektologische Institutionen zusammen, deren wissenschaftliches Interesse von unterschiedlichen Seiten bis an die "Grenze" reichte: das "Thüringische Wörterbuch" in Jena und der "Sprachatlas von Nordostbayern" in Bayreuth. Die DFG förderte das Projekt zur "Erhebung der Dialektsituation im thüringisch-bayerischen Grenzgebiet". Zwischen 1991 und 1994 wurde in elf Ortspaaren entlang der Grenze Sprachmaterial erhoben, darunter im vormals geteilten Dorf Mödlareuth. Der Ort erlangte Berühmtheit, als US-Vizepräsident George Bush sen. am 5. Februar 1983 den westlichen Ortsteil besuchte. "Little Berlin" machte von sich reden und wurde weltweit bekannt.

Als sprachliche Gewährsleute wurden in den Orten gebürtige oder seit frühester Kindheit im Ort wohnende Personen ausgewählt, die auf vier Altersgruppen verteilt waren. Doch zunächst gab es "Vorfragen" zu beantworten: Welche sprachlichen Eigenheiten versprachen eigentlich Auskunft in der Forschungsfrage? Welche sprachlichen Daten waren also sinnvollerweise zu erheben? Die "Staats-Wortschätze" jedenfalls (etwa amtliche Begriffe wie "Fahrerlaubnis" in der DDR und "Führerschein" in der Bundesrepublik) interessierten nicht. Denn hier waren Unterschiede zu erwarten. Es mussten vielmehr Merkmale sein, die das gesamte Sprachsystem durchzogen: Aussprache, grammatische Formen, Alltagswörter.

Sie wurden vorwiegend anhand eines Fragebogens ermittelt, der auf die Dialektmerkmale der einzelnen Ortspaare in West und Ost zugeschnitten war. Zur Kontrolle der erfragten Daten wurde ferner eine freie Erzählung angestoßen, in der die Gewährspersonen schildern sollten, wie sie die Grenzöffnung erlebt hatten. Es sei nur am Rande bemerkt, dass sich darunter ergreifende Erzählungen befinden, die für die Geschichtsschreibung, namentlich für die Oral History über die "Wende-Zeit", wertvolles Material bereithalten.

Mit dem Abschluss der Feldforschungen war zwar die sprachliche Realität der Gegenwart erfasst, doch um feststellen zu können, ob der "Eiserne Vorhang" tatsächlich eine neue Dialektgrenze hervorgebracht hatte, waren Vergleichsdaten aus der Zeit vor der Grenzziehung vonnöten. Hier war man in der glücklichen Lage, auf Originalmaterial einer dialektgeografischen Dissertation von 1938 zurückgreifen zu können. Vergleichend herangezogen werden konnte zudem das Material, das im Rahmen des Projekts "Sprachatlas von Nordostbayern" erhoben worden war. Dadurch, dass in der Untersuchung aus der Vorkriegszeit und im Sprachatlasprojekt die ältesten Sprechergenerationen und im Nach-Wende-Projekt alle Generationen erfasst wurden, reichen die Geburtsjahre der Gewährsleute und die Lebensabschnitte, in denen sie sprachlich geprägt wurden, von der deutschen Kaiserzeit bis in die 1970er-Jahre.

Das zu Beginn der 1990er-Jahre gesammelte Material musste seiner Auswertung einige Zeit harren, da die Institutionen, die es erhoben hatten, in den Folgejahren von ihren Kernaufgaben (Wörterbuch- beziehungsweise Sprachatlasarbeit) in Beschlag genommen waren. Erst seit Ende 2005 konnte in einem wiederum von der DFG geförderten Folgeprojekt an der Universität Passau die Daten weiter untersucht und mit dem Sprachmaterial aus der Vorkriegszeit verglichen werden. Dabei ließ sich die Ausgangshypothese von der sprachgrenzbildenden Wirkung der befestigten Grenze zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland in diesem Grenzabschnitt mehrfach erhärten.

Sprachgeografische Forschungen in den letzten beiden Jahrzehnten hatten zwar gezeigt, dass politische Grenzen zwischen Staaten mit gleicher oder eng verwandter "Dachsprache" (zum Beispiel zwischen Deutschland und Österreich oder den Niederlanden) deckungsgleiche Sprachgrenzen in vorher grenzüberschreitende homogene Dialektlandschaften legen können. Allerdings hatten sich solche Prozesse immer über Jahrhunderte erstreckt und gingen in relativ offenen Grenzgebieten vor sich. Im Falle der deutsch-deutschen Grenze waren sie aber nur von vergleichsweise kurzer Dauer. Diese kurze Zeit unterbundenen Kontakts wurde jedoch offensichtlich durch die Hermetik eines bis dato nicht dagewesenen Typs von Grenze aufgewogen.

Exemplarisch seien drei sprachliche Phänomene angeführt. In ihnen tritt die allmähliche Ausrichtung der Dialektgrenze an der ehemaligen Staatsgrenze zutage. "Allmählich" heißt hier, dass sich dieser Prozess von Generation zu Generation deutlicher abzeichnet. Als Beispiele ausgewählt wurden drei Kriterien der Aussprache. Schließlich wird diese mit jeder sprachlichen Äußerung "ohrenfällig" und prägt den sprachlandschaftlichen Eindruck am stärksten.

Ein erstes Merkmal ist die sogenannte "Zentralisierung", bei der die Vokale alle etwas weiter zur Mitte des Mundraums hin gebildet werden. Diese Vokalfärbung ist ein wesentliches Merkmal dessen, was man gemeinhin als "Sächseln" bezeichnet. In Orten auf der bayerischen Seite, die dieses Merkmal früher auch hatten, wurde es von den Jüngeren aufgegeben. Es war im Westen ein Exotikum, das von den fränkischen Dialekten des Hinterlands abstach. Darüber hinaus galt es im Gebiet der alten Bundesländer als "DDR-typisch" und war deshalb anrüchig. Dagegen stellte es auf thüringischer Seite, wo es nicht nur durch die angrenzenden sächsisch-thüringischen Dialekte, sondern auch durch die mitteldeutsche Umgangssprache und das regionale Hochdeutsch gestützt wurde, kein stigmatisiertes Dialektmerkmal dar und blieb erhalten.

Ein zweites lautliches Merkmal ist die Aussprache des "r"-Lautes. Dessen Grenzverlauf mäanderte vor der Spaltung über die spätere politische Grenze hinweg und vereinnahmte mal Gebiete Thüringens in den fränkischen Sprachraum, mal Gebiete Bayerisch-Frankens in den thüringischen Sprachraum. Im Laufe der Generationen hat sich das thüringisch anmutende hintere [R] aus ehemals westlichen Orten ebenso an die frühere Staatsgrenze zurückgezogen wie das fränkisch anmutende vordere [r] aus ehemals östlichen Orten. Als drittes Beispiel kann das Merkmal vokalischer Zwielaute dienen, die in Wörtern wie "Wejs" (Wiese), "gejßn" (gießen) und "Stoub" (Stube), "Fouß" (Fuß) beiderseits der späteren innerdeutschen Grenze gesprochen wurden. Dieses Merkmal geben die Jüngeren im Osten auf. Dagegen hält im Westen immerhin noch ein Drittel dieser Generation an der alten Vokalaussprache fest.

An den Beispielen sieht man, dass sich eine neue Sprachgrenze auf zweierlei Weisen gebildet haben kann: Entweder haben sich die Bevölkerungen beiderseits der Grenze in das jeweilige dialektale Hinterland umorientiert. Oder es hat auf den beiden Seiten der politischen Grenze unterschiedliche Grade von "Dialektabbau" zugunsten von überregionaler Umgangssprache oder Hochsprache gegeben.

An der ehemaligen innerdeutschen Grenze gab es beides: die Erhaltung alter Merkmale manchmal im Westen (zum Beispiel die Vokal-Aussprachen in "Wejs", "Fouß"), manchmal im Osten (etwa die Vokalzentralisierung). Immer aber ist dabei die alte grenzübergreifende Einheitlichkeit verloren gegangen. Fazit: Am "Eisernen Vorhang" entstanden neue sprachliche Binnengrenzen.

Es bleibt abzuwarten, ob sich die Tendenzen zur sprachlichen Auseinanderentwicklung an der ehemaligen Demarkationslinie verstärken oder ob die hier in 40 Jahren entstandenen sprachlichen Unterschiede nivelliert werden und sich wieder grenzübergreifende Dialekt-"Solidaritäten" bilden, wie sie schon einmal existiert hatten. Ein "weites Feld" für die grenzüberschreitende Dialektologie.

Prof. Dr. Rüdiger Harnisch forscht und lehrt an der Universität Passau.

Adresse: Lehrstuhl für Deutsche Sprachwissenschaft, Innstraße 25, 94032 Passau

Die Studien wurden von der DFG in der Einzelförderung unterstützt.

www.phil.uni-passau.de/germanistik/sprachwis1/sprig.htm


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Quelle:
forschung 2/2009 - Das Magazin der Deutschen Forschungsgemeinschaft, S. 13-15
mit freundlicher Genehmigung des Autors
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Dezember 2009