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SPRACHE/453: Menschliche Kognition besser verstehen (Uni Potsdam)


Portal - Die Potsdamer Universitätszeitung 1-3/2007


Menschliche Kognition besser verstehen
Sprachwissenschaftlicher Sonderforschungsbereich soll ab Juli in die zweite Phase gehen.

Mit Prof. Dr. Caroline Féry von der Uni Potsdam unterhielt sich Portal-Redakteurin Petra Görlich

Im Jahr 2003 richtete die Deutsche Forschungsgemeinschaft den Sonderforschungsbereich "Informationsstruktur. Die sprachlichen Mittel der Gliederung von Äußerung, Satz und Text" an der Universität Potsdam ein. Er widmet sich der Frage, wie Informationsstruktur in verschiedenen Sprachen ausgedrückt wird, welche Einflüsse Informationsstruktur auf die universelle und sprachabhängige Grammatiken hat und wie sie sich bei Verarbeitung und Erwerb von Sprache auswirkt. 13 Projekte mit insgesamt 40 Wissenschaftlern sind involviert. Gemeinsam arbeiten Forscher aus den Bereichen der Linguistik und Psycholinguistik der Universität Potsdam und der Humboldt-Universität zu Berlin in verschiedenen Teilprojekten zusammen. Mit der Sprecherin des Sonderforschungsbereichs, Prof. Dr. Caroline Féry von der Uni Potsdam unterhielt sich Portal-Redakteurin Petra Görlich.


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Portal: Im Sonderforschungsbereich wird zu einer für viele "trockenen" Materie gearbeitet. Was ist für Sie dennoch das Faszinierende daran?

FÉRY: Sprache ist Teil der menschlichen Kognition. Wie sich Sprache entwickelt, welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten Sprachen aufweisen, und wie sich diese Ähnlichkeiten und Unterschiede auf die individuelle Grammatik niederschlagen, all das ist die beste Tür zu unseren kognitiven Fähigkeiten. Das Thema "Informationsstruktur" eignet sich hervorragend, um diese Aspekte zu untersuchen. Es handelt sich dabei darum zu verstehen, wie wir unseren Gesprächspartnern mitteilen, welche Informationsteile im Satz neu und hervorgehoben sind und welche eher zum Hintergrund gehören. Die Sprachen unterscheiden sich in den grammatischen Mitteln, die sie zu diesem Zweck benutzen.


Portal: Die Forschungen erfolgen an einer ganzen Reihe von Projekten. Auf welche Weise gehen die Linguisten die Thematik an?

FÉRY: Die Teilprojekte des Sonderforschungsbereiches haben unterschiedliche Interessen, die sich mit der gleichen Hauptthematik der Informationsstruktur auseinandersetzen: Es geht um formale Aspekte der Grammatik wie Phonologie, Phonetik, Syntax und Semantik, um vergleichende Studien zu Einzelsprachen, um Diachronie, das heißt die historische Entwicklung der Sprache, um Sprachverarbeitung, Spracherwerb und Datenmanagement. Jedes Projekt ist Teil eines Projektverbundes mit gemeinsamen Interessen. Die Kooperation zwischen den Mitarbeitern ist in unserem Sonderforschungsbereich zentral, und die Kompetenzen der Einzelnen helfen auch Nachbarprojekten.


Portal: Was ist eigentlich der Hintergrund der gestellten Thematik?

FÉRY: Unter Noam Chomskys Einfluss hat eine starke Modularisierung und Einteilung der Sprachwissenschaft stattgefunden. So hat lange die Meinung vorgeherrscht, dass Phonologie (das Studium der lautlichen Struktur der Sprache) und Syntax (das Studium der Wortstellung) getrennte Disziplinen sind, die nur wenig miteinander zu tun haben. Das Thema Informationsstruktur zwingt uns, dieses Bild zu revidieren: Wenn man eine Frage wie "Wen hat Anna geküsst?" mit dem Satz "PETER hat sie geküsst" beantwortet, ist das Objekt "Peter" akzentuiert und im Satz vorangestellt. Die Akzentuierung sowie die Voranstellung sind Folgen der so genannte Fokussierung des Worts "Peter". Informationsstruktur, Syntax und Phonologie können nicht mehr so leicht als getrennte Teile der Grammatik betrachtet werden. Vielmehr wirken sie zusammen, um eine kohärente Satzstruktur, Melodie und Betonungsstruktur zu ergeben.


Portal: Welche Ergebnisse liegen derzeit zum Beispiel vor, und welche Relevanz besitzen sie?

FÉRY: Das möglicherweise wichtigste Ergebnis des Sonderforschungsbereiches ist die Existenz einer Datenbank, die informationsstrukturelle Daten in zahlreichen Sprachen enthält. Zu diesem Zweck wurde ein Questionnaire entwickelt, der dazu dient, natürliche und gesprochene Sätze von Muttersprachlern zu elizitieren. Die Sätze, die mit Hilfe des Questionnaires ausgesprochen werden, haben dann genau die Eigenschaften, die uns im Sonderforschungsbereich interessieren. Der Questionnaire wurde in der ersten Phase an 15 Sprachen getestet und erprobt. Diese Daten liefern uns ein unschätzbares Instrumentarium, um zu studieren, wie sich Sprachen hinsichtlich ihrer informationsstrukturellen Charakteristika unterscheiden.


Portal: Das Team forscht bereits seit 2003. An welchem Punkt ist es angelangt?

FÉRY: Die erste Phase des Sonderforschungsbereiches läuft Ende Juni diesen Jahres aus. Die letzten Monate des Jahres 2006 wurden der Vorbereitung des Antrags für die zweite Phase gewidmet. Im März findet die Evaluierung des Vorhabens statt. Wenn alles gut läuft, können wir ab Juli 2007 die zweite Phase antreten. Ein Sonderforschungsbereich ist ein langfristiges Unternehmen, in welchem langatmige Forschungen geplant und durchgeführt werden. Nach der zweiten Phase ist auch eine dritte (und letzte) vorgesehen. Die meisten Projekte sind so eingerichtet, dass sie genug Forschungsgegenstände für die zwölf Jahre geplant haben.


Portal: Sprachwissenschaftliche Grundlagenforschung erscheint nicht gleich auf den ersten Blick praxisorientiert. Auf den zweiten schon. Wem also dienen die zu treffenden Aussagen?

FÉRY: Der Sonderforschungsbereich kann auf den Gebieten der Methodologie der Datenelizitierung und des Datenmanagements enorme Fortschritte vorweisen. Unser Questionnaire ist schon jetzt ein Standard in der Disziplin geworden. Ich gehe aber davon aus, dass Sie eher praktische Aspekte ansprechen. Tatsächlich sind auch bei unseren Grundlagenforschungen die Anwendungen nicht immer sofort sichtbar. Langfristig versprechen wir uns aber davon, dass unser Sonderforschungsbereich Verbesserungen im Bereich der Textdarstellungen, Text-to-Speech-Systeme sowie maschinellen Übersetzungen erbringen kann. Er hat den großen Vorteil, dass er Methoden der Korpuslinguistik mit experimentellen Methoden der Psycholinguistik verbindet. Weitere Anwendungen der Ergebnisse sind die Entwicklung von Ressourcen und Software für den fortgeschrittenen Fremdsprachenunterricht und für die Sprachsynthese.

Nicht zuletzt können die Ergebnisse der Grundlagenforschung des Sonderforschungsbereiches für die Verbesserung von Diagnosen und Therapien bei Sprachentwicklungsstörungen herangezogen werden.


Portal: Vielen Dank für das Gespräch.

(Weitere Informationen zum Sfb unter: www.sfb632.uni-potsdam.de


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Quelle:
Portal - Die Potsdamer Universitätszeitung Nr. 1-3/2007, Seite 16-17
Herausgeber:
Referat für Presse-, Öffentlichkeits- und Kulturarbeit (PÖK)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. März 2007