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MEDIEN/145: Wissen und Information im Zeitalter des Internets (UNESCO heute)


UNESCO heute 1/2008 - Zeitschrift der Deutschen UNESCO-Kommission

Wissen und Information im Zeitalter des Internets

Von Gabi Reinmann


Die Informationsflut im Internet steigt unaufhörlich. Aber steigt damit auch die Menge und Qualität des Wissens der Internetnutzer? Was ist der Unterschied zwischen Information und Wissen, zwischen öffentlichem und personalem Wissen? Der folgende Artikel klärt die Begrifflichkeiten und fragt, inwieweit Wissen über das Internet vermittelt werden kann.


Wissen - was ist das?

Wissen - das ist ein Wort, das wir auch in der Umgangssprache häufig verwenden: Wir sprechen davon, Wissen in der Schule erworben zu haben, und meinen damit Kenntnisse, manchmal auch Fähigkeiten. Wir gehen davon aus, dass Enzyklopädien wissenschaftliches Wissen enthalten, und meinen damit dokumentierte Ergebnisse des Denkens und Handelns von Forschern aus aller Welt. Wir sagen, dass wir um die Bedeutung einer Sache wissen, und meinen damit, verstanden zu haben, dass etwas wichtig ist. Wenn wir darauf verweisen, dass uns das Leben wissender macht, meinen wir die Erfahrung, die wir sammeln; manchmal geben wir diese in Wort, Schrift oder Bild an andere weiter. Und all das ist Wissen? Auf diese Frage gibt es keine einfache Antwort: Manche bestreiten, dass dokumentierte Forschungsergebnisse und die in Wort, Text oder Bild gegossenen Erfahrungen Wissen sind, und gestehen diesen lediglich den Status der Information zu. Diese begriffliche Unsicherheit schlägt sich auch in der Kontroverse nieder, ob unsere Gesellschaft eine Wissensgesellschaft oder nicht doch (nur) eine Informationsgesellschaft ist.

Die Theorie der Strukturgenese (Seiler 2008) betrachtet die Entstehung von Wissen im Menschen genauer. Danach ist menschliches Denken und Handeln weder vorgegeben, noch entsteht es aus einer einfachen und schrittweisen Abbildung von Wirklichkeit. Vielmehr konstruiert jedes erkennende Subjekt sein Wissen selbst. Erkenntnisstrukturen, die dem Wissen zugrunde liegen, werden aufgebaut, auf die erfahrene soziale und gegenständliche Umwelt angewendet (Assimilation) und an das Erfahrene nach und nach angepasst (Akkomodation). Dieser Vorgang verläuft langsam, kontinuierlich und in Zyklen - ein Leben lang. Dabei beziehen sich Erkenntnisstrukturen nicht nur auf Wahrnehmen, Denken und Problemlösen, sondern auch auf das Wollen, Fühlen und wertbezogene Urteilen des Menschen.

Nun könnte man an dieser Stelle einwenden, dass Verständigung zwischen Menschen unmöglich wird, wenn alles Wissen subjektiv konstruiert ist. Man kann in der Tat nicht davon ausgehen, dass jemand genau dieselbe Bedeutung konstruiert, die ein anderer mit einer Äußerung gemeint hat. Die alltägliche Erfahrung ist voll von Beispielen für eine mangelnde Deckung des Wissens zwischen Personen: man redet aneinander vorbei, E-Mails werden fehlgedeutet, direkte und medienvermittelte Dialoge laufen aus dem Ruder. Dass Verstehen und Austausch trotzdem bis zu einem gewissen Grad möglich sind, liegt daran, dass viele Wissensinhalte sozial ausgehandelt, objektiviert und dann - zum Beispiel in Form von Dokumenten - materialisiert werden. Hier kommt eine Unterscheidung ins Spiel, die indirekt den Informationsbegriff in die Diskussion bringt: nämlich die zwischen personalem und öffentlichem Wissen.


Information und Wissen - wo ist der Unterschied?

Personales Wissen zeichnet sich dadurch aus, dass es zunächst nur der jeweiligen Person selbst zugänglich ist. Es kann aber unterschiedlich beschaffen sein und seine Beschaffenheit ändern:

• Ein Teil des personalen Wissens entsteht aus konkretem körperlichen Tun und zeigt sich nur im Handeln oder Problemlösen. Dieses enaktive Wissen (Handlungswissen) ist dem Bewusstsein meist nicht (mehr) zugänglich, es ist "stilles" Wissen und weit davon entfernt, sprachlich artikuliert zu werden.

• Wissen, das unabhängig von Wahrnehmungen und Handlungen in der Vorstellung aktiviert werden kann, nennt man intuitives oder bildhaftes Wissen. Es ist vorbegrifflich, kann ebenfalls noch nicht sprachlich artikuliert werden und stützt sich auf bildliche Vorstellungen und erfahrene Beziehungen.

• Für die Entwicklung von Erkenntnistätigkeit ist das begriffliche Wissen entscheidend. Dieser Teil des personalen Wissens entsteht durch verschiedene Transformationen aus enaktivem und bildhaftem Wissen. Es ist bewusstseinsfähig und kann explizit artikuliert, also auch sprachlich dargelegt werden.


Personales Wissen

ist dem Bewusstsein
ist sprachlich
Begriffliches Wissen
Bildhaftes Wissen

Enaktives Wissen
zugänglich
über Vorstellungen
z.T. zugänglich
nicht (mehr) zugänglich
artikulierbar
i.d.R. nicht artikuliert

nicht artikulierbar

Öffentliches Wissen ist Wissen, das im Gegensatz zum personalen Wissen nicht nur einer Person (der, die das Wissen hervorgebracht hat), sondern auch anderen prinzipiell zugänglich ist. Diese Form des Wissens lässt sich mit anderen teilen, weil es in irgendeiner Form materialisiert ist. Auch das öffentliche Wissen kommt in verschiedenen Ausprägungen vor:

• Kollektives Wissen ist für den Austausch von Wissen am wichtigsten. Es entsteht, wenn Menschen Bedeutungen aushandeln, verdichten, vereinheitlichen und systematisch durch Zeichen (vor allem durch Sprache) darstellen. Diese Form des Wissens kann man als Information bezeichnen. Wissen im objektivierten Zustand - also Information - ist ein in Zeichen "eingefrorenes" Wissen und kann von Individuen aktualisiert und verstanden werden, die wissen, was diese Zeichen bedeuten.

• Formalisiertes Wissen ist kollektives Wissen, das noch einmal nach festgelegten Kriterien und Zuordnungsregeln transformiert wird, sodass Daten entstehen, die sich elektronisch weiterverarbeiten und speichern lassen. Dies erfolgt jedoch ohne Steuerung und Kontrolle denkender Individuen.


Öffentliches Wissen

ist transformiert
wird weiter verarbeitet
heißt auch
Kollektives Wissen
Formalisiertes Wissen
in Zeichen
nach festen Regeln
durch menschlichen Dialog
in elektronischer Form
Information
Daten


Welchen Einfluss nimmt das Internet?

Jeder baut im Laufe seines Lebens personales Wissen auf. Welchen Umfang und welche Qualität dieses Wissen hat, ist Ergebnis einer Interaktion zwischen uns und unserer Umwelt, also auch dem jeweils öffentlich zugänglichen Wissen. Das war doch, so könnte man sagen, schon immer so. Was allerdings an Wissen tatsächlich öffentlich (gemacht) wird, unterliegt einer historischen Entwicklung und wird seit jeher durch technologische Errungenschaften enorm beeinflusst. So auch heute: Das im Internet verfügbare öffentliche Wissen wächst unaufhörlich, weil man es immer leichter, schneller und in größeren Mengen verbreiten kann und immer mehr Menschen darauf zugreifen. Die digitale Wissenswelt wächst aber auch deshalb, weil Nutzer des Internets im Vergleich zu früher öfter von der Konsumenten - in die Produzentenrolle wechseln und technische Werkzeuge zur Publikation von Wissen unkomplizierter werden - auch für den technischen Laien (Stichwort: Web 2.0). Nun könnte man auf die Idee kommen, man müsse das Internet nur sich selbst überlassen, und das öffentliche, vielleicht auch personale Wissen würde quasi selbstorganisiert seinen Weg finden. Dem ist allerdings nicht so.

Mehr denn je wird es für eine Gesellschaft wichtig, dafür zu sorgen, dass Menschen nicht nur über "nutzergenerierte Inhalte" verfügen, die rasch wachsen, ohne dass deren Qualität gesichert ist. Vielmehr muss auch der Zugang zu wissenschaftlichem oder didaktisch aufbereitetem Wissen möglichst vielen Menschen offen sein, damit jeder sein personales Wissen erweitern oder vertiefen kann. Genau das haben Bewegungen wie Open Educational Resources (OER) zum Ziel: Man kann den OER-Ansatz im weitesten Sinne als einen Wissensmanagement-Ansatz bezeichnen, geht es doch darum, öffentliches Wissen im Internet aufzufinden, transparent und zugänglich zu machen, es zu verbreiten, bei Bedarf für neue Zielgruppen aufzubereiten und zu nutzen. Von allein entwickelt sich ein solches Wissensmanagement in den seltensten Fällen. Es muss aktiv gestaltet, gefördert und letztlich auch "belohnt" werden; es muss sich für den Staat, die Hochschulen und andere Forschungs- und Bildungsinstitutionen wie auch für die forschenden und lehrenden Personen lohnen.

Der Einzelne kann sich dabei weder zurücklehnen und darauf hoffen, dass man ihm die freien Bildungsressourcen zuhause vorbeibringt, noch sollte er sich der Illusion hingeben, es genüge der Zugang zu öffentlichem Wissen als Ersatz für die mühsame Entwicklung eigenen personalen Wissens. Wer die im Netz verfügbare Information sinnvoll nutzen will, braucht Medien- und Informationskompetenz: Man muss geeignete Ressourcen finden, beurteilen, auswählen, verstehen und letztlich auch anwenden können. Aber Kompetenzen dieser Art allein genügen im Zeitalter des Internets nicht: Letztlich sind es das personale Wissen und Bildung, die dem Individuum die Chance geben, an einer Wissensgesellschaft aktiv zu partizipieren.


Prof. Dr. Gabi Reinmann ist Professorin für Medienpädagogik an der Universität Augsburg.


Literatur
Thomas Bernhard Seiler: Wissen zwischen Sprache, Information,
Bewusstsein. Probleme mit dem Wissensbegriff. MV Wissenschaft, 2008.
The Open Knowledge Foundation: The Three Meanings of Open:
www.okfn.org/three meanings of open/
Portal für Persönliches Wissensmanagement:
www.persoenlicheswissensmanagement.com

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Quelle:
UNESCO heute, Zeitschrift der Deutschen UNESCO-Kommission
Ausgabe 1/2008, S. 12-15
Herausgeber: Deutsche UNESCO-Kommission e.V.
Redaktion: Colmantstraße 15, 53115 Bonn
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E-Mail: sekretariat@unesco.de
Internet: www.unesco.de, www.unesco-heute.de

UNESCO heute erscheint halbjährlich.
Bezug frei.


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Juli 2008