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MEDIEN/135: Bollywood - Wenn Krishna tanzt (JOGU Uni Mainz)


JOGU Nr. 199, Februar 2007
Das Magazin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Wenn Krishna tanzt

Interview mit der Filmwissenschaftlerin Dr. Susanne Marschall


Während Bollywood seinem Namensvorbild Hollywood Konkurrenz macht, halten die Kritiker den Indien-Fans entgegen, sie ließen sich von naiven Herz-Schmerz-Produktionen jenseits westlicher Filmstandards verführen. Kenner des indischen Kinos kontern mit dem Vorwurf mangelnder Kompetenz. Dieses Argument hat auch die habilitierte Mainzer Filmwissenschaftlerin Dr. Susanne Marschall aufgegriffen. Sie plant die Einrichtung eines Forschungsschwerpunktes zum indischen Film und bereitet für das Sommersemester 2007 eine Tagung zum indischen Kino vor.


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JOGU: Warum ist "Bollywood" akademisch wertvoll?

MARSCHALL: Schon allein deswegen, weil "Bollywood" kein Synonym für den indischen Film ist. "Bollywood-Produktionen" werden Filme genannt, die in Mumbai, dem ehemaligen Bombay, produziert werden. Es handelt sich hier um kommerzielles Hindi-Kino, dessen Anteil am indischen Markt sehr hoch ist - Hindi ist ja die am häufigsten gesprochene indische Sprache. Doch auch in anderen Regionen des Kontinents entstehen viele Filme, etwa in Bengalen oder Südindien, und bei weitem nicht alle Produktionen folgen den ästhetischen Vorgaben "Bollywoods".... dessen Qualität übrigens oft unterschätzt wird.

JOGU: Allein der Begriff "Bollywood" polarisiert. Es gibt eigentlich nur "Bollywood"-Fans und "Bollywood"-Gegner...

MARSCHALL: ... und die Fans ahnen, warum sie "Bollywood" mögen.... Ich bin davon überzeugt, dass die Ästhetik dieser Filme selbst dann ihre Wirkung entfaltet, wenn die Zuschauer nichts über die komplexen visuellen Erzählstrategien des Hindi-Kinos wissen.

JOGU: Mit welchen Bild-Mitteln arbeitet "Bollywood"?

MARSCHALL: "Bollywood" bedeutet eine intelligente Inszenierung von Farbe, Tanz und Mythos. Die Hindi-Filmindustrie kann auf die Werte einer zwei Jahrtausende alten Tradition zurückgreifen, etwa auf die Standards der Theater- und Musikdramaturgie des "Natyasastra". Oder eben auch auf die hinduistische Alltagskultur. Nehmen wir die Farbe - sie ist in einer für Europäer unvorstellbaren Art und Weise Teil des indischen Lebens. Besonders beeindruckt hat mich auf einer Reise das Holi-Fest - an diesem Tag sind alle gesellschaftlichen Unterschiede aufgehoben, und die Menschen überschütten einander mit Farbe - also im Wortsinn, das heißt kübelweise!

Ähnlich opulent geht der indische Film mit der Farbe um - aber eben auch sehr gezielt: Farben haben hier stets einen narrativen und symbolischen Charakter, sie sind Teil der Erzählung.....

JOGU: ... wenn bestimmte Personen bestimmte Farben tragen....

MARSCHALL: ... dann lässt das Rückschlüsse auf die Handlung zu. In "Yaadein" trägt eine Darstellerin eben keinen farbenprächtigen Sari, sondern einen weißen. Das aber ist in Indien die Farbe des Todes, und tatsächlich stirbt diese Figur bei einem Unfall. Und nicht nur die Farbe bestimmt das Aussehen und die Aussage des Films. Als Vorbild für die Drehorte und Kulissen vieler Produktionen dient Indiens historische Palast-Architektur. Den Regisseuren geht es aber nicht in erster Linie darum, Märchenschlösser zu zeigen. Die detailreiche Ausstattung der Pracht-Bauten unterstützt das Geschehen auf einer weiteren, einer symbolischen Ebene. Ein Tänzer-Darsteller, dessen Schritte den ornamentalen Vorgaben der Architektur folgen, fügt sich in die gesellschaftliche Ordnung ein. Wenn sich die Choreographie nicht an die vorgegebenen Raummuster hält, entsteht gesellschaftliches Konfliktpotential. In dem Filmklassiker "Mughal-E-Azam" zum Beispiel rebelliert eine Tänzerin gegen die patriarchalische Macht, indem sie die Grenzen der Bodenornamentik überschreitet.

JOGU: Die Tanzszenen, ohne die kaum ein indischer Film auskommt, werden in der hiesigen Fachliteratur oft als handlungsfern charakterisiert.

MARSCHALL: Das sind sie keineswegs, auch dann nicht, wenn sie Videoclip-Charakter haben. Der Tanz im indischen Film kommentiert nicht nur die Ereignisse, er ist elementarer Bestandteil der Handlung, In der indischen Kulturgeschichte nimmt der Tanz eine zentrale Position ein, bis heute ist er Teil der religiösen Praxis. Shiva erschuf die Welt im Tanz. Und auch die Hauptdarsteller der indischen Filme treiben die Handlung tanzend voran. Die Tänzer-Schauspieler des indischen Films verkörpern dabei durchaus göttliche Vorbilder. In jeder indischen Filmliebe etwa finden sich Anspielungen auf die Krishna-Mythologie.

JOGU: Sie haben vorhin geäußert, die "Bollywood"-Fans ahnten, warum sie 'ihre' Filme mögen. Sind die deutschen Fernsehzuschauer mittlerweile doch Indien-Experten?

MARSCHALL: Tatsächlich führt die Rezeption des indischen Kinos zu einer genaueren Auseinandersetzung mit der zunächst nur als exotisch empfundenen Gesamt-Kultur. Wer indische Filme sieht, erfährt viel über den gesellschaftlichen Konservatismus des Landes, über die Dominanz familiärer Werte und die langsam einsetzende Entdeckung der Individualität. Und meistens werden dann weitergehende Fragen gestellt. Aber selbst derjenige, der nichts über die kulturelle Tradition des Hinduismus weiß, kann der Faszination "Bollywoods" leicht erliegen. Die Filme sprechen alle Sinne an. Psychologen wissen, dass Farben glücklich machen. Und das Verständnis des Tanzes als Ausdruck der Lebensfreude ist auch uns geläufig - zumal die Wertschätzung der erotischen Ausstrahlung des Tanzes auch in unserer Kultur fest verankert ist.

Und dann darf man nicht vergessen, dass die Darsteller indischer Filme Megastars sind - ein Status, für den man immerhin einiges an Professionalität mitbringen muss. In Indien gibt es keine eigene Pop-Musik-Szene. Diese Funktion übernimmt der Film. Die Playbackshows der indischen Filmheiden wie Shah Rukh Khan oder Rani Mukherjee zogen übrigens auch in Europa und Amerika Tausende in ihren Bann.

JOGU: Wäre der West-Erfolg des indischen Kinos auch eine wissenschaftliche Untersuchung wert?

MARSCHALL: Auf jeden Fall. Aber derzeit arbeiten wir, das heißt die Kunsthistorikerin Dr. Irene Schütze und ich, vor allem an film- und bildästhetischen Analysen. Ein erstes Ergebnis dieser Bemühungen liegt ja mit dem von mir herausgegebenen Heft "Indien" in der Reihe "Film- Konzepte" vor. Aber auch in meinen Seminaren und Vorlesungen merke ich, dass das Thema sehr komplex ist und bei den Studenten auf großes Interesse stößt.

JOGU: Haben Sie Filmtipps für Einsteiger?

MARSCHALL: Einer der bekanntesten und derzeit beliebtesten Filme ist wohl Karan Johars "Kuch Kuch Hota Hai", zu deutsch "...und ganz plötzlich ist es Liebe...", dicht gefolgt von "Devdas" von Sanja Leela Bhansali, beide mit dem Schauspielstar Shah Rukh Khan. Und beide Filme gelten als typische "Bollywood"-Produktionen. Allerdings wird hierzulande oft ignoriert, dass jeder indische Regisseur - nicht anders als im Westen - seine eigene Handschrift hat. Und wie bei uns wird auch in Indien nicht nur opulentes Unterhaltungskino produziert. Hervorragende Beispiele für ein nachdenklich-realistisches Erzählkino sind der Film "Black", Regisseur Bhansali erzählt hier sensibel die Geschichte eines behinderten Kindes, oder der bengalische Film "Raincoat", eine von Rituparno Ghosh in Szene gesetzte Beziehungstragödie, die übrigens ohne jede Tanzszene auskommt.

JOGU: Also tanzt Krishna doch nicht immer?

MARSCHALL: (lacht): Nein. Aber meistens...

Das Gespräch führte Ulrike BRANDENBURG


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Dr. habil. Susanne Marschall (* 1963), Akademische Rätin am Institut für Filmwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz. Seit 1995 wissenschaftliche Mitarbeiterin, dann Hochschulassistentin am Institut für Filmwissenschaft. Konzeption und Realisation des Medienhauses der Universität. Sprecherin des IAK Medienwissenschaften. Mitbegründerin von Campus-TV. Projektleitung der Sommerakademie Film, Fernsehen, Medienpraxis. Kuratoriumsmitglied der Kulturstiftung Rheinland-Pfalz. Projektleiterin der Film- und Medien-Nachwuchsförderung der Universität. Gutachterin beim DAAD. 2003: Lehrpreis. 2005: Habilitation mit dem Thema Farbe im Kino. Zahlreiche Publikationen: 3 Monografien (Magisterarbeit, Promotion, Habilitation), 4 Herausgeberschaften, 2 weitere Herausgeberschaften im Druck, 3 Herausgeberschaften in Vorbereitung, 32 Aufsätze und Zeitschriftenartikel (weitere Aufsätze im Druck), 34 Lexikonartikel.

Aktuelle Forschungsinteressen: Filmtheorie und Bildwissenschaft; Intermedialität der Künste: Film und Malerei; Bildkomposition; Farbwahrnehmung, Farbgestaltung und Farb-Klang-Beziehungen; Raum und Zeit im Kino; Materialästhetik der Künste; Filmische Bild- und Tonsymbolik im interkulturellen Kontext; Indisches Kino; Filmkomödie; Erzählexperimente.


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Lesehinweis: Das Heft "Indien" (Hrsg. v. Susanne Marschall) ist 2006 in der Reihe "Film-Konzepte" (Hrsg. v. Thomas Koebner und Fabienne Liptay) im Verlag edition text+kritik in München erschienen.


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Quelle:
JOGU - Magazin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Nr. 199, Februar 2007, Seite 24
Herausgeber: Der Präsident der Johannes Gutenberg-Universität Mainz,
Univ.-Prof. Dr. Jörg Michaelis
Tel.: 06131/39-223 69, -205 93; Fax: 06131/39-241 39
E-Mail: Annette.Spohn@verwaltung.uni-mainz.de

Die Zeitschrift erscheint viermal im Jahr.
Sie wird kostenlos an Studierende und Angehörige
der Johannes Gutenberg-Universität sowie an die
Mitglieder der Vereinigung "Freunde der Universität
Mainz e.V." verteilt.


veröffentlicht im Schattenblick zum 23. März 2007