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FRAGEN/014: Repolitisierung des Kulturbetriebes (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 9/2016

Repolitisierung des Kulturbetriebes
Konturen fortschrittlicher Kulturpolitik

Gespräch mit Tim Renner und Thorsten Schäfer-Gümbel


Tim Renner, seit 2014 Staatssekretär für Kulturelle Angelegenheiten des Landes Berlin, und Thorsten Schäfer-Gümbel, stellvertretender Bundesvorsitzender der SPD und seit fast einem Jahr Vorsitzender des Kulturforums der Sozialdemokratie, stehen für eine neue Generation sozialdemokratischer Kulturpolitik. Die Fragen stellte Klaus-Jürgen Scherer, der 15 Jahre Geschäftsführer des Kulturforums im Willy-Brandt-Haus war.


NG/FH: Manchmal hat man den Eindruck, in der Kulturpolitik bestünde lediglich ein Gegensatz zwischen den Finanzverantwortlichen auf der einen und den Kulturpolitikern, die das Geld ausgeben wollen, auf der anderen Seite. Aber gibt es nicht auch Unterschiede zwischen dem sozialdemokratischen Kulturverständnis und dem der Konservativen?

Tim Renner: Unser Verständnis ist inklusiv und deren ist exklusiv. Das ist der maßgebliche Unterschied, seitdem wir Kulturpolitik machen. Während die konservative Seite Kultur immer als einen Ausdruck geistiger, künstlerischer Perfektion begriffen hat, der vor allen Dingen von und über Eliten vermittelt wird, hatten wir immer schon einen breiteren Kulturbegriff und haben diesen auch umgesetzt. Unser Ziel ist es, Kultur für alle zu vermitteln. In diesem Punkt unterscheiden wir uns heutzutage sogar noch schärfer von den Konservativen denn je. Denn wir befinden uns mittlerweile in einer Phase, in der das kulturpolitische Anliegen der Sozialdemokratie nicht nur darin besteht, Kultur zu vermitteln und die Leute kulturell auch aufnahmefähig zu machen. Jetzt geht es vielmehr verstärkt darum, sie auch zu kulturellen Produzenten zu machen, nicht nur zu Konsumenten. Denn die Kulturproduktion wird, vor allem durch die Digitalisierung, zunehmend niedrigschwelliger. Da haben wir sicher einen radikal anderen Ansatz.

Thorsten Schäfer-Gümbel: Dass der Unterschied zwischen konservativem und sozialdemokratischem Kulturverständnis heute größer ist als vor zehn Jahren, liegt auch an der zunehmenden Ungleichheit. Die Zugangshürden zu Kultur und kultureller Bildung sind heute höher, aus materiellen wie auch aus immateriellen Gründen. In der Überwindung dieser Hürden liegt ein ganz wesentliches Ziel sozialdemokratischer Kulturpolitik.

Der zweite Punkt ist: Wir haben auch eine andere Perspektive auf den Kulturbetrieb selbst, wenn es um die Bedingungen geht, unter denen Kultur stattfindet. Damit meine ich die Arbeitsbedingungen. Kulturschaffende müssen von ihrer Arbeit leben können. In einer Branche, die durch Befristungen und Projektaufträge geprägt ist, braucht es eine starke Stimme für Kulturschaffende. Das sind wir und nicht die Konservativen.

Renner: Diese Ergänzung finde ich sehr wichtig, denn ich sehe bei den Konservativen das Phänomen, dass sie sich für all diejenigen, die in den Institutionen nicht fest angestellt sind, überhaupt nicht zuständig fühlen und deshalb dort überhaupt keine Sorge tragen.

In Berlin haben wir zum Beispiel Honoraruntergrenzen in öffentlich geförderten Projekten der freien Szene durchgesetzt. Wir haben hierfür Projektmittel erhöht und sie mit der Bedingung verbunden, dass in jedem Projekt die beteiligten Künstlerinnen und Künstler angemessen bezahlt werden, also keine gnadenlose Selbstausbeutung stattfindet. Ebenso haben wir Ausstellungshonorare für Ausstellungen in öffentlichen Räumen durchgesetzt. Damit haben wir sehr klar und deutlich eine sozialdemokratische Kulturpolitik verfolgt.

NG/FH: Dazu passt, dass aktuell die Verteilungsfrage zurückgekehrt ist. Die SPD hat das Gerechtigkeitsthema wiederentdeckt, was wohl auch für den Kulturbereich hinsichtlich der Arbeits- und Produktionsbedingungen zutrifft. Dies könnte ein wesentlicher Punkt sozialdemokratischer Identität sein. Lassen sich diese aktuellen Forderungen der Kulturpolitik noch etwas systematischer benennen?

Schäfer-Gümbel: Vier Punkte könnte man in den Vordergrund stellen: Erstens das Thema Digitalisierung. Es ist ein großer Vorteil, dass heute praktisch jeder Mensch grundsätzlich selbst Kulturschaffende/r sein kann. Die Digitalisierung hat aber gleichzeitig die Verwertungsketten ganz massiv verändert. So ist beispielsweise das Urheberschutzrecht ein Riesenthema, bei dem ich den jetzigen Entwurf der Großen Koalition für nicht zielführend halte. Ziel der SPD muss es weiterhin bleiben, die Situation der Urheber/innen zu verbessern und einen gerechten Interessenausgleich zwischen ihnen und Verwerter/innen zu erreichen. Es darf nicht sein, dass in unserer heutigen Zeit, in der Kunst und Kultur, Kreativwirtschaft und Medien so nachgefragt werden wie nie zuvor, eine Ungleichheit der Augenhöhe besteht zwischen denen, die Inhalte schaffen, und denen, die mit ihnen Geld verdienen. Da muss die Koalition noch mal ran!

Zweitens geht es um kulturelle Vielfalt. Die Verteilungsfrage wird natürlich bei knappen Kassen sehr deutlich. Können wir uns kulturelle Vielfalt überhaupt leisten? Ja, das sollten wir. Denn nur Vielfalt macht eine Gesellschaft innovativ, diskursiv, integrativ und letztlich frei. Doch es geht auch um den politischen Druck auf kulturelle Vielfalt unter den derzeitigen politischen Bedingungen. So etwa durch die wiederholten Attacken der politischen Rechten, insbesondere der AfD, die diese Vielfalt grundlegend infrage stellt. Ein klarer Angriff auf die demokratische Willensbildung.

Daraus abgeleitet stellt sich die Frage nach den Zugängen zur kulturellen Bildung. Wie bauen wir diese auf, wer ist Träger der kulturellen Bildung? Welche Rolle spielt sie im Bildungssystem aber auch in der Gesellschaftspolitik, wenn es darum geht, Menschen zu emanzipieren?

Viertens, das wurde bereits genannt: Was heißt das eigentlich für die Arbeitsbedingungen des Kulturbetriebs, auf die wir oft viel zu wenig achten? Das sind für mich die zentralen Fragen von Verteilung, Gerechtigkeit und Kulturpolitik.

Renner: Bei der Digitalisierung ist wirklich dringender Handlungsbedarf gegeben. Hier stimme ich Thorsten ausdrücklich zu. Wir waren schon einmal weiter. Dann wurden Kompromisse gemacht, die wenig nutzen. Wir haben es beim Urteil im Fall Kraftwerk versus Moses Pelham gerade wieder gesehen. Heutzutage ist Sampling, also der Vorgang, eine existierende Tonaufnahme in einem neuen musikalischen Zusammenhang zu verwenden, Bestandteil der Kultur. Das Weiterbearbeiten mit neuen Ideen darf nicht verboten werden. Nur: Diejenigen, die die Idee gehabt haben, müssen dafür auch vergütet werden. Es gilt also, die tatsächliche Durchsetzung des Prinzips "Vergüten statt Verbieten" zu forcieren, welches die SPD schon in ihrem letzten Wahlprogramm stehen hatte, denn Sampling ist längst gelebte kulturelle Realität.

Bei der Eröffnung einer Installation von Olafur Eliasson in Versailles beispielsweise hatte die High Society von Paris nichts anderes zu tun, als von diesen Inszenierungen Aufnahmen und Selfies zu machen, so das Kunstwerk in eigene Kunstwerke zu integrieren und diese wie wild zu posten. Die Aneignung von Kultur durch Bearbeitung und Reinterpretation ist zu einem völlig natürlichen Prozess geworden. Wir müssen nur darauf achten, dass der Genius dabei nicht zu kurz kommt. Gleichzeitig muss es aber möglich sein, dass neue Kulturbegriffe entstehen. Diese müssen dann auch zum Teil des Vielfaltskanons werden, den wir Sozialdemokraten pflegen, anders als Konservative, die den Begriff Kultur traditionell eher eng fassen. Ich glaube, dass es unsere Aufgabe ist, alle möglichen Formen neuer Kulturproduktionen einzuschließen und mit sehr wachem Auge hinzuschauen, was dort bei den neuen Ausdrucksformen passiert. Beispiel "Gaming": Heute bereits sehr relevant für die jüngeren Menschen werden Games sicher irgendwann mit der gleichen Selbstverständlichkeit zum Kulturkanon gehören wie Fotografie und Film, die auch lange dafür kämpfen mussten, überhaupt als Kultur anerkannt zu werden.

NG/FH: Aber gehört nicht auch eine kulturkritische Betrachtungsweise zum Wesen fortschrittlicher Kulturpolitik? Da gibt es diese Erregungskultur im Internet, etwa vonseiten der AfD, welche die Demokratie zerstört. Sollte es nicht Aufgabe sozialdemokratischer Kulturpolitik sein, dieses rechte Gedankengut, das jeder demokratischen Kultur entgegensteht, zu entlarven?

Renner: Genau. Aber das tun wir nicht, indem wir uns gegen das Medium wenden, welches keine Schuld trägt. Im Gegenteil: Das Medium wird genutzt und wir dürfen es nicht den falschen Leuten überlassen. Wir müssen dafür sorgen, dass wir dieses Medium mit guten Inhalten befüllen. Dazu müssen wir Künstler/innen und Kultureinrichtungen befähigen, auch in den neuen Medien präsent zu sein.

Schäfer-Gümbel: Die Technik ist nicht das Problem. Diese Debatte halte ich für ziemlich abwegig. Im Gegenteil, sie hat in diversen autoritären Systemen den Menschen überhaupt erst eine Chance zur Kommunikation und zur Einflussnahme eröffnet. Im Übrigen auch gerade durch die Sicherheit der Anonymität im Netz. Der wesentliche Punkt in der Auseinandersetzung, auch der kulturkritischen, hat etwas zu tun mit der Auseinandersetzung mit dem Menschen. Wir brauchen also eher gemeinsame Regeln des Umgangs und klare Haltungen z.B. bei Hate Speech. Aber das Internet an sich zu verdammen, ist falsch.

NG/FH: Welche Aufgaben fallen der Kulturpolitik bei der Bewältigung der Integration von Flüchtlingen zu? Zum Beispiel sind die Theater derzeit eine Art Speerspitze der offensiven Auseinandersetzung für Demokratie und Offenheit. Kann man diese dabei besser unterstützen? Es gibt ja auch die Ängste, dass die zu uns Kommenden unsere vorhandene Soziokultur und kulturelle Vielfalt gefährden und nicht nur bereichern?

Schäfer-Gümbel: Künstlerinnen und Künstler sind oft politisch. Und das ist auch gut so! Diese Politisierung des Kulturbetriebs müssen wir fördern und ausbauen. Doch Kulturschaffende müssen sich verstärkt mit der Politik auseinandersetzen. Mit Parteien in Dialog treten. An manchen Stellen streiten und an anderer Stelle gemeinsam Haltung zeigen. Bei einigen Akteuren der Kultur findet der Kontakt mit Politik nur zur Rolle von formellen und materiellen Rahmenbedingungen statt. Doch wir brauchen mehr Einmischung. Mehr klare Positionen. Mehr gesellschaftliche Debatten zwischen Kunst, Politik und anderen Kreisen. Früher war sicherlich nicht alles besser, aber das vielleicht schon. Nichtsdestotrotz bin ich froh, dass es zunehmend Künstlerinnen und Künstler aller Gattungen gibt, die sich - auch angesichts der aktuellen politischen Debatten und gesellschaftlichen Verhältnisse, angesichts von schockierenden Wahlergebnissen der AfD und einer Million neuer Mitbürgerinnen und Mitbürger - wieder einmischen. Das muss noch mehr werden.

Renner: Ich würde bei den Theatern direkt ansetzen und natürlich den Blick erst einmal auf Berlin richten. Da bin ich zuständig. Es gibt hier fünf große Sprechtheater, von denen die drei, die sich am meisten mit der Gesellschaft auseinandersetzen, nämlich das Maxim Gorki Theater, die Schaubühne und das Deutsche Theater, das Thema Migration sofort in ihren Stücken aufgegriffen haben. Das ist ja gerade der große Vorteil des Theaters. Es kann sehr schnell, sehr unmittelbar reagieren. Sich einem Theaterstück als Anwesender zu entziehen, ist viel schwieriger, als das bei einem Film oder erst recht bei einer TV-Produktion möglich ist, wo die Distanz einfach größer ist. Da haben sich alle drei sehr klar positioniert, indem sie entweder Flüchtlinge aufgenommen haben, wie das DT, indem sie mit Flüchtlingen ein Ensemble gegründet haben, wie das Gorki oder indem sie in ihren Stücken die direkte Konfrontation mit AfD-Größen und Pegida suchen, so bei Fear an der Schaubühne. Man ist direkt dahin gegangen, wo es weh tut.

Zum Glück ist man in der Frage der Integration mittlerweile eine Stufe weiter. Die Idee der 60er Jahre war es noch, dass Integration im kulturellen Sinne bedeutet, dass der freundliche Zuwanderer aus Afrika dann angekommen ist, wenn er anfängt, sich eine Lederhose anzuziehen und zu jodeln.

NG/FH: Das ist doch Assimilierung, nicht Integration.

Renner: Ja, aber so war es. In den 80ern gab es dann die Multikulti-Idee, das imaginäre Nebeneinanderleben. Da sind wir mittlerweile 30 Jahre weiter und eine Verständnisebene höher. Wir wissen jetzt, dass es spannend wird, wenn sich Kulturen begegnen und in einen richtigen Austausch miteinander begeben, aus dem etwas Neues, Gemeinsames entsteht. Deutschland als bekennendes Einwanderungsland, auch im kulturellen Sinne, ist ein Land, in dem sich neue Kultur dadurch herausbildet, dass Menschen vor ihrem jeweiligen kulturellen Background Dinge mitbringen und daraus ein neues Ganzes entsteht. Mir ist wichtig, dass wir dieses integrative Kultur-Verständnis haben und nicht den alten Ansatz des Nebeneinanders.

NG/FH: Es gibt zu Recht Bemühungen, neben der teuren Infrastruktur der etablierten Kulturinstitutionen die freie Szene, die Soziokultur, Pop- und Jugendkultur stärker zu fördern. Da wurde in der Vergangenheit oftmals gegeneinander diskutiert, als ob man dem einen etwas wegnehmen muss, wenn man das andere unterstützt. Ist das die richtige Debatte?

Schäfer-Gümbel: Angesichts zumindest in Teilen unzureichender finanzieller Möglichkeiten wird die Debatte häufig so geführt. Am Ende ist das aber auch eine Frage des klugen Austarierens vor Ort. Das bedeutet viel Arbeit, viel Einsatz, manchmal aber auch anstrengende Gespräche. Man muss diesen Gegensatz überwinden und sollte ihn erst gar nicht entstehen lassen. Kooperation statt Konfrontation ist die richtige Lösung. Aber ich will da keine Illusionen nähren. Auch in Zukunft werden nicht alle die Ressourcen als ausreichend empfinden und am Ende wird immer mal wieder auch eine Verteilungsauseinandersetzung stehen. Wir dürfen aber nicht die Schlussfolgerung ziehen, dass wir in unserer Kulturförderung stehen bleiben aufgrund fehlender Mittel. Neue Zeiten, neue Ideen benötigen auch neue Fördermittel.

Renner: Wir hatten auch in Berlin eine Situation, in der 95 % der zur Verfügung stehenden Mittel in die Institutionen flossen und nur 5 % in die freie Szene. Zusammen mit der freien Szene haben wir die richtige Antwort gefunden und die lautet für Berlin: Dann muss es eben um 110 % gehen. Wir haben es hier zum Glück geschafft, deutliche Steigerungen bei der freien Szene in den Haushalt zu integrieren. Das gelingt aber nach meinem Erachten nur, wenn man gegenüber dem Haushaltsgesetzgeber auch mit indirekten Auswirkungen der Kulturförderung argumentiert und in der Kultur etwa einen wirtschaftlichen Hebel sieht. Zu Recht will sich die Kultur nicht durch eine Ökonomisierung missbrauchen lassen, doch gegenüber Haushältern sollte man in diesem Punkt nicht zurückschrecken. Wenn man sich in ihre Logik begibt, kommt plötzlich mehr Bewegung in die Etats. Denn natürlich gibt es einen kollateralen wirtschaftlichen Nutzen von Kultur und ganz häufig auch von der freien Szene. Dann kann ich den Haushältern auch beweisen, dass das Geld, was im Haushalt für die freie Szene bestimmt ist, kein verlorenes Geld ist, sondern eine Investition, nicht nur in die Gesellschaft, die Werte, die Vermittlung, sondern auch in die Produktion.

NG/FH: Das heißt also, den früher beschworenen Gegensatz zwischen Kultur als öffentlichem Gut und gewissermaßen als Staatsangelegenheit auf der einen Seite, sowie der Kreativwirtschaft auf der anderen Seite gibt es in der Realität so nicht mehr?

Schäfer-Gümbel: Ja, so sehe ich das. Auch wenn es natürlich immer mal wieder Konflikte gibt.

NG/FH: Also beim Thema TTIP etwa ist die Kulturszene ja ganz aktiv, weil sie zu viel Marktfreiheit fürchtet.

Renner: Das gilt aber auch für die Kreativwirtschaft. Die Ängste, die von beiden Seiten formuliert werden, sind genau dieselben. Hat ein Staatstheater oder -orchester wirklich die Möglichkeit, sich gänzlich dem Markt zu entziehen? Bewegt sich nicht die freie Szene in einer Zwischensphäre, die man mit der Kreativwirtschaft auch zusammen denken muss, natürlich ohne sie ökonomisch komplett zu vereinnahmen? Viele Probleme und Mechanismen sind sehr ähnlich. Vieles, was in der freien Szene passiert, löst später in der Kreativwirtschaft wiederum Effekte aus, man bedient sich gegenseitig. Man sollte nicht nur auf den Nachteil der Ökonomisierung schauen, sondern auch die vielen Vorteile zur Kenntnis nehmen.

NG/FH: Stichwort Erinnerungskultur: Gerade auch in Zeiten, in denen die AfD nicht so viel an den Nationalsozialismus erinnern will und in ihrem Programm von positiven identitätsstiftenden Aspekten deutscher Geschichte schwafelt, während gleichzeitig die letzten Zeitzeugen sterben, stellt sich die Frage: Ist das Erinnern in dieser Situation nicht erneut eine Herausforderung?

Schäfer-Gümbel: Erinnerungskultur ist zunächst einmal der Schutz der Demokratie. Wenn man nicht weiß, woher man kommt, kann man auch nicht entscheiden, wohin man will. Deswegen spielt die Erinnerungskultur eine große Rolle. Es gab eine sehr intensive Phase vor 15, 20 Jahren, als Sonderforschungsbereiche zur Erinnerungskultur diese Fragen sehr interdisziplinär auch an Hochschulen aufgeworfen haben. Gerade weil die Generation der Zeitzeugen ausstirbt, insbesondere die des Nationalsozialismus, verändert sich dieser Teil der Erinnerungskultur. Das heißt nicht, dass er nicht mehr vorhanden ist. Es gibt die nachfolgenden Generationen und Eltern-Kind-Konflikte der unterschiedlichsten Art und Weise. Es gibt Projekte wie die Stolpersteine, neue Mahnmale, spannende Ausstellungsformate, neue Filmprojekte und vieles andere. Das heißt, es gibt eine lebendige Erinnerungskultur in Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, im Umgang mit der ehemaligen DDR und anderen Teilen unserer Geschichte. Wir müssen unser kulturelles Gedächtnis bewahren und vor allem die Debatten und Erinnerungen lebendig halten. Nie dürfen wir zu diesen Themen verstummen, sondern müssen die kulturelle mit der politischen Bildung weiterentwickeln.

Und da muss man aufpassen. Was jetzt insbesondere die AfD versucht anzuschieben ist nicht neu. Es sind im Kern die alten revisionistischen Positionen von Alfred Dregger, Franz Josef Strauß und anderen. Diese Sogenannte neue Rechte, die da entsteht, ist im Kern eine alte Rechte, die bestimmte Teile der Erinnerungskultur nicht möchte und diese politisch bekämpft, weil sie Ausdruck demokratischer Geschichte ist. Aber dazu werden wir es nicht kommen lassen.

Renner: Damit befindet sich die Rechte zum Glück, so ist die Realität in Berlin, im Widerspruch zur Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger. In Berlin, wo sich die deutsche Geschichte vor allen Dingen in ihren totalitären Ausprägungen überall eingeschrieben hat, haben die Gedenkstätten keinen geringen Zulauf. Wir haben eher einen Boom zu managen und wir müssen uns hier noch mehr Mühe geben, um weitere Bildungsangebote vor Ort zu erstellen. Denn die Nachfrage ist riesig. Die Menschen wollen verstehen, gerade in Zeiten wie diesen, in denen totalitäre Systeme plötzlich wieder eine ganz hohe Relevanz im eigenen Verständnis gewinnen. Das ist nicht mehr abstrakt und weit weg, sondern wieder vorstellbar. Wir erleben wie in europäischen Ländern, teilweise sogar innerhalb der EU, Rechte und Freiheit beschnitten werden, Ausgrenzung und Hass wachsen. Dinge, die uns vorher als überwunden erschienen, sind plötzlich wieder nah und real. Der Erfolg der AfD und anderer Bewegungen ist Ausdruck dessen.

Umso mehr wollen die Menschen doch verstehen, wie es dazu kommen konnte, auch in seinen schlimmsten Ausprägungen. Umso mehr müssen wir sie begleiten. Da werden wir in Zukunft eher noch mehr Aufwendungen haben. Wir erleben auch, dass unsere Angebote, zum Beispiel in der Gedenkstätte Hohenschönhausen oder in der Topographie des Terrors, auch bei geflüchteten Menschen sehr gut ankommen, die einerseits Anknüpfungspunkte zur Situation in ihren Heimatländern haben, andererseits natürlich die Geschichte dieses Landes begreifen wollen, das zukünftig ihre Heimat sein wird.

Schäfer-Gümbel: Am Ende will ich noch einen ganz schwierigen Punkt ansprechen: Wir hatten eine Debatte über einen Teil der Erinnerungskultur, der zunächst nicht Teil des bundesdeutschen Mainstreamdiskurses war. Das ist die Auseinandersetzung mit der Armenienfrage, dem Genozid, dem Völkermord. Dieses Momentum spielt in der Debatte um Erinnerungskultur aus zwei Gründen eine Rolle: Erstens findet Erinnerungskultur nicht mehr nur in nationalstaatlichen Grenzen statt. Das hat etwas damit zu tun, dass es eine deutsche Rolle in diesem Genozid gegeben hat. Und zweitens betrifft es uns, weil es bei einem Teil der bundesdeutschen Bevölkerung, auch deutsche Staatsbürger, eben um die Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte geht, die begründet ist in Opfer- und Täterrollen. Das ist die Frage: Wie funktioniert Erinnerungskultur in der diversen Gesellschaft eines Einwanderungslandes?

NG/FH: Eine Abschlussfrage an Tim Renner: Berlin steht vor Landtagswahlen - was sind eigentlich die wichtigsten kulturpolitischen Argumente zur Wahl der SPD?

Renner: Für die SPD ist Kultur sehr wichtig, denn sie ist neben der Wissenschaft eine der beiden tragenden Säulen Berlins. Wir sind eine wachsende Stadt und müssen dieses Wachstum eigentlich als Geschenk, als Chance sehen. Wir dürfen nicht die Ängste bedienen, wie die konservativen Parteien, die dabei nach hinten gucken, teilweise auf ein "Hinten", was es in dieser Form nie gegeben hat, vor allem nicht in Berlin.

Wir sehen eine wichtige Aufgabe der Kulturpolitik darin, das Wachstum zu moderieren. Das heißt zum Beispiel in Berlin maßgeblich Räume und Plätze zu sichern, in denen kulturelle Produktion und Exposition überhaupt stattfinden kann, damit wir nicht so enden wie London, Paris oder New York, wo die Kultur, so es nicht die großen Institutionen sind, im wahrsten Sinne des Wortes an den Rand der Stadt oder aus der Stadt gedrängt wurde. Diese spielentscheidenden Weichen müssen jetzt gestellt werden. Die Förderung der freien Szene haben wir in diesem Haushalt beinahe um 50 % erhöht, u.a. Honoraruntergrenzen und Ausstellungsvergütung eingeführt. Diesen Kurs werden wir fortsetzen. Ein weiteres Schwerpunktthema: Als progressive Partei stellen wir uns der Digitalisierung, besonders dort, wo sie die Bürgerinnen und Bürger am schnellsten erreicht, zum Beispiel in Bibliotheken. Die Bibliothek ist das Wohnzimmer einer sich verändernden Stadtgesellschaft. Dort begegnen sich Menschen, informieren sich und tauschen sich aus. Bibliotheken müssen in der Lage sein, Menschen zu unterstützen, sich in einer digitalen Welt zurechtzufinden. Gerade als Sozialdemokrat kann ich es nicht akzeptieren, dass Menschen zurückgelassen werden, dass ältere Mitbürgerinnen und -bürger plötzlich abgehängt werden von Informationen und Kultur.

Auf der anderen Seite muss ich zusehen, dass Kulturtechniken wie das Lesen nicht verlorengehen, Menschen, die rein digital aufwachsen, müssen gerade an einem solchen Ort wie einer Bibliothek erfahren können, was die analoge Welt zu bieten hat. Ich bin felsenfest überzeugt: Wir werden noch eine sehr lange Zeit in einer Welt des "Sowohl-als-auch" und nicht des "Entweder-oder" leben, wenn es um analog und digital geht.

NG/FH: Eine letzte Frage an Thorsten Schäfer-Gümbel. Unser alter Leitantrag Kultur vom Hamburger Parteitag 2007 ist ja doch ziemlich in die Jahre gekommen. Die SPD fangt jetzt mit ihren programmatischen Vorbereitungen für die Bundestagswahl 2017 an. Wird es ein neues Kulturprogramm mit besonderen Akzenten geben?

Schäfer-Gümbel: Das Kulturforum der Sozialdemokratie wird ein eigenes Kapitel für das Regierungsprogramm entwickeln. Wie die Partei das dann findet, wird sich im weiteren Programmprozess zeigen. Seit 2007 hat sich so einiges verändert. Das iPad ist zum Beispiel im Jahr 2010 auf den deutschen Markt gekommen und hat den Umgang mit digitalen Medien stark beeinflusst. Ich bin ganz optimistisch, dass wir eine programmatische Weiterentwicklung, vielleicht sogar Neupositionierung, hinbekommen.

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 9/2016, S. 72 - 79
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von
Kurt Beck, Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka, Thomas
Meyer, Bascha Mika, Angelica Schwall-Düren und Wolfgang Thierse
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Die NG/FH erscheint zehnmal im Jahr (Hefte 1+2 und 7+8 als Doppelheft)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. September 2016

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