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BERICHT/046: Kann Europa ein gemeinsames Gedächtnis entwickeln? (impulse - Uni Bremen)


Universität Bremen - impulse aus der Forschung Nr. 1/2009

Kann Europa ein gemeinsames Gedächtnis entwickeln?
Erinnerungskonflikte im heutigen Europa

Wolfgang Stephan Kissel


Im WS 2004/5 wurde an der Universität Bremen der neue Bachelor-Studiengang "Integrierte Europastudien" eröffnet. Er vermittelt Grundlagen des politischen und sozialen Systems der EU und bietet dazu auch Einführungen in die europäische Gedächtnislandschaft der Gegenwart. Im Zentrum stehen dabei ost- und westeuropäische Gedächtnisorte, deren Bezugsrahmen über die Geschichte einzelner Nationen hinausgeht.


Europa war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt von einer Krise der Zivilisation. Allgemein gültige Vernunftregeln und Verhaltensstandards wurden in einer Reihe von Gewaltakten und Genoziden preisgegeben. Die Rationalität der Aufklärung nahm selbstzerstörerische Züge an. Heute gilt vor allem der Massenmord an den europäischen Juden als singulärer Zivilisationsbruch, in dessen Verlauf das reibungslose Funktionieren eines gewaltigen bürokratischen und technischen Apparats der sinnlosen Vernichtung einer stigmatisierten Bevölkerungsgruppe diente.

Die Wahrheit über den Mord an den Juden, über die immense Zahl der Opfer und die industrialisierte Massentötung war spätestens wenige Monate nach dem Zweiten Weltkrieg in weiten Teilen Europas bekannt oder zugänglich. Doch ihre Wahrnehmung bis hin zur Anerkennung der Einzigartigkeit des Verbrechens musste sich erst gegen erhebliche Widerstände durchsetzen, Widerstände, die in vielen Ländern heute noch bestehen.

Nach einer Phase des "kollektiven Beschweigens" (Hermann Lübbe) in den späten vierziger und den fünfziger Jahren zwang eine Serie aufsehenerregender Prozesse in Israel und Deutschland Anfang der sechziger Jahre die bundesrepublikanische Öffentlichkeit, sich einer schmerzlichen und langwierigen Erinnerungsarbeit zu stellen, die schließlich in den heute herrschenden Konsens mündete, dass die Erinnerung an den Holocaust Teil deutscher Identität ist und bleiben muss.


Holocaust und Resistance-Mythen

Außerhalb Deutschlands regelten in der Nachkriegszeit Diskurse über Täter, Opfer und Helden des Zweiten Weltkriegs für Jahrzehnte den Umgang mit der Geschichte: Für Westeuropa zentrierte sich dieses auf Sieg und Widerstand ausgerichtete Gedächtnis um das Datum des 8. Mai 1945, der Tag der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands. Für eine Reihe europäischer Nationalstaaten wie Norwegen, die Niederlande oder Frankreich schien die scharfe Abgrenzung von den deutschen Okkupanten und die Heroisierung des Widerstands der sicherste Weg zu einer scheinbar dauerhaften Identitätsbildung.

Der zweifellos bedeutende Widerstand in diesen Ländern wurde gegen die historischen Fakten auf die gesamte Nation ausgedehnt und so die Erkenntnis verweigert, dass die Kollaboration nicht auf wenige "Verräter" beschränkt geblieben war. Es sollte zwei Generationen und vier bis fünf Jahrzehnte dauern, bis die Resistance-Mythen durchbrochen und die Verstrickung von Eliten und Bevölkerung in die NS-Verbrechen akzeptiert wurden. Frankreich musste erfahren, dass das Regime von Vichy den einzigen Fall in Westeuropa darstellte, bei dem eine unabhängige Regierung der Ermordung der Juden aus freien Stücken zuarbeitete.

Die Wende in den siebziger und achtziger Jahren führte schließlich zu öffentlichen Eingeständnissen kollektiver (Teil-) Schuld, etwa von Seiten des französischen Präsidenten oder der niederländischen Königin. Von einem Verbrechen ausschließlich deutscher Täter wurde der Holocaust so zu einem transnationalen europäischen Gedächtnisort. Die "Stockholmer Erklärung" vom Januar 2000 enthält schließlich eine politische Verpflichtung zur dauerhaften Erinnerung an den Holocaust. Sie ist von 55 Regierungen, darunter den meisten europäischen, unterzeichnet.


Die eigene Version nationaler Vergangenheit

Das Ende der globalen Spaltung 1989 veränderte die Gedächtnislandschaft Europas abermals tiefgreifend. Ihre Verschiedenartigkeit im Osten und Westen des Kontinents wurde lange Zeit von der politisch-ideologischen Spaltung überlagert. Seit dem Zerfall der Sowjetunion im Jahr 1991 traten zudem die Bruchlinien zwischen den Erinnerungskulturen der Russischen Föderation und der übrigen Nachfolgestaaten immer deutlicher zu Tage. Die Entwicklung einer je eigenen Version nationaler Vergangenheit spielte eine Schlüsselrolle für das politische und kulturelle Selbstverständnis von Litauen, Lettland und Estland, Weißrussland und der Ukraine. Die daraus resultierenden Differenzen führen immer wieder zu politischen Konflikten, so Anfang 2008 zu einem bizarren Denkmalstreit, der das Verhältnis zu Estland belastete.

Dreh- und Angelpunkt der Konflikte im Westen der ehemaligen Sowjetunion ist die Deutung des Zweiten Weltkriegs: Aus sowjetischer oder russländischer Sicht begann der "Große Vaterländische Krieg" am 22. Juni 1941 mit dem Überfall deutscher Truppen und endete in den frühen Morgenstunden des 9. Mai 1945, als die Nachricht von der Kapitulation Deutschlands nach Moskauer Ortszeit eintraf. In der Russischen Föderation wird dieser 9. Mai nach wie vor als "Tag des Sieges" gefeiert und mehr denn je als Verbindung mit einer ruhmreichen militärischen Vergangenheit wahrgenommen, die nach heutiger Konzeption bis in das Moskauer Zarentum zurückreicht.

Litauer, Letten und Esten verbinden hingegen mit diesem Tag den Verlust ihrer staatlichen Unabhängigkeit, auf den Jahrzehnte der politischen Repression und der ökonomischen Ausbeutung folgten. Wie die damalige Präsidentin Lettlands, Vaira Vike-Freiberga, in einer Erklärung zum 60. Jahrestag 2005 verlauten ließ, ist der 9. Mai für ihr Land kein Tag des Triumphes, sondern der Trauer oder zumindest des stillen Gedenkens an zahllose Opfer, Menschen, die während der sowjetischen Okkupation erschossen oder verschleppt und im Gulag zu Tode geschunden wurden. Eine offizielle Anerkennung der Okkupation steht von russländischer Regierungsseite noch aus, was als schwere Hypothek auf den Beziehungen lastet.

Die gleiche Erinnerungskluft spaltet die Ukraine seit der "orangenen Revolution" im Inneren. Für den westlichen Teil der heutigen Ukraine begann der Zweite Weltkrieg am 17. September 1939, als sowjetische Truppen in das damalige Ostpolen einmarschierten und diese Territorien als "Westukraine" in die Sowjetunion eingliederten. Kernpunkt des heutigen Streits ist die Bewertung der ukrainischen Unabhängigkeitsbewegung und der 1942 gegründeten Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA). Für die ukrainischen Nationalisten sind deren Mitglieder Helden eines unabhängigen Nationalstaats. Für die Kommunisten sind sie jedoch faschistische Kollaborateure, die zehntausende Polen in der Westukraine ermordeten. Die Nationalisten sehen in der Roten Armee die Besatzer der Ukraine, die Kommunisten ihre Befreier.

Während sich die Bruchlinien manifestieren, arbeitet die offizielle russländische Vergangenheitspolitik weiterhin an einem möglichst monolithisch geschlossenen Geschichtsbild, in dessen Zentrum der Mythos vom "Großen Vaterländischen Krieg" steht. Er wurde Mitte der sechziger Jahre unter Brezzur Stabilisierung des sowjetischen Vielvölkerreichs geschaffen und erzählte von einem heroischen Abwehrkampf aller Bürger der Sowjetunion gegen die nationalsozialistischen Invasoren, aus dem die staatliche Einheit 1945 gestärkt hervorging.

In den folgenden Jahrzehnten bildete die Erinnerung an diese Selbstbehauptung eine der Legitimationsquellen für die Fortexistenz der Sowjetunion. Während bei jeder Gelegenheit der Opfer des siegreichen Abwehrkampfes gedacht wurde, wurden die Opfer des Stalinismus dem Vergessen anheimgegeben. El'cin und Putin haben an dieser Version festgehalten und sie nach Kräften gefördert. Heute blockiert sie ein angemessenes Gedenken für die Opfer des Stalinismus, um deren Würdigung sich die Organisation Memorial seit Jahrzehnten und im Augenblick gegen wachsenden Widerstand staatlicherseits bemüht.


Das europäische Projekt braucht die Aufarbeitung

Die immensen Verschiebungen in der gegenwärtigen europäischen Gedächtnislandschaft spiegeln sich in den öffentlichen Debatten der jüngsten Vergangenheit. Viele Nationen gehen erneut durch eine Phase, in der Aspekte verdrängter Vergangenheit öffentlich erörtert werden. In Polen haben die Bücher des in den USA lebenden Historikers Jan T. Gross Nachbarn und Angst zu Debatten über polnische Schuld und zu (Teil-)Revisionen des Bildes von der Opfernation geführt.

In Deutschland lässt sich hingegen in Film, Fernsehen und Literatur eine verstärkte Aufmerksamkeit für die lange tabuisierten deutschen Opfer des Bombenkrieges oder der Vertreibungen beobachten, ohne dass dies den offiziellen Holocaust-Konsens in irgendeiner Form hätte in Frage stellen können. Die Bundesregierung hofft nun durch ein "Dokumentationszentrum über Flucht und Vertreibung" eine öffentliche Stätte für diese Schicht des kollektiven Gedächtnisses zu schaffen. Darüber gibt es allerdings eine lebhafte und kontroverse Debatte mit Teilen der polnischen Öffentlichkeit.

Die Erinnerung an die Ermordung der europäischen Juden ist noch nicht dauerhaft und fest in die postkommunistischen Gesellschaften integriert. Besonders schwer zu verkraften ist die Erkenntnis, dass viele Menschen in Polen, Litauen, Lettland, Belarus und der Ukraine, aber auch in der Slowakei, Rumänien und Ungarn an nationalsozialistischen Verbrechen aktiv mitgewirkt oder sie zumindest beobachtet und hingenommen haben. Diese belastende Einsicht wird zudem in einigen Ländern überlagert von einer jüngeren Schicht eigener leidvoller Erfahrungen unter dem kommunistischen Regime.

Es bleibt eine offene Frage, ob der Holocaust sich auf Dauer und in ganz Europa als transnationaler Gedächtnisort durchsetzen wird. Die zahlreichen Versuche, dieses Gedächtnis von staatlicher Seite aus zu steuern, etwa durch Gesetze oder symbolische Geschichtspolitik, mögen von besten Absichten zeugen, bergen aber die Gefahr der Erstarrung und leeren Ritualisierung. Daher muss die symbolische Geschichtspolitik begleitet werden von der Vermittlung demokratischer Werte und der Etablierung der EU als Wertegemeinschaft. Im Rahmen dieser Wertegemeinschaft kann die Auseinandersetzung mit den Verbrechen des 20. Jahrhunderts auch für die kommenden Generationen integraler Bestandteil des europäischen Projektes werden.

Diese Erkenntnis liegt der Konzeption der Seminare im Bachelor Integrierte Europastudien zugrunde. In Recherchen etwa über Katyn in der Russischen Föderation oder Babij Jar in der Ukraine, über die Leningrader Blockade und ihre Spuren in der gegenwärtigen Stadtlandschaft Sankt Petersburgs, über den spanischen Bürgerkrieg und seine europäischen Dimensionen, über die Debatten, die die Entstehung des Mahnmals in Berlin begleitet haben, entdecken und beschreiben die Studenten die Vielschichtigkeit der Gedächtnisorte und ihre Bedeutung für das Europa der Zukunft.


Wolfgang Stephan Kissel ist Professor für Kulturgeschichte Ost- und Ostmitteleuropas an der Universität Bremen, wo er Integrierte Europastudien und Slavische Studien lehrt. Seine Forschungsschwerpunkte sind Kultur- und Zivilisationstheorie sowie russische Literatur und Kultur des 18. bis 20. Jahrhunderts. Seit 2007 ist Kissel slavistischer Mitherausgeber des Kritischen Lexikons der fremdsprachigen Gegenwartsliteratur.


Weitere Informationen:
www.europa-studien.uni-bremen.de


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Quelle:
Universität Bremen - impulse aus der Forschung
Nr. 1/2009, Seite 6-9
Herausgeber: Rektor der Universität Bremen
Redaktion: Eberhard Scholz (verantwortlich)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Dezember 2009