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BERICHT/021: Kultur mit "Klasse" oder Unterhaltung für die "Masse"? (idw)


FernUniversität in Hagen - 26.06.2006

Kultur mit "Klasse" oder Unterhaltung für die "Masse"?


Mit der Antrittsvorlesung "Literatur und Medien. Die Geschichte eines Abgrenzungsversuchs als Leitfaden für eine kulturhistorische Literaturwissenschaft" stellte sich Prof. Dr. Nicolas Pethes der FernUniversität in Hagen als Leiter des Lehrgebiets Europäische Literatur und Mediengeschichte vor. Er ging der Frage nach, wie Literatur und Medien zueinander stehen. Können sie wirklich Gegenstände der Arbeit eines einzigen Lehrgebietes sein?

Die Extrempositionen - die Prof. Pethes beide nicht vertritt, aber aufzeigte - sind:

o Literatur und Medien haben eine große Schnittmenge und gehören deshalb natürlich zusammen - schließlich braucht Literatur zumindest das Medium Sprache;

o Literatur ist von ihrer medialen Basis (Papier und Druckerschwärze) wie auch von ihrem inhaltlichen Informations- und Nachrichtenwert zu unterscheiden, insofern sie ästhetisch geformt ist.

Aus kulturhistorischer Sicht untersuchte er, was Literatur und Medien tatsächlich verbindet bzw. trennt. Seine These: "Seit 200 Jahren wird versucht, 'wertvolle Kunst' von 'Massenmedien' gezielt abzugrenzen - also 'Bildung' von 'problematischer Unterhaltung'." Interessanterweise werden identische Produkte "mal so und mal so" gesehen. Ein Roman zum Beispiel galt im 18. Jahrhundert als durchaus niveaulose Unterhaltung. Heute aber heißt es oft: "Lies doch mal ein gutes Buch!" Und galten die ersten Kinofilme als "Schund", sind viele heute in den Stand von 'Klassikern' erhoben. Pethes: "Ein und dasselbe Medienprodukt ist mal 'Massenmedium' und mal 'hohe Kunst'." Offensichtlich hängt diese Entwicklung ganz besonders davon ab, wie weit das Medium verbreitet ist - Masse oder Klasse?

Festmachen kann man das an Gewaltdarstellungen. Bei entsprechenden Filmen oder Videospielen rufen sie schnell den Jugendschutz wegen der vermuteten Nachahmungsgefahr auf den Plan. Doch wo bleiben die Wächter, wenn Gewalt in klassischen Tragödien dargestellt und als Kunst angesehen wird? fragt Pethes. Diente Gewalt nicht schon im Altertum auch der Attraktion?

Für Friedrich Schiller waren "Gewaltdarstellung" und "Kunst" durchaus kein Widerspruch, man musste die "Action" nur auf eine hohe Ebene bringen: Ein erlesenes Publikum ist ja durchaus zur Reflektion über das Gesehene in der Lage, so eine ästhetische Theorie. Damit wird die Darstellung von Gewalt hohe Kunst.

Seit 200 Jahren, so Pethes, werden bestimmte Darstellungen gezielt auf- und andere abgewertet." So entfalteten Romane damals angeblich z.T. suggestive Wirkungen: Goethes Romanfigur Werther soll Vorbild für Selbstmorde schmachtender Liebender gewesen sein. Heute gelten brutale Filme oder Gewalt-Videospiele als Vorbilder für (zukünftige) Verbrecher - ein Zusammenhang, der für Pethes aufgrund eigener Forschungen nicht belegbar ist.

Entschieden und definiert wird das, was die die Gesellschaft als gut und als nicht gut empfindet, vom Kunstsystem: Künstler debattieren und entscheiden. So wird Kunst - einschließlich der Literatur - von Medien abgegrenzt. Dabei interessiert Pethes die "Geschichte der Denkweisen".

So galt die Suggestion des Kinos Anfang des 20. Jahrhunderts als schädlich, weil es "Schundfilme" zeige: "Mit diesem Etikett wurde das gefährliche Medium wieder der Populärkultur zugeordnet." Menschenmassen seien, so die Meinung damals, den suggestiven Filmwirkungen wehrlos ausgeliefert. Diese Steuerung des "Kollektivgeists" (Gustave Le Bon) konnte dem Kino in der Wahrnehmung seiner Kritiker besonders gut als Medium der Gewaltverherrlichung gelingen.

Die ästhetische Grenzziehung erfolgte, indem man auf die schiere Medialität der Filminhalte verwies, ihnen die Ästhetik absprach und sie dadurch von kontemplativ und reflektiert rezipierten Werken der Kunst abgrenzte. Ins Wanken gerät ein solcher Diskurs erst, wenn das ausgegrenzte Medium im Laufe der Zeit selbst als potentiell ästhetisch betrachtet wird.

Stanley Kubricks Film A Clockwork Orange von 1970 wurde zunächst als jugendgefährdendes populäres Medienprodukt verworfen. Die Filmversion der Geschichte des Jugendbandenanführers Alex galt schnell als Verursacherin gesellschaftlicher Missstände. Filmproduzenten hätten herausgefunden, dass Gewalt dem Massenpublikum Vergnügen bereite, schrieb Joseph Morgenstern 1971, und einflussreiche Kritiker hielten Gewalt für "intellektuell attraktiv und künstlerisch wertvoll".

Für Pethes bestätigt diese Einschätzung nicht nur kulturkritische Vorurteile über Massengeschmack, Schaulust und realer Gewalt. Clockwork Orange zeigt ja keineswegs nur Gewalt gegen die Opfer von Alex. Auch dieser wird als Opfer einer gewaltsamen Umkonditionierung gezeigt: So zeigt und reflektiert A Clockwork Orange vor allem die "unterstellten Wirkungen von Gewaltdarstellungen" auf der Leinwand. Indem das Publikum Alex zusieht, wie er Gewalt verherrlichende Filme sieht, antizipiert A Clockwork Orange seine eigene Kritik. Im Rahmen von Alex' Umkonditionierung dienen Gewaltfilme nun der Vermeidung von Nachahmungstaten.

Morgensterns Vorwurf, fehlgeleitete Kritiker missverstünden Kubricks "Machwerk" auch noch gezielt als Kunst, ist für den Hagener Professor "entscheidend für das Bild des Films im medienkritischen Diskurs": Von dem Moment an, in dem der Film als zu komplex für ein verführbares Massenpublikum angesehen werde, gelte er auch nicht länger als Aufruf zum Bandenkrieg, Er sei hierdurch zum Klassiker geworden, der Gewaltüberfälle durch Ballett-Choreografien und Vergewaltigungen als Musicalzitate stilisiert, verfremdet und damit in ihrer Dargestelltheit reflektiert.

Die Vorführungen von Gewaltfilmen im Gewaltfilm, die Stilisierung und Inszenierung der Übergriffe werten den Film ästhetisch auf und sollen die Gefährlichkeit der Gewaltdarstellungen vermindern. Der Film ist eben nicht Gewalt an sich, sondern stellt die Darstellung von Gewalt dar. Die ästhetische Komplexität des Films lässt ihn nicht mehr als Präsentation von Gewalt für die Masse erscheinen.

Die Unterstellung schädlicher Gewaltwirkungen ist für Pethes daher ein Instrument, um einfach entscheiden zu können, wann mediale Produkte als erbauliche Kunst und wann als verführerische Unterhaltung zu gelten haben. Konzepte wie "Literatur" und "Medien" sind für ihn in diesem Zusammenhang "Kampfbegriffe", die bei Auseinandersetzungen über die kulturelle Kommunikation einer Zeit genutzt werden, um populäre Unterhaltung ab zu qualifizieren: "Die konstruierte Opposition von Literatur und Medien zu analysieren und nicht einfach fortzuschreiben scheint mir zentrale Aufgabe einer kulturhistorisch ausgerichteten Literaturwissenschaft zu sein."

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
FernUniversität in Hagen, Susanne Bossemeyer, 26.06. 2006
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