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KONTROVERS/013: Rauchzeichen aus England (SzeneWHatcher)


Rauchzeichen aus England


Momentan weiss der Freund der genialen Tom und Jerry- Zeichentrickfilme, deren beste Exemplare aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts stammen, nicht, worüber er mehr lachen soll, über die Filme selbst oder über die britische Bürokratie, zwischen deren Räder die genialen Filmwerke heuer geraten sind. Man möchte zuerst vermuten, dass die dortige Regulierungsbehörde für die Unterhaltungsindustrie (Office of Communications, Ofcom) nach nunmehr über 60 Jahren den zum Teil derben Schlagabtausch der Protagonisten ihrem zarten Nachwuchs nicht mehr zumuten will, aber weit gefehlt! Einem (!) lauteren, nicht näher identifizierten Inselbewohnern war nämlich aufgefallen, dass das anthropomorphe Getier in einigen Szenen der Filme dem Tabakgenuss frönt und zur Zigarette bzw. zur Zigarre greift. Da die Richtlinien der Ofcom u. a. die Unterbindung von raucherfreundlichen Szenen in Kinderfilmen vorsieht, haben die Ordnungshüter die Turner Broadcasting Company, auf deren Kinderkanal Boomerang Tom und Jerry-Folgen ausgestrahlt werden, aufgefordert, diesem schädlichen cinematographischen Rauchvergnügen nachträglich Einhalt zu gebieten.

Turner hat natürlich sofort artig bestätigt, dass man keinesfalls Kinder zum Rauchen animieren wolle und sogleich devot Abhilfe zugesichert. Seitdem werden an den Schneidetischen in den Studios über 1.500 klassische Hanna-Barbera Kartoons, neben Tom und Jerry auch Streifen der Serien The Flintstones und Scooby-Doo, nach Rauchszenen durchforstet und selbstverständlich an die Bedürfnisse der britischen Aufpasser angepasst - sprich: zensiert! Bei zwei Tom und Jerry-Shorts - Tennis Chumps (1949) und Texas Tom (1950) - wurden bereits aus Tabak gefertigte Artikel, die laut Ofcom das Rauchen "glamorisieren" korrigiert oder umgangssprachlich ausgedrückt: übermalt!

"Wir durchsuchen den gesamten Katalog." bestätigte Yinka Akindele, die Sprecherin der Turner Broadcasting Company in Europa, brav, "Das ist ein freiwilliger Schritt, den wir auf Grund der sich wandelnden Zeiten machen." Allerdings verschwieg sie nicht, dass die Ofcom den Konzern zu einer sorgfältigen Revision des Filmmaterials aufgefordert hatte. Die US- amerikanische Mutter von Turner Broadcasting äusserte sich erfreulicherweise bislang nicht zu dieser Narretei.

Schon klar, dass man sich beim Lesen solcher Meldungen erstmal an den Kopf fasst und fragt, ob vielleicht der 1. April ist oder ob denn nun alle so langsam durchgeknallt sind, aber die Realität scheint tagtäglich Zeugnis über die ausgelebten Verwirrtheiten geistig Schwacher abzulegen. Das Internet lacht zwar in zig- tausend Einträgen über die verschrobenen Inselbewohner und selbst eingefleischte Nikotingegnern versetzte die Überreaktion der Behörde in Erstaunen, "Wir können doch nicht die Geschichte neu erfinden, indem wir Hollywood-Klassiker nachträglich verändern", sagte Amanda Sandford, die Sprecherin der Organisation Ash, der britischen Tageszeitung Daily Mirror, aber die Filme sind für die Insel erst einmal zensiert.

Und an diesem Punkt wird's im Grunde auch erst richtig interessant, denn inwieweit sind denn die Gewohnheiten der Menschen, beispielsweise aus dem vorigen Jahrhundert, in der heutigen Zeit noch akzeptabel und darstellbar? Wird, nachdem Maurice de Bevere (Morris) bereits in den 80ern den Glimmstengel seines Cowboys Lucky Luke durch einen lächerlichen Strohhalm ersetzte, nun auch Popeye auf seine Pfeife verzichten müssen? Und was ist mit den cinematographischen Meisterwerken aus der Zeit des kulturellen Reichtums? Werden jetzt alle Szenen, in denen sich Humphrey Bogart eine Kippe ansteckt, künftig retouchiert? Werden wir Filme wie Juke Girl (Regie: Curtis Bernhardt), in denen die Schauspieler zum Rauchen aufgefordert wurden, weil's so kalt während des Drehs war und man permanent den Atem vor dem Mund der Akteure sah, nie mehr zu sehen bekommen, weil ein paar überreizte Engländer die Vergangenheit zensieren wollen?

Die Verdrängung des Zeitgeistes und die Verfälschung der Geschichte stehen offenbar überall auf dem Wunschzettel und so bastelt sich jeder die Welt, wie er sie gern hätte. Künstlerische Werte werden schnell für ein paar Pennies geopfert - Turner Broadcasting sollte sich schämen! Man kann nur hoffen, dass diese Entwicklung auf dem fern gelegenen Eiland stecken bleibt und nicht auf das Festland überspringt. Aber ein Brite brachte es mit einem Eintrag im Organ Grinder, dem Forum der Zeitung Guardian, auf den Punkt: "Jetzt müssen wohl auf allen Fotos und allen Filmen mit (Winston) Churchill die Zigarren wegretouchiert werden."


Quelle:
Szene WHatcher - Flyer-Zine der trivialen Szene
und Anzeiger für triviales Entertainment seit 1995
No. 247 vom 5. September 2006
Herausgeber:
Joachim Heinkow
Luisenstrasse 32, 12209 Berlin-Lichterfelde
Tel.: 030-768 051 24, 0171-681 74 11
E-Mail: heinkow@gmx.de und mailschon@planet-interkom.de
Internet: szene-wHatcher.de