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FESTIVAL/183: Erlangen 2010 - Vorstellung der 20 nominierten Titel zum Max und Moritz-Preis (CSE)


Kulturprojektbüro der Stadt Erlangen - Pressemitteilung vom 19.5.2010

14. Internationaler Comic-Salon Erlangen, 3. bis 6. Juni 2010

Max und Moritz-Preis 2010 - Die 20 nominierten Titel


Die 20 nominierten Titel in alphabetischer Reihenfolge:

"Alpha. Directions" von Jens Harder (Carlsen Comics)

In "Alpha. Directions" erzählt Jens Harder die größte Geschichte aller Zeiten. Es ist die Geschichte des Kosmos, der Erde, der Evolution. Eine Geschichte in Bildern und sehr wenigen Worten. Wie kann das angehen? Hat Harder einen Wissenschafts-Comic gezeichnet? Keineswegs. Er geht davon aus, dass die Menschen sich schon immer Geschichten von Anfang und Ende, von Sternenhimmel und Erdenschoß erzählt haben, dass sie sich Bilder machten, Metaphern schufen, Mythen kreierten. Also verknüpft er in grafischer Verfremdung die Modelle von Physik und Astrophysik, die Aufnahmen der Weltraumkameras, die Urzeitfunde von Geologen, Biologen und Archäologen mit den Sandbildern der Navajos, den Illustrationen der biblischen Testamente, den Visualisierungen von Buddha, Vishnu und der Großen Göttin sowie vielen anderen Quellen der Kulturgeschichte. Schließlich ist ein überwältigendes Werk entstanden, das die Erkenntnisse der Naturwissenschaften in den Ahnungen der Religionen und der Spiritualität anspielungsreich spiegelt. Ein Buch, das mit jeder Seite in Erstaunen versetzt. Und das ist nur der erste Teil eines dreibändigen Zyklus. Das Erwachen des Menschen hat gerade begonnen ...


"Bäche und Flüsse" von Pascal Rabaté (Reprodukt)

Liebe und Sexualität im Alter - das ist nicht wirklich ein typischer Comic-Stoff. In "Bäche und Flüsse" überrascht Pascal Rabaté mit der pittoresken und pikaresken Geschichte um einen verwitweten Rentner, der nach dem Tod seines besten Freundes auf eine lange Reise geht, auf der er nicht wie erhofft den Tod findet, sondern im Gegenteil die Freude an Erotik, kleinen Exzessen und schließlich die Liebe wiederentdeckt. Dieses große kleine Abenteuer erzählt Pascal Rabaté, seit jeher einer der besten Chronisten der kleinen Leute im provinziellen Frankreich, mit viel Zärtlichkeit und genügend Humor, um Rührseligkeit und Kitsch zu vermeiden. In den flüchtig und lebendig funkelnden Zeichnungen halten sich Realismus und Karikatur, Einfachheit und Expressivität die Waage, und die Farben strahlen die warme, verlebte Mattigkeit alter Illustrationen aus. "Bäche und Flüsse" ist kein greller, laut um Aufmerksamkeit buhlender Comic, sondern ein stilles und ungewöhnlich schönes Comic-Abenteuer.


"Drei Schatten" von Cyril Pedrosa (Reprodukt)

Das Thema von "Drei Schatten" lässt schwere Kost erwarten: Es geht um den Tod eines Kindes. In einer märchenartigen Welt versucht Vater Louis, das Unausweichliche abzuwenden und verlässt die heimische Idylle, um mit seinem Sohn Joachim vor den Todesboten zu fliehen. Gegen Ende transzendiert die Geschichte zwischen Drama und surreal-albtraumhaften Elementen. Und selbst vor diesem wenig leichtfüßigen Hintergrund schafft es Autor und Zeichner Cyril Pedrosa wie selbstverständlich, hoch komische Elemente unterzubringen. Was "Drei Schatten" zu einem großen Comic macht, ist die Wechselwirkung von Erzählung und zeichnerischer Ästhetik. Pedrosa macht keinen Hehl aus seiner Disney-Vergangenheit. Gerade in Verbindung mit surrealen Elementen entstehen wunderbare Zeichnungen, die auch das Pathos nicht scheuen, dabei aber immer im Dienste der Geschichte stehen. Und auch das Hand-Lettering trägt seinen Teil zu einem stimmigen, atmosphärisch dichten Gesamtbild bei. Das Ergebnis ist ein trauriger, tröstender, glaubwürdiger und wunderschöner Comic, der 2008 in Angoulême völlig zu Recht zum "Besten Album" gekürt wurde.


"Ein neues Land" von Shaun Tan (Carlsen Comics)

Es gibt eine Gegenbewegung zur zunehmenden Literarisierung der Comics. Das sind Bände ganz ohne Worte. Bilder werden kommentarlos verkettet. Sie erklären sich selbst, sie erzählen sich selbst, sie machen das Auge zum Organ der Narration. Ein überzeugendes Beispiel für diesen Trend ist das Buch "Ein neues Land", das von dem australischen Autor und Kinderbuch-Illustrator Shaun Tan stammt. Mit Kreide und Bleistift entwirft er Panels im Stil des Realismus. Das ist eine Stilform, die zu der Zeit der Emigration aus Europa in die Neue Welt passt. Shaun Tan geht es um Emigration in die Fremde, und seine Epoche sieht ganz nach dem Beginn des 20. Jahrhunderts aus. Das Gefühl der Befremdung stellt er her, indem er die Neue Welt auch für den Leser/Seher befremdlich macht. Surreale Städte tauchen auf. Fantastische Tiere treten ins Leben. Eigentümliche Rituale sind zu erlernen. Am Ende gelingt - mühsam - die Integration. Shaun Tan konstruiert Welten wie von Franz Kafka oder Michael Ende mit grafischen Mitteln wie von Giorgio de Chirico oder Richard Oelze. Als narrativer Künstler aber verbindet er eingefangene Momente zur bewegten Geschichte.


"Engelmann. Der gefallene Engel" von Nicolas Mahler (Carlsen Comics)

Gewartet haben wir schon länger darauf, dass Nicolas Mahler endlich seine Geheim-Identität als Superhelden-Zeichner preisgibt. Mit "Engelmann" hat der Wiener den Schritt nun gewagt. Manch einer mag sich fragen: Mahlers Minimalismus und die bunte Welt der Super-Kämpfer - geht das denn überhaupt zusammen? Die Antwort lautet "Ja". Engelmann ist ein pinkfarbenes Radieschen mit Flügeln, sein Gegenspieler eine gigantisch-grüne Krake, die sich als Schönheitschirurg tarnt, und wer da noch Hoffnung auf Helden-Action hat, den belehren die Kräfte des Marktes, die hier ausführlich zu Wort kommen, eines Besseren. Mahler reiht sich mit "Engelmann" ein in die Dekonstruktivisten des Superhelden-Mythos, Frank Miller, Ted McKeever oder Alan Moore, wenn auch keiner von diesen einen so minimalen Einsatz von Tinte und Farbe betrieb. Zu bewundern in diesem "Sammelband": das vorbildliche Raumgefühl des Künstlers, der listige Umgang mit dem Genre, Mahlers allgemeine Hochbegabung.


"Freche Mädchen - freche Manga. Handykuss und Liebesrätsel" von Bianka Minte-König und Inga Steinmetz (Tokyopop)

Es ist eine Weile her, seit die Juroren des Max und Moritz-Preises 12-jährige Mädchen waren (falls überhaupt); was aber den Geschmack dieser "Aliens", Mädchen in der Vorpubertät, angeht, so ist "Freche Mädchen - freche Manga. Handykuss und Liebesrätsel" der Comic, den man der Nachbarin, der Nichte, der Tochter der Freundin in die Hand drücken möchte in der Gewissheit, damit nicht ganz verkehrt zu liegen. Das Buch ist das Ergebnis der Zusammenarbeit einer über 60-jährigen Jugendbuch-Erfolgsautorin (die Adaption für den Comic besorgte Yuki Kowalsky von Tokyopop) und einer noch nicht 30-jährigen Zeichnerin, die zur anwachsenden Liga der deutschen Mangaka gehört. Dramaturgisch ist die Erzählung zwar "silly", aber nicht blöd, zeichnerisch umranken die mangaesken Blümchen-Herzchen-Ausrufezeichen und die zersplitterte Panel-Optik virtuos die ganz offenkundig deutsche Schulmädchen-Geschichte, dies mit durchaus amüsantem Nebeneffekt auch für Comic-lesende Erziehungsberechtigte der primären Zielgruppe.


"Gift" von Peer Meter und Barbara Yelin (Reprodukt)

Was ist das Spezifische an der Erzählweise von Comics? Sie können auf literarische Weise alte Stoffe neu bearbeiten, wie es der Schriftsteller Peer Meter in dem Szenario um die Bremer Giftmischerin Gesche Gottfried aus dem frühen 19. Jahrhundert geleistet hat. Gleichzeitig kommentieren sie grafisch das Szenario, verleihen ihm Tiefe, geben ihm Atmosphäre, schaffen ihm die Bühne, versetzen es in Rhythmus. Kongenial hat die Zeichnerin Barbara Yelin Meters Skript in Szene gesetzt. So ist eine komplexe und neue Annäherung an den klassischen Kriminalfall entstanden. Eine Geschichte, die über den Fall hinausweist auf historische Frauenbilder und auf den Umgang der Bürger mit dem, was ihnen unerklärlich scheint. Meter hat eine Rahmenhandlung aus der Perspektive weiblicher Emanzipation konstruiert. Er schachtelt Rückblenden ineinander, die sich erhellen, ohne sich zu verwirren. Yelin entwirft Panels der urbanen Enge und Engherzigkeit, stellt ihre Figuren in eine städtische Landschaft, die ihren Charakter prägt und ihre Handlungen determiniert. Das Resultat dieser Zusammenarbeit ist ein Erzählwerk von hoher Literarizität und erschütternder Bilddichte.


"Hector Umbra" von Uli Oesterle (Carlsen Comics / Edition 52)

"Schön" ist das erste Wort, gekritzelt auf schwarzen Grund. Und sofort zerrissen von einem nervösen "poc poc poc", das über das Graffito hämmert. Damit sind die Koordinaten gesetzt, zwischen denen Uli Oesterle sein fulminantes Comic-Epos "Hector Umbra" inszeniert: Die sich vor der elysischen Kulisse der Frauenkirche und des Hofbräuhauses rasant entrollende Odyssee in den Münchner Untergrund, durch verqualmte Absturzkneipen und hinab in finstere Katakomben und psychische Abgründe. Atemlos taumelt Hector durch eine obskure Welt aus Jägermeister-Exzessen, Techno-Beats und Designerdrogen, aus klandestinen Zeugen Jehovas und das Weltende prophezeienden Stadtstreichern, auf der Suche nach seinem Freund, dem DJ Osaka, der auf mysteriöse Weise spurlos verschwunden ist, ausgerechnet als er zum ersten Mal im hippsten Club der Stadt auflegen soll. Oesterles durchgeknallte Bayern-Metropole ähnelt eher Gotham City, und unerhört ist auch seine Grafik markanter Umrisse, flächiger Farben und schräger Blicke, ein surrealer Stil von brennender Souveränität, der sich an keine Schule anlehnt und den Leser mit seiner halluzinogenen Kraft schon eingefangen hat, noch bevor er am Ende des Prologs angelangt ist.


"Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens" von Ulli Lust (avant-verlag / electrocomics)

Mit "Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens" legt die Österreicherin und Wahlberlinerin Ulli Lust ein fulminantes autobiografisches Debüt vor: Es ist die Irrfahrt von zwei gelangweilten und naiven Punk-Mädels aus Wien, die im Sommer 1984 ohne Geld, Gepäck und Ziel durch Italien trampen. Der schwärmerische Aufbruch zweier freiheitstrunkener Aussteigerinnen mutiert indes bald zum Albtraum. Ulli Lust schildert diese Initiationsreise mit Distanz, geradezu kühl, ohne Larmoyanz, aber mit einer gesunden Prise schwarzen Humors. Ihre Erzählweise ist dicht und atemlos und reißt den Leser mühelos mit - bis zum Absturz in Sizilien: Vergewaltigung, harte Drogen, Prostitution, Mafia. Im spannungsvollen Kontrast zur reflektierten Erzählhaltung stehen die fiebrigen Zeichnungen: Scheinbar schnell hingeworfen, schwarz-weiß und mit einem schmutzigen olivgrünen Farbton unterlegt, vermitteln sie den Eindruck größtmöglicher Unmittelbarkeit und Authentizität. Ulli Lust zeichnet ihre Erfahrungen bis zum bitteren Ende mit beeindruckender Konsequenz auf und ohne den Versuch, sie moralisch oder pädagogisch abzurunden oder zu schmücken.


"Ikkyu" von Hisashi Sakaguchi (Carlsen Manga)

Bis heute ist der exzentrische und spirituell bedeutende Zen-Meister Ikkyu (1394-1481) in Japan ein Volksheld, hat er sich doch mit seinem ungewöhnlichen Lebenswandel, seiner erotischen Lyrik, seinem scharfsinnigen Humor und seiner Neigung zu Wein, Weib und Gesang immer wieder mit den politischen und religiösen Obrigkeiten seiner Zeit angelegt. Ikkyu kam 1394 - mutmaßlich als unehelicher Spross des Kaisers - zur Welt und wurde von seiner Mutter in ein buddhistisches Kloster geschickt, um ihn vor den kaiserlichen Schergen zu schützen. Ikkyu war ein Beobachter seiner Zeit - ihm stieß die Ausbeutung der Bauern und die Heuchelei der Mönche so sauer auf, dass er jahrzehntelang als Bettelmönch durch Japan streifte. Hisashi Sakaguchis vierbändige Lebensgeschichte "Ikkyu" geht weit über die klassische Biografie hinaus: "Ikkyu" ist auch eine differenzierte Einführung in die Lehren des Zen-Buddhismus und eine facettenreiche Freske des mittelalterlichen Japans im Umbruch, die auch zeichnerisch - in einer Mischung aus realistischem Feder- und stilisiertem Pinselstrich - wunderbar umgesetzt ist.


"Kirihito" von Osamu Tezuka (Carlsen Manga)

In Japan wird Osamu Tezuka (1928-1989) als "manga no kamisama" verehrt, als der "Gott der Mangas", dessen Gesamtwerk sich auf schwindelerregende 150.000 Comic-Seiten addiert. "Kirihito", entstanden 1970/71, ist nach "Adolf" ein zweites Meisterwerk aus Tezukas Spätphase, das der Carlsen Verlag nun in drei Bänden veröffentlicht. Im Mittelpunkt steht darin der junge Arzt Kirihito Osanai, der in ein abgelegenes Gebirgsdorf entsandt wird, in dem eine unheilbare Krankheit Menschen in hundeartige Wesen verwandelt, bevor sie nach einigen Monaten sterben. Kirihitos Versuch, hinter die Ursachen der rätselhaften Krankheit zu kommen, führt ihn schließlich um den halben Erdball und mitten hinein in die Ränkespiele von Macht und Gier. Denn während sich abzuzeichnen beginnt, dass die Epidemie durch verseuchtes Wasser verursacht wird, hält Professor Tatsugaura verbittert an seiner These fest, dass ein Virus der Überträger sei: Tatsugaura fürchtet Kirihito als Konkurrenten bei seiner Bewerbung zum Vorsitzenden des japanischen Ärzteverbandes. Tezuka erzählt seinen packenden und verwickelten Thriller, mit dem er scharfe Kritik am medizinischen System und Karrieredenken übt, mit großem Sachverstand, denn er war nicht nur Manga-Zeichner sondern auch selbst promovierter Arzt.


"Lio" von Mark Tatulli (Bulls Press)

"Lio" ist einer der ungewöhnlichsten und intelligentesten Comic-Strips der letzten Jahre. Von vielen Seiten wird "Lio" als "beste Serie seit ,Calvin und Hobbes'" gehandelt. Der Vergleich kommt nicht von ungefähr: Die Hauptfigur beider Serien ist ein kleiner Junge, dessen Fantasie im Mittelpunkt steht. Anders als Calvin und Hobbes agieren die Figuren in Lios Welt aber durchweg ohne Worte. Der Titelheld ist schon sehr anders als seine Altersgenossen: Autor Mark Tatulli entwirft eine Szenerie, in der Lio auf Du und Du mit Monstern, schleimigem Getier und anderen Gruselgestalten agiert und die ganz eigenen erzählerischen Gesetzmäßigkeiten gehorcht. Man liest diesen Strip nicht nebenbei, schmunzelt und macht weiter im Programm. Lio zwingt den Leser zum genaueren Hinsehen und durchaus auch zum Mitdenken. Und doch steht am Ende einer jeden Folge ein klassischer Comic-Gag - das Bekenntnis zur Comic-Strip-Tradition ist gegenwärtig. Ungewöhnlich auch der Zeichenstil - kantig, modern, mit hohem künstlerischen Anspruch und unmittelbar wiederzuerkennen.


"Louis am Strand" von Guy Delisle (Reprodukt)

Kaum blinzeln die ersten Sonnenstrahlen durch das Fenster, weckt der kleine Louis seinen Vater und macht ihm gestenreich klar, dass er ans Meer will. Am Strand legt sich der Vater unter den Sonnenschirm, während Louis mit anderen Kindern spielt, Sandburgen baut, Badegäste ärgert, Eis schleckt und badet. So ungefährlich ist das Meer aber nicht, wenn der Vater den Sohnemann sich selber überlässt - schon rollt der Ball ins Wasser, Louis hüpft ihm nach, verliert Fuß ... und taucht ab in ein fantastisches Unterwasserabenteuer, in dem er Riesenfischen und mysteriösen U-Booten begegnet und immer weiter ins offene Meer abtreibt ... Realität und Fantasie frei vermischend, schildert der Franko-Kanadier Guy Delisle - hauptsächlich bekannt für Reportagen wie "Shenzhen" und "Pjöngjang" - in "Louis am Strand" die Erlebnisse eines mit viel Imagination begabten Kindes. Er erzählt aus einer konsequent kindlichen Perspektive in größtenteils kleinen Panels und verzichtet auf jeglichen Text. Und doch sind Louis' aufregende und bezaubernde Strandabenteuer auch für Kinder im Vorschulalter nachvollziehbar. Besonders reizend ist, wie Louis von seinem treuen Stofftier aus allen misslichen Situationen gerettet und aus seinen kühnen Fantasien zurück in die Realität geholt wird.


"Meine Mutter ist in Amerika und hat Buffalo Bill getroffen" von Jean Regnaud und Émile Bravo (Carlsen Comics)

Die besten Kinderbücher haben Erwachsenen viel zu sagen. Und sehr gute Bücher für Erwachsene sprechen auch Kinder an. So ein sehr gutes Buch ist "Meine Mutter ist in Amerika und hat Buffalo Bill getroffen" von Jean Regnaud und Émile Bravo. Es handelt von dem Erstklässler Jean, dem man gesagt hat, seine Mutter sei auf Reisen. Er kennt sie nämlich nicht. Der Leser spürt sehr rasch, dass Jeans Mutter tot sein muss. Doch er darf miterleben, wie die Tote Atem bekommt und Abenteuer erlebt - aus der Kraft der Fantasie. Autor Regnaud hat in dem Buch autobiografische Erfahrungen verarbeitet. Er nähert sich mit großem Zartgefühl den Themen Tod, Illusion und Ent-Täuschung. "Meine Mutter ist in Amerika und hat Buffalo Bill getroffen" ist ein Buch über die schönen Schutzräume des Träumens und den harten Schmerz der Realität. Zeichner Bravo fasst die Geschichte in kindgerecht zupackende Umrissformen und reduzierte Charakter-Andeutungen, die von kleinen Lesern mit Fantasie animiert werden können und die den Erwachsenen eine Ahnung von der Melancholie des Verlusts der Naivität in Erinnerung rufen. Ein Buch, das man mit Handschuhen lesen möchte. Denn es bezeugt die Zerbrechlichkeit des Daseins.


"Orange" von Benjamin (Tokyopop)

Irgendjemand sagte einmal, die besten Geschichten würden in satirischer Absicht begonnen und endeten damit, dass der Autor sich in seine Figuren verliebt - siehe "Madame Bovary", siehe "Anna Karenina". Was Benjamins "Orange" betrifft, möchte man auf einen ähnlichen Verlauf tippen: Die Girlie-Hauptfigur ist unerträglich, aber sie erwischt einen eben doch. "Ich leide sehr", sagt Orange, "und dieses Leiden ist lächerlich." Was Benjamin von chinesischen Teenagern zu berichten weiß, scheint sich von der hormonellen Jugendverwirrung in anderen Kulturen nicht allzu sehr zu unterscheiden, seine geflashten Bilderwelten lassen jedoch die Affektstürme in einer Weise aufleben, die manchen Leser daran erinnern wird, warum er nie mehr 16 sein will. Die größte Überraschung ist dann die, dass die ungewohnten, grellbunten Computergrafik-Seiten nicht nur lesbar, sondern geradezu als Offenbarung eines neuen Comic-Erzählens daherkommen.


"Pinocchio" von Winshluss (avant-verlag)

Das Cover sticht ins Auge: Bunt, verschnörkelt und nostalgisch beschwört es die Gestaltung der Almanache des frühen 20. Jahrhunderts. Auch der Titel "Pinocchio" verweist in die Vergangenheit: Carlo Collodi verfasste seine rabenschwarze Erziehungsmoritat 1883, Walt Disney versüßlichte sie 1940, seither ist der Holzjunge eine immer wieder neu interpretierte Ikone der populären Kultur. Genau das reizte auch den französischen Comic-Autor Winshluss: In seinem "Pinocchio" ist Gepetto ein skrupelloser Waffenfabrikant, Pinocchio - ein niedlicher Roboter mit Flammenwerfernase - seine Wunderwaffe zur Weltunterwerfung und Jiminy Grille eine obdachlose Kakerlake mit schriftstellerischen Ambitionen ... Dem breiten Publikum bekannt ist Vincent Paronnaud alias Winshluss als Co-Regisseur von Marjane Satrapis Animationsfilm "Persepolis". Als Comic-Autor hingegen zelebriert er ohne Furcht vor Tabus das subversive Potenzial der Comics. Auf 200 weitgehend wortlosen Seiten reißt uns Winshluss mit auf eine furiose und überaus unterhaltsame Tour de Force durch den aktualisierten Pinocchio-Stoff (inklusive Neonazis, religiöse Fundamentalisten, Atommüll, Sex und Totschlag und vieles mehr) und verarbeitet auch gleich die Geschichte der populären Kultur der letzten hundert Jahre.


"Prototyp" / "Archetyp" von Ralf König (Frankfurter Allgemeine Zeitung / Rowohlt Verlag)

Lange Zeit hat Ralf König private Geschichten aus homo- und heterosexuellen Wohn- und Schlafzimmern erzählt. Doch dann hat er mit einigen bissigen Cartoons auf den Streit um die Mohammed-Karikaturen reagiert (und 2006 dafür einen Max und Moritz-Spezialpreis bekommen). Das hat ihn zu neuen Fragestellungen in seiner Arbeit inspiriert. Plötzlich geht es ihm um das Religiöse - vor allem in seiner biblischen Ausprägung. Zuerst gab es einen eifernden Moses und einen toleranten, nicht sonderlich monotheistischen Gott. Dann folgte der grandiose Tageszeitungs-Strip um den "Prototyp" der Schöpfung, den schlichten Erdenkloß Adam. Als "Archetyp" folgte ein neuerlich Sodom und Gomorra beschwörender Noah nach. Das Erstaunliche an diesen Geschichten ist nicht, wie perfekt König die Bibel seinem witzigen Strich zu unterwerfen vermag, sondern wie er mit diesem Strich moderne Theologie betreibt, wie er uralte Schöpfungs- und Gottesfragen pointiert zuspitzt und humorvoll doch keineswegs blasphemisch Denkanstöße zu Gottesbild und Religionsausübung gibt. Vielleicht wird man eines Tages sagen, die aktuelle Reformation des Religiösen sei von einem Comic-Zeichner ausgegangen.


"Spirou & Fantasio Spezial. Porträt eines Helden als junger Tor" von Émile Bravo (Carlsen Comics)

Spirou, der Hotelpage in der roten Uniform, ist neben Tim und Asterix der große Klassiker der franko-belgischen Comics. In "Porträt eines Helden als junger Tor" beugt sich der französische Zeichner Émile Bravo auf seine Vorgeschichte: 1939 stolpert das Waisenkind Spirou, Page im Hotel Moustic, aus Liebe zu einem Zimmermädchen in eine undurchsichtige Affäre um Spionage, Geheimdiplomatie und schmutzige Deals mit Nazi-Deutschland. Der junge Spirou ist alles andere als ein Held, er ist ganz im Gegenteil ein naiver Dummkopf ohne politischen Durchblick, der durch die komplizierte Geschichte stolpert, ohne etwas zu verstehen, und dabei Liebe, Job und Illusionen verliert. Dafür aber trifft er auf den Journalisten Fantasio, und das ist der Beginn einer langen Freundschaft ... Émile Bravo, ein bekennender Bewunderer der klassischen franko-belgischen Schule, legt eine brillant erzählte, in einer sanft modernisierten Ligne claire gezeichnete und anspielungsreiche Geschichte zwischen Ironie und Nostalgie, Demontage und Hommage vor, die sich in Frankreich mit weit über 100.000 verkauften Exemplaren zu einem großen Bestseller mauserte.


"Such dir was aus, aber beeil dich! Kindsein in zehn Kapiteln" von Nadia Budde (S. Fischer)

Unter der Erde grinsen die Schädel verblichener Katzen, und alle hören sie auf den Namen Mauz. Zombie-Oma und -Opa steigen zum Vergnügen der Enkelin im Friedhof aus dem Grab. Stadt-Tod und Land-Tod streiten sich über Verfahrensfragen und am Wohnwagen des Lebens hängt ein Schild: "Tod nicht erwünscht". Erwachsene mögen sich fragen, ob Nadia Buddes "Such dir was aus, aber beeil dich! Kindsein in zehn Kapiteln" wirklich in Kinderhand gehört, aber während sie das noch tun, haben die Kinder sich das schöne Buch längst gegriffen. Neben den finalen Themen wird hier auch einfach gebadet, Frauentag gefeiert und auf das Wetter geachtet, dazwischen gibt's Kermit und Batman. Das Ganze findet im "Großelternland" statt, was die DDR früher auch war, und versieht den verspielten Blick auf Damals mit fantastisch freien und ungebundenen Bildern und Bildfolgen, die diese Kindheit vor allem als eins definieren: Glück.


"Das variable Kalendarium" von Kat Menschik (Frankfurter Allgemeine Zeitung)

Traditionell gesehen waren Zeitungs-Strips schon immer ein Feld für innovatives Erzählen, und wenn vereinzelte FAZ-Leser zum Auftakt von Kat Menschiks Serie monierten, "Das variable Kalendarium" würde eigentlich gar nichts erzählen, halten wir dagegen, dass dies zweifellos die Narration der Zukunft (oder zumindest eine Variante davon) ist. Eben diese Zukunft tarnt sich in Menschiks grafischen Festtafeln geschickt als Vergangenheit: pro Jahrestag drängen sich auf den Kalenderblättern viele Ereignisse aus den letzten Jahrhunderten. Im Einzelblatt kann man sich dann in der Frage verlieren, welche Geburtstage und Revolutionsvorkommnisse und Erfindungen erwähnt werden und vor allem, wie groß und in welcher Schrifttype und mit welchen Retro-Deko-Accessoires, alles natürlich Elemente eines Codes, um geheime Botschaften rüberzubringen. Geschichtsbetrachtungen sind nie neutral, damit wäre bereits eine Spur zu den verborgenen "Erzählungen" gelegt, mit denen dieses Kalendarium (eine wiederkehrende Freude in der morgendlichen Zeitungslektüre) seine Leser bedient.


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Quelle:
Pressemitteilung vom 19. Mai 2010
Herausgeber:
Stadt Erlangen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Mai 2010